Wer zu IKEA geht, wird mit existenziellen Fragen konfrontiert
Verloren bei IKEA: Warum können andere auf zwölf perfekt eingerichteten Quadratmetern glücklich sein, während man selbst sein Leben nicht auf die Reihe kriegt? Von Ronja von Rönne
Coulrophobie bezeichnet die Angst vor Clowns. Das Perfide an Clowns ist die Ahnung, dass jemand hinter der roten Pappnase steckt. Ähnlich verhält es sich beim charmant-skandinavischen Möbelgiganten Ikea. Familienfreundlich und penetrant duzend zeigt er Ihnen, nein, dir auf charmant-skandinavische Weise, wie hässlich deine Wohnung ist, und wie einfach es wäre das zu ändern.
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Bei Ikea muss man nicht nachdenken. Ikea ist Urlaub im Passiv. Als erstes werden dir sanft die Kinder entzogen, ein bleicher Praktikant schiebt sie ins Smaland. „Deine Familie brauchst du jetzt nicht mehr“, flüstert er, „gib mir deine Kinder, du hast jetzt uns“, flüstert er und drückt dir wie zum Beweis ein gelbes Family-Kärtchen in die Hand. Ab jetzt bist du Familienmitglied. Blut ist dicker als Wasser. Du wirst die gelbe Karte nicht verlieren. Du wirst Vorteile kriegen, bis zur Stunde deines Todes. Wahrscheinlich ist das gelbe Kärtchen selbst jetzt nicht weiter als 5 Meter von dir entfernt.
Zuerst passierst du mit vielen anderen Menschen die Ausstellung. Zimmer um Zimmer, geschickt eingerichtet, wohnlich ausgeleuchtet, saubere Farben, simples Design. Freundlich weisen dich Schlafzimmer darauf hin, dass du selbst zu blöd bist, deine Wohnung schön einzurichten. Dass man so wohnen, vielleicht leben könnte. Dass das Glück im blau-gelben Konjunktiv liegt. Und dann bietet Ikea dir zum Trost Köttbullar an, traurig schaufelst du dir die Fleischbällchen auf den Teller. „Naja“, denkst du dir, „immerhin kann ich hier umsonst mein Getränk nachfüllen.“ Hättest du auch bei Kentucky Fried Chicken gekonnt, aber da hätte dich keiner gefragt, ob du noch wohnst oder schon lebst.
Die Wahl zwischen Masturbation und Raumorganisation
Manchmal kannst du sogar eine ganze Wohnung betreten. Dort steht dann „Tine wohnt auf 12 Quadratmetern“ an der Tür. Du läufst dann ohne zu klingeln in die Wohnung von Tine, die offensichtlich keine Berührungsängste hat, und siehst, dass selbst Ikea-Tine ihr Leben besser im Griff hat als du. Tine wohnt nämlich nicht nur auf 12 Quadratmetern, Tine wohnt auf 12 perfekt eingerichteten Quadratmetern. Tine masturbiert bei dem Gedanken an die Effizienz ihrer perfekt eingepassten Bettkästen und Kleiderstangen, aber wenn sie die Wahl zwischen Masturbation und Raumorganisation hat, räumt sie lieber auf. Wenn man in Tines Badezimmer geht, steht auf dem Klo „Bitte nicht benutzen“.
Du zweifelst sehr kurz sehr stark an der Menschheit, aber Tine lächelt beruhigend von ihrer eigenen Zimmertür herunter und empfiehlt, ihr die Einrichtungstipps einfach nachzuahmen. Du möchtest aber lieber kein Tine-Poster an deiner Wohnungstür haben. Also stehst du ratlos in Tines Wohnung herum und fühlst dich etwas unwohl dabei, einfach ihre Schränke aufzureißen.
Dass Tine so intelligent einrichtet, verwundert beim Blick ins Bücherregal. Tine liest nämlich ausnahmslos Dummys. Vielleicht, denkt man zaghaft, war das dritte Studium doch ein Fehler, vielleicht sind Inhalte überwunden, wenn man sie nur platzsparend in faltbaren Fjälla-Boxen unterbringen kann. Man fragt sich, wann man die Abzweigung verpasst hat, wieso kann Tine auf 12 Quadratmetern glücklich sein, während man selbst sich in den eigenen 150 regelmäßig in den Schlaf weint?
Brauchen wir alle mehr Malm?
Du möchtest dich in Tines Bett legen, du möchtest warten, bis sie wiederkommt, du möchtest ihr Fragen stellen, auf die sie praktische Lösungen hätte, immer hätte sie praktische Lösungen. Weshalb wache ich nachts mit Panikattacken auf, würdest du fragen, und Tine wüsste, dass du nur das falsche Kopfkissen hast, dass du nur im falschen Bett liegst, dass es egal ist, wer daneben liegt, solange beide Kopfkissen akkurat drapiert und die Spanplatten unkenntlich lackiert sind. Tine wüsste, dass es an deinem Kleiderschrank liegt, dass du ungeschickt ausleuchtest oder das falsche Leben führst. Doch Tine schweigt starr von ihrem Pappbild und deutet auf ihr Malm-Bett über der Malm-Kommode neben dem Malm-Schrank.
Malm, denkt man sich also fahrig, das ist also das Geheimnis, wir brauchen alle viel mehr Malm, alles soll Malm werden, und dann notiert man sich Malm, damit man später nicht vergisst, wo man das Glück findet, unten, im Lager. Dabei ist das Lager in Wahrheit ein Kostümverleih für die Themenparty „Glücklich Leben“, auf der du als hässliche Begleitung deiner Wohnung eingeladen bist und vor der du dich fürchtest, weil du im Gegensatz zu Tine sehr wohl Wert auf Privatsphäre legst. Du drehst dich also noch ein paarmal im Kreis, bevor du wieder auf den rechten Weg findest, der auch kreisförmig verläuft, bevor du es schaffst, die Ausfahrt zu nehmen, vorbei an den rotbecouchten Abholzentren.
Du verlässt den charmant-skandinavischen Laden mit tumben Blick, einem Hotdog in der Hand und wenig Hoffnung. Erst zuhause fällt dir auf, dass du das Kind vergessen hast. Du lächelst leise, dein Atem wird ruhig. Du hast es geschafft. Du hast endlich Platz gespart.
Erscheint mit freundlicher Genehmigung der Kollegen von Welt.de