What’s Going On – Marvin Gaye
Punkte: 138
Selten hat sich ein persönlicher Befreiungsschlag so nachhaltig auf die Entwicklung eines ganzen Genres ausgewirkt wie im Fall von Marvin Gayes Black-Conciousness-Meilenstein „„What’s Going On“: Gaye, der als Studio-Drummer seine ersten Sporen bei Motown verdient hatte und in der Folgezeit als romantischer Soulcrooner zu einem der Superstars des Labels aufgebaut wurde, fühlte sich von Berry Gordys strengem Regiment in der schwarzen Hitfabrik zunehmend eingeengt. Hinzu kam, dass der sensible Sänger nach dem tragischen Krebstod seiner jungen Duettpartnerin Tammi Terrell, mit der er Kassenschlager wie „Ain’t No Mountain High Enough“ zelebriert hatte, immer häufiger die Sinnfrage stellte. Ohnehin war Gaye ein Mann von fragiler psychischer Balance. Die Gründe dafür wurzelten in seiner Kindheit: Sexueller Missbrauch und heftigste Auseinandersetzungen mit dem Vater, Reverend Marvin Sr., einem Priester der Pfingstgemeinde „Church Of God“, die letztlich in die tragischen Ereignisse vom 1. April 1984 mündeten, als dieser seinen Sohn erschoss. Obendrein (und wohl auch gerade wegen seiner mentalen Hypotheken aus der Kindheit) erwies sich der vermeintlich ruhige Hafen der Ehe in Gayes Leben gleichsam als das Auge des Hurrikans – das Leben mit Ehefrau Anna, Schwester von Labelboss Gordy und 17 Jahre älter als Marvin, war alles andere als harmonisch.
Dass Gaye aus Gordys Zwangsjacke ausbrechen würde, war folglich nur eine Frage der Zeit – 1971 war es schließlich soweit. Auf „„What’s Going On“ nahm er einen radikalen Rollenwechsel vom samtstimmigen Sexsymbol zum Songautoren mit gesellschaftlicher Botschaft vor – damals eine neue Rolle für Performer in der schwarzen Popmusik, die (von Billie Hollidays Klassiker „Strange Fruit“ mal abgesehen) bis 1971 noch nicht viel an Politkommentaren geliefert hatte.
Es ist kein Zufall und auch kein Druckfehler, dass hinter dem Albumtitel nicht das grammatikalisch erwartbare Fragezeichen steht – „What’s Going On“ war hier nicht als Frage gemeint, sondern als programmatische Ansage für ein Album, das als sozialer Statusbericht für das schwarze Amerika angelegt war: Will man verstehen, was dem Sänger unter den Nägeln brannte, muss man sich die dunklen Seiten der oft so verklärten sechziger Jahre vergegenwärtigen – den Vietnamkrieg, die Verelendung der schwarzen Ghettos und die Gewalt, auf die die Bürgerrechtsbewegung stieß, wo immer sie auf die Straße ging. Ein wichtiger Auslöser war zudem das Schicksal von Gayes Bruder Frankie, der 1967 von einem dreijährigen Vietnam-Einsatz zurückgekommen war – die neun Songs des Longplayers sind suitenartig aus der Sicht eines Kriegsveteranen erzählt.
Aber natürlich verdankte „What’s Going On“ seinen immensen Erfolg (das Album erreichte Platz eins der Blackmusic-Charts, Platz sechs der Pop-Charts und brachte drei Top-Ten-Singles hervor) nicht allein (und vermutlich noch nicht mal zuerst) seinem kämpferischen Gehalt, sondern eben seinen musikalischen Reizen: Geradezu verblüffend ist der Gegensatz zwischen der Wärme und Eleganz der Musik und den harschen Realitäten, die in den Texten abgehandelt wurden – Gaye verpackte seine bitteren Pillen zusammen mit seinem Arrangeur David Van De Pitte in erlesensten klanglichen Zuckerguss. In Tracks wie dem religiös gefärbten Titelsong, der Öko-Hymne „„Mercy Mercy Me“ und der epischen Ballade „„Save The Children“ errichteten die beiden aus mehrfach „gedoppelten“ Leadvocals, verhalten eingesetzten Gospelchören, raffiniert ins Gesamtbild eingebetteten Streichern, dezenter Afro-Percussion und jazzigen Drum-Fills und Bläserriffs ungewöhnlich komplexe Klangkunstwerke. Das grandiose Finale bildete der bis heute immer wieder gecoverte „Inner City Blues“, in dem Gaye über einem sanft-suggestiven Bassriff die Verelendung schwarzer Großstadtreviere thematisiert – freilich mit einem stimmlichen Gestus, der weniger erregt-anklägerisch als resigniert weise und weltentrückt daher kam.
„„What’s Going On“ ist vielleicht das wichtigste Album der Soulmusik bis heute, nicht nur ein beredtes Zeitzeugnis, sondern ein wahrer Klassiker, der dem Hörer 2008 ähnlich viel zu bieten hat wie zur Zeit seiner Erstveröffentlichung.