Widerstand ist doch machbar, Herr Nachbar!
Stuttgart 21, Atom-Ausstieg, Castor – so große Demonstrationswellen hat die Republik seit den 80er-Jahren nicht mehr erlebt. Wir wollten wissen: Wer steckt eigentlich dahinter, was treibt sie an?
Castor: Mal richtig schön hängen lassen
Cécile Lecomte, ehemalige französische Jugendmeisterin im Sportklettern, versucht ihre Leidenschaft fürs Klettern mit dem Kampf für ihre politischen Ideale zu verbinden. Sie kletterte aus Protest auf Frankfurter Bankenhochhäuser oder auf Baugeräte am Stuttgarter Hauptbahnhof, um dort Protestbanner anzubringen. Beim bislang letzten Castortransport hing sie in zehn Metern Höhe an einem Seil über der Bahnstrecke und hielt den Atommülltransport knapp sieben Stunden auf. Das „Eichhörnchen“, wie Freunde die 28-Jährige nennen, lebt in einer Bauwagenkolonie in Lüneburg.
„Zu meinem 18. Geburtstag hat mir mein Bruder Informationsmaterial einer ökolibertären französischen Organisation geschenkt, bei denen habe ich die ersten richtig kreativen Aktionen gemacht. Wir haben vor McDonalds ein Biopicknick gemacht, wir schalteten zum Stromsparen die Leuchtreklamen in der Stadt aus und solche Sachen. In der Schule hatte ich Deutsch gelernt, ich mag die Sprache, und so bin ich 2001 nach Bayreuth gekommen, um internationale Wirtschaft zu studieren. Dort habe ich zum ersten Mal von den Castortransporten gelesen, in Frankreich war das kein großes Thema. Mich hat beeindruckt, wie viele Menschen hier dagegen demonstrierten, auch die Vielfalt, dass zum Beispiel die Älteren mit dem Sofa zur Blockade kamen, um nicht auf der Straße sitzen zu müssen, fand ich lustig. Als Jugendliche war ich Mitglied der französischen Nationalmannschaft im Sportklettern, einmal sogar französische Meisterin. Ich fand es dann aber schöner, mit anderen zu klettern als gegen sie. Heute klettere ich auf Hochhäuser in Frankfurt, um Transparente aufzuhängen oder auf Bäume, um gegen das Kohlekraftwerk in Moorburg zu protestieren.
Ich habe mich bei den Atomtransporten zwischen zwei Bäume über den Schienen gehängt – in zehn Metern Höhe. Der Zug musste sieben Stunden warten, bis die Polizei mich wieder auf der Erde hatte. Wir haben viel erreicht, auch wenn wir die Atomwirtschaft noch nicht stoppen konnten. Die Anti-Atom-Bewegung hat 1979 verhindert, dass in Gorleben eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut wird. Wir haben dafür gesorgt, dass es keine Atommülltransporte mehr nach Russ-land gibt.
Ich bin auch auf Kräne am Stuttgarter Bahnhof raufgeklettert – Klettern kann ganz schön subversiv sein und Kreativität eine Waffe. Die Polizei weiß nie, wo ich auftauche und was ich dann mache. Einmal bin ich vor einer großen Demo vier Tage lang präventiv eingesperrt worden: Eine Zelle in Braunschweig, ohne Tageslicht mit einer halben Stunde Hofgang auf dem Parkplatz – gefesselt an eine Polizeibeamtin. Vier Tage Präventivhaft für eine mögliche Ordnungswidrigkeit! Meine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht läuft noch. In dem Gefängnis hingen im Gang Bilder von gefesselten Gefangenen. In einem leeren Rahmen sah man nur eine tiefe Delle in der Wand als wäre jemand mit dem Kopf dagegen gestoßen worden – darunter stand „Kopflos heißt Kopf los“. Die Bilder sollten den Gefangenen Angst machen. Sie mussten inzwischen abgehängt werden, in meinem Kopf sind sie noch immer. Aber ich mache natürlich weiter, denn ich will im Einklang mit meinen Ideen leben und wenn wir gar nichts machen, wird alles nur noch schlimmer.“
Stuttgart 21: Alle machen mit
Hannes Rockenbauch, 30, studiert Architektur und Stadtplanung und ist seit 1995 mit der ganzen Familie dabei, als es das erste Mal gegen das Mammutprojekt „Stuttgart 21“ ging. Als die Polizei mit Wasserwerfern und Pfefferspray 13-, 14-jährige Schüler angriff, leisteten Rockenbauchs Eltern Roswitha, 64, und Ulrich, 66, den Jugendlichen erste Hilfe.
