„Y Tu Mamá También“ von Alfonso Cuarón: Lust aufs Leben
In Mexiko, seinem Heimatland, drehte Alfonso Cuarón einen bittersüßen Jugendfilm. Es ist sein erstes Meisterwerk.
Wenn eines wirklich prägend ist für Mexiko, dann ist es neben der unheimlichen Bezogenheit zum Tod eine dazu im Gegensatz stehende und kaum erklärbare, spirituelle Freude am Leben, an der Lust, an der Liebe, am Feiern, an der Gemeinschaft. Das und noch einiges mehr zeigt Alfonso Cuarón in seinem hinreißenden Jugendfilm „Y Tu Mamá También“.
Es ist ein Coming-Of-Age-Drama par excellence, mit unverbrauchten Gesichtern, satten Landschaftsaufnahmen und ungewellten Erotikszenen, das 2001 gar zum unerwarteten Indie-Hit wurde. Seinen Untertitel „Lust For Life“ bekam der Film nicht umsonst. Für Cuarón war „Y Tu Mamá También“ nach der zu dem Zeitpunkt bereits in Vergessenheit geratenen Dickens-Adaption „Große Erwartungen“ (1998) der Weg zurück nach Hollywood, das sein Talent zwar erkannte, aber augenscheinlich nicht fördern wollte.
Renaissance des mexikanischen Films
Nach „Amores Perros“ (2000) von Alejandro González Iñárritu, „The Devil’s Backbone“ (2001) von Guillermo del Toro und „Japón“ (2002) von Carlos Reygadas (2002) manifestierte „Y Tu Mamá También“ den Eindruck, das für einen Moment das bewegendste Kino aus Mittelamerika kommt. Zumal sich ihre Protagonisten als Produzenten gegenseitig stützen und mit Stoffen versorgen – mit Feingefühl sogar die Filmproduktion in ihrer Heimat fördern (etwa den borstigen Skandalfilm „We Are The Flesh“, der von Cuarón und Iñárritu mitfinanziert wurde).
Das Interesse an den Mexikanern ist bis heute geblieben und entlädt sich regelmäßig bei der Verleihung der Academy Awards. Iñárritu schaffte es gleich zweimal den Regie-Oscar zu gewinnen („Birdman“ und „The Revenant“). Dieses Kunststück wiederholte Cuarón mit „Gravity“ und „Roma“.
Aber zurück zu „Y Tu Mamá También“: Der Film erzählt die Geschichte der beiden Jugendlichen Tenoch (Diego Luna) und Julio (Gael García Bernal, nach „Amores Perros“ in seiner zweiten großen Rolle), die sich bereits seit dem Sandkastenalter kennen und nach dem Schulabschluss, von allen Erwartungen befreit, unerwartet die Aufmerksamkeit der wesentlich älteren Luisa (Maribel Verdú) auf sich ziehen. Sie ist verheiratet mit Tenochs Cousin. Um sie zu beeindrucken, erzählen die Teenager von der geplanten Reise zu einem echten Traumstrand.
Ihre Überraschung könnte nicht größer sein, als Luisa ihnen nur kurz nach diesem Zusammentreffen mitteilt, mit ihnen bald aufbrechen zu wollen. Sie hatte derweil erfahren, dass ihr Mann sie schon seit langer Zeit betrügt. Und auch ein Geheimnis trägt sie mit sich herum, das Tenoch und Julio am Ende dieser magischen Fahrt ins Ungewisse die Unschuld ihrer verwehenden Kindheit raubt.
Der Film ist on location in spanischer Sprache gedreht und wurde von Cuarón ganz bewusst in der Reihenfolge der Drehbuchhandlung aufgenommen, was aus produktionstechnischen Gründen selten der Fall ist. Aber nur so konnte er die Entwicklung der Figuren, getragen von einem geradezu familiären Cast, der sich bereits seit Jahren kannte, auch plausibel und authentisch gestalten. Das Ergebnis ist beeindruckend: „Y Tu Mamá También“ sprüht über vor überraschenden, improvisierten Szenen.
Natürlich geht es hier vor allem um…Sex!
Im Süden Mexikos, in Oaxaca-Stadt, angekommen, wird die Stimmung zwischen dem Trio immer elektrisierender. Natürlich prahlen die beiden Kumpels mit ihren sexuellen Erfahrungen (und in der Tat sieht man beide zu Beginn des Films mit ihren alsbald in die Ferne zu Studienreisen aufbrechenden Freundinnen im eher etwas hilflosen Rausch der Hormone). Aber natürlich erweist sich dies schnell als glatte Lüge, als Luisa einen nach dem anderen verführt. Mit Treue haben es die Schwerenöter ohnehin nicht so. Beide gestehen sich, dass sie jeweils mit der anderen Freundin geschlafen haben. Julio trieb es sogar mit Tenochs Mutter, worauf sich auch ganz konkret der Titel des Films bezieht.
All das hätte ein plumper Teeanger-Streifen vom Reißbrett werden können, eine Art „Road Trip“ auf Spanisch. Doch genau das ist „Y Tu Mamá También“ trotz seiner freizügigen Handlung und der Perspektive auf zwei zaghafte Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsensein nur bedingt. Das liegt vor allem an der wunderbaren Maribel Verdú, die die beiden Jungs gleichzeitig erregt, abstößt, neugierig macht und mit dem nackten Leben konfrontiert. Kritikerpapst Roger Ebert brachte es vielleicht am schönsten auf den Punkt, als er zum Kinostart davon schrieb, dass Verdú „weiser, sexier, komplexer, glücklicher, trauriger“ sei als andere vergleichbare Figuren im amerikanischen Jugendfilm.
Luisa erfüllt Tenoch und Julio den Wunsch nach einem „flotten Dreier“ – und bringt beide ganz beiläufig dazu, sich zu küssen und körperlich einander näher zu kommen. Es sind solche Momente der Freiheit, die niemals aufgesetzt wirken, keinen Hauch von plakativer Darstellung von Diversität oder sexueller Multidimensionalität an sich haften haben, und die den Film deshalb so wahrhaftig erscheinen lassen. Ohne dass es der Zuschauer sofort bemerkte, wird ihm der nicht immer ganz einfache Alltag in Mexiko und damit vor allem die Zerrissenheit seiner Bewohner im Kampf zwischen Moderne und Tradition näher gebracht.
Betörende Bilder von Mexiko
Kameramann Emmanuel Lubezki, längst einer der größten seiner Zunft, nimmt dieses mal fahle, mal in allen Farben strahlende Mexiko mit bewegenden Kamerafahrten in Augenschein, bleibt ganz nah bei den Figuren. Dennoch sind hier noch nicht jene beeindruckenden Kameratricks zu sehen, für die Lubezki – seit Cuaróns amerikanischem Debüt „Little Princess“ (1995) stets an der Seite des Mexikaners – in den letzten Jahren zurecht mit Preisen überhäuft wurde. Dafür ein konzentrierter Blick, der keine Sekunde lang zur übertriebenen Ernsthaftigkeit tendiert.
Ein Jahr nach der dionysischen Odyssee treffen sich die nun zu Männern gereiften Freunde noch einmal in einem Café. Sie werden bald studieren. Nun schauen sie zurück auf ihre letzten Tage in Freiheit. Tenoch erzählt Julio vom traurigen Schicksal Luisas, die beide so sehr durcheinander gebracht und doch zu Sinnen kommen lassen hat. Tenoch und Julio werden sich nie wieder sehen.
„Y Tu Mamá También“ gibt es auf DVD – zur Zeit aber auf keinem Streaming-Portal.
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