Mit politischen Aktionen hat Hannes Rockenbauch mehr als 20 Jahre Erfahrung. Aus Protest gegen den Verkehr in seinem Wohnviertel umwickelte er damals Autos mit Klopapier. Seither arbeitet er sich an kommunalpolitischen Themen ab – Verkehrsberuhigung, ökologische Bebauung, Bürgerbeteiligung. Die Politiker waren alles andere als begeistert: „Ja, zu was bin ich denn gewählt, wenn ihr plötzlich entscheiden wollt?“ Vor sechs Jahren ließ Rockenbauch sich selbst für eine offene Bürgerliste zum Stadtrat wählen. Inzwischen ist er der Fraktionsvorsitzende der kleinsten Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat.
„Seit ich denken kann, spielt Politik am Familien-Esstisch die zentrale Rolle. Alles kreiste um die Frage, wie es gelingen könnte, dass die Menschen so leben und produzieren, dass sie in Frieden und ohne Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zurechtkommen. Dass es nicht reicht, bei Fragen oder Träumen stehen zu bleiben, leben meine Eltern mir und meinem Bruder bis heute vor, wenn sie vor dem Bautor übernachten oder Wache halten im Park.
Der Kampf um Stuttgart 21 ist ein Symbol. Die Bürger emanzipieren sich gerade vom Kreuzchenmachen. Sie wollen nicht nur alle vier Jahre ernst genommen werden, sondern an ihren Angelegenheiten beteiligt werden. Unser Oberbürgermeister Schuster hat vor den Wahlen versprochen, einen Bürgerentscheid durchführen zu lassen, wenn die Kosten zu stark steigen. Die Kosten sind explodiert, aber er will nichts mehr davon wissen.
Mit Demokratie hat das nichts zu tun. Die Demokratie wird gerade verkauft. In ganz Deutschland haben sich Kommunalpolitiker dem Willen von Investoren unterworfen, städtisches Eigentum verschleudert und zentrale Bereiche menschlicher Daseinsvorsorge aufgegeben – stets mit dem Zusatz, dieses Vorgehen sei alternativlos. Die Politik zieht sich gerade in großem Stile aus der Verantwortung zurück.
Man darf nicht naiv sein. Die Demonstranten werden provoziert, weil unser Widerstand nur dann erfolgreich sein wird, wenn wir die Sympathien der ganzen Stadt gewinnen. Gewalt aus unseren Reihen spaltet, aber wir alle kämpfen darum, dass es friedlich bleibt, auch wenn ich die Wut verstehen kann. Wir haben aber keinen Grund, frustriert zu sein. Wir haben schon jetzt bewusst gemacht, dass es so nicht weitergehen kann. In Stuttgart nicht und auch nicht anderswo.
Ich träume von einer Gesellschaft, die sich entwickelt, in dem sie ständig unter Kritik aller dazulernt. Wenn die Utopie zum Prozess wird, sind es die kleinen Schritte, auf die es ankommt. Mein erster Schritt ist der Versuch, zum Querdenken zu verführen und zum Aufmüpfig-Sein zu begeistern. Das ist der Anfang. Die Lust am Mitgestalten unserer Welt und den Spaß dabei entdeckt dann am besten jeder für sich selber.“
„Autonom leben, selbst handeln“
Sven, 36, aus Berlin, aufgewachsen im Ruhrgebiet. Sven saß nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 für zwei Monate in italienischer U-Haft. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Der Druckvorlagenhersteller organisiert Konzerte, gestaltet Plakate und T-Shirts mit linken oder subkulturellen Motiven, die er in seinem Laden „Disorder Rebel Store“ in Kreuzberg verkauft. Motto: „The only good System is a Soundsystem“.
„Als Anfang der 90er-Jahre der Rechtsextremismus erstarkte und in Hoyerswerda, Lichtenhagen oder Solingen Ausländer verfolgt und sogar umgebracht wurden, wollte ich das nicht einfach hinnehmen. Ich war damals 16, 17, trug meine Haare bunt, hörte Slime, Bad Religion, Tote Hosen oder New Model Army, deren Texte mich sehr beeinflussten. Mir wurde schnell klar, dass wir vom Staat nichts zu erwarten hatten – der versagte nicht nur beim Schutz der Flüchtlingen, sondern verschärfte nach den rassistischen Pogromen sogar noch die Asylgesetze. Das war das erste Mal, dass ich von Politikern gehört habe, sie müssten „aufs Volk hören“. Auch wir bekamen ständig Steine in den Weg gelegt. Autonome Zentren wurden immer blitzschnell geräumt, unkommerzielle Projekte im Ansatz zerstört, antifaschistischer Protest kriminalisiert. Dabei ist es wichtig, Freiräume zu haben, in denen man kreativ werden kann, sich austauscht, entdeckt, was in einem steckt und zusammen kommt.
Mit meinem Laden möchte ich was Eigenes machen. Die T-Shirts mit den linken Slogans sind meine Antwort auf das, was mich ankotzt und dem ich etwas entgegen setzen will. Es ist ein politischer Ausdruck unkommerzieller Subkultur, die sich nicht vereinnahmen lässt. Autonomer, selbst bestimmter Alltag ist meine aktive Verweigerung gegenüber der Rolle, die ich in der Gesellschaft spielen soll. Ich bin immer noch an vielen politischen Aktionen interessiert – Blockaden von Castor-transporten, Naziaufmärschen, Demonstrationen gegen die Weltwirtschaftsgipfel sind für mich wichtige Momente des solidarischen Intervenierens. Ich möchte selbst aktiv sein und handeln.
In den Jahren von Rot-Grün gab es einen unerträglichen Stillstand – viele hofften wohl auf das kleinere Übel – dabei wurden unter Rot-Grün krasse Einschnitte umgesetzt: Hartz IV, Auslandseinsätze der Bundeswehr, ein billiger Atom-Deal usw. Damit bestätigt sich für mich, das die Opposition außerpalarmentarisch orientiert sein muss! Die Auswirkungen eines ungerechten Systems werden täglich spürbarer. In einer Stadt wie Berlin sollen Menschen z.B. durch dauernde Mieterhöhungen aus ihren Vierteln gedrängt werden.
Immer geht es nur um Profit – nie um die Menschen! Ich verstehe auch, dass die Leute radikaler werden bei ihren Aktionen, wenn all der friedliche Protest weder von Medien noch von Politikern wahrgenommen wird. Warum sollen sie sich an die Spielregeln halten, die die aufgestellt haben, die für Argumente nicht empfänglich sind?“
Einzeldemo in der Bank
Dr. Kirsten Brodde, 46, aus Hamburg, hat ihr Protesthandwerk in zehn Jahren bei Greenpeace gelernt. Heute gilt sie mit ihrem Blog gruenemode.de als deutsche Expertin in Sachen ökofairer Mode. Bekannt wurde sie durch ihre Ein-Frau-Protestaktionen. Vor der Tchibozentrale demonstrierte sie gegen die Arbeitsverhältnisse bei den Zulieferern für Tchibo-Billigmode. In der HSH-Nordbankzentrale tauchte sie auf, um von HSH-Vorstand Nonnenmacher ihre Steuern zurückzuverlangen.
„Als ich noch Schülerin war, hat mich eine Freundin mit zur Elbe genommen und zu einem Kutter von Greenpeace gebracht. Die sammelten damals Unmengen von Fischen, denen infolge der Elbverschmutzung blumenkohlähnliche Tumore gewachsen waren. Das war so etwas wie der Anstoß für mich, alles wissen zu wollen: warum die Elbe so schmutzig ist, was das für unser Essen bedeutet und wie ich selbst für eine bessere Umwelt kämpfen kann. Ich habe nach meinem Germanistik- und Journalistikstudium noch Medizin rangehängt, weil ich die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge wirklich begreifen wollte.
Das Vertrauen in die Politik ist mir längst verloren gegangen. Ein hochgerüstetes Monstrum, das trotzdem nicht die richtigen Mittel findet. Ich dagegen bin hochbeweglich und kämpfe mal im Internet und mal auf der Straße. Mehr David – weniger Goliath. Das ist meine Botschaft. Jeder kann ein Aktivist sein, kann auch ohne große Organisation im Rücken etwas bewegen. Nichts spricht dagegen, erst mal mit einem Brief an den Oberbürgermeister zu starten und sich dann langsam zu steigern. Es muss ja nicht jeder in einer Ein-Frau-Aktion vor der Tchibozentrale demonstrieren oder in die HSH-Nordbankzentrale spazieren und vom Bankchef das Geld der Steuerzahler zurückfordern. Auch wenn mir diese Aktionen gezeigt haben, dass ich auch als Einzelne wirklich etwas erreichen kann. Und wenn es nur darum geht, Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken.
Generell ist mein Gefühl, dass die Menschen parteiverdrossen sind, aber nicht politikverdrossen. Spätestens nach dem Scheitern von Kopenhagen ist klar: Wir können auf die Politik nicht mehr hoffen, nicht mal bei existenziellen Menschheitsfragen wie dem Klimawandel. Wir müssen selbst den Hintern hochkriegen und uns darauf einstellen, dass der Widerstand nicht immer leicht sein wird. Die Welt wurde noch nie im Konsens verändert.
Es reicht nicht, alle paar Jahre zur Wahl zu gehen. Es ist nicht genug, ein paar Euro Beitrag an Greenpeace oder Foodwatch zu zahlen. Natürlich frage ich mich, ob solches Engagement nicht zu viel verlangt ist von Menschen, die täglich ihrem Job nachgehen und ihre Kinder aufziehen. Aber wenn wir nicht anfangen, die Verhältnisse zu verbessern, werden die Verhältnisse unser Leben schlechter machen.“
Per Mausklick gegen Genmais
Der Campact-Aktivist Cristoph Bautz, 38, (auf dem Foto zweiter von links) ist Diplom-Biologe und Politikwissenschaftler und organisierte bereits mit 27 die Öffentlichkeitsarbeit für Castorgegner und vor neun Jahren (zusammen mit anderen) den Aufbau von Attac in Deutschland. Campact ist ein Netzwerk von Menschen, die im Internet Kampagnen unterstützen. Campact hat über 300.000 eingetragene Aktivisten und seinen Sitz in Verden.
„Unser größter Erfolg war bislang das Verbot von Genmais MON 810.Direkt nach der Amtsübernahme von Landwirtschaftsministerin Aigner haben wir richtig mobil gemacht. Beim Kreisbauerntag, den Aigner in ihrem Wahlkreis besuchte, standen da an einem Montagmorgen um 9 Uhr 300 Menschen, die ein Anbauverbot forderten – im Auftrag der 50.000, die unseren Onlineappell unterschrieben hatten. Danach hefteten wir uns an ihre Fersen und organisierten überall, wo sie öffentlich auftrat, Aktionen – koordiniert über das Internet. Unser Kampagnenslogan „Mit dem Essen spielt man nicht“ ging aus unserem Onlinewettbewerb hervor.
Wir haben richtig Druck aufgebaut. Als die Entscheidung anstand, blieb Ilse Aigner gar nicht anderes übrig, als den Anbau zu verbieten.
Protest allein im Internet würde verpuffen. Wir können sehr schnell aktuelle Themen aufgreifen, informieren und mobilisieren, aber wir sind nur erfolgreich, wenn wir das mit konkreten Aktionen verbinden und sagen können, wir hier sind die Stellvertreter von Zehntausenden. Sichtbarkeit im realen Raum ist zentral. Die Idee für Campact stammt aus den USA.Dort hat MoveOn inzwischen fünf Millionen Menschen organisiert, deren Kampagnen auch bei der Wahl von Barack Obama eine wichtige Rolle gespielt haben. Ich finde die Idee faszinierend, über das Internet auch die Menschen anzusprechen, die wenig Zeit haben, aber trotzdem etwas tun wollen.
Man kann sich bei uns schon mit einem einzigen Klick politisch engagieren, für eine halbe Stunde, oder bei konkreten Aktionen mitmachen, ganz wie man will. Jeder Einsatz zählt. Es wäre natürlich schön, so groß zu werden wie MoveOn und den Protest im Internet richtig zu vernetzen. Aber in Deutschland ist die Hemmschwelle höher, seine Freunde mit Politik zu behelligen.
Das Potenzial von Internetkampagnen wird von den sozialen Bewegungen immer noch unterschätzt. Natürlich gibt es auch eine inflationäre Tendenz, Online-Appelle zu starten. Wir versuchen, das eher zu bündeln und arbeiten – je nach Thema – mit kompetenten Organisationen und Institutionen wie Transparency International, der Deutschen Umwelthilfe oder Attac zusammen.
Weil wir uns als überparteiliche Organisation verstehen, haben wir auch gute Einflussmöglichkeiten. Wenn aktuell politische Entscheidungen anstehen, gehen wir direkt die Wahlkreisabgeordneten an und konfrontieren sie mit den Positionen ihrer Wähler, mit Studien und Hintergründen. Das spielt bei informellen Prozessen vor wichtigen Entscheidungen durchaus eine Rolle. Politik reagiert nur auf Druck.“