wenn westernhagen spricht, muß gott schweigen

The sky was the limit, als beim letzten Mal die große Marketing-Maschine in Gang gesetzt wurde: ausverkaufte Stadien, Gold und Platin zuhauf, Marius-Mania total. Doch dann kam ein Live-Album zuviel, kam ein prätentiöser Konzertfilm, den keiner sehen wollte. Und heute? Haben die Fans den Overkill schadlos verdaut? Kann Westernhagen mit Hilfe von "Jesus" und der gezielten religiösen Provokation noch immer Berge versetzen?

Nein, der Prinz hat keine Pfefferminz in der Tasche. Er hat überhaupt nichts in der Tasche. Ginge auch nicht Trägt den supertaillierten, schwarzen Stretchanzug von Gucci. Mit hohem Revers. Edler Zwirn. So enganliegend, daß man die zugenähten Taschen besser nicht auftrennt. Kommt man gar nicht erst in Versuchung, was reinzustecken. Würde ja auftragen. Dicke Beule. Paßt nicht zu Gucci. Und nicht zum dünnen Hering, der gerade mal 70 Kilo wiegt Bei einsdreiundachtzig. Das Haar nach wie vor volL Darauf ist er stolz, im Dezember wird er schließlich 50. Der Eierbart, den er bei seinem letzten Gig im Sommer ’96 noch in die Kameras hielt, ist ab. Stoppelig jetzt ums scharfe Kinn, etwas blaß um die Nase. Ist nervös. Hat ein neues Album fertig. Nach vier Jahren Pause. Dazwischen „Keine Zeit“ als Live-CD und Kinofilm. Platte lief mittelmäßig, Pennebaker-Film wollten nur 10 922 Besucher sehen. Kam schnell in die Video-Verwertung. Das Open-air in Hockenheim auf 90 000 geplant 46 000 zahlten Eintritt Westernhagen könnte eigentlich feiern: in diesem Jahr den runden Geburtstag, 25jähriges Bühnenjubiläum und die Rosen-Hochzeit mit Gattin Romney. Er meint, er feiere keine Musik-Jubiläen und keine Geburtstage. Der Rest sei Privatsache.

Das neue Album „Radio Maria“ ist es nicht, hierfür macht er Promotion. Nicht viel: Einzel-Interviews gibt er nur vier Magazinen, der Rest der Medien wird später mit Gruppen-Gesprächen abgespeist JiadioMaria“ ist das 18. Studioalbum. Eine Platte des Übergangs, gereift und gelassen. Musik, die neue Freunde wird finden müssen, denn Westernhagen zwingt nun zum Zuhören. Den Gucci-Gürtel wird er deshalb nicht enger schnallen müssen – mehr als zwölf Millionen verkaufte Alben geben ausreichend finanziellen Rückhalt um das in den Vordergrund zu rücken, was bei der mehrjährigen Superstar-Hysterie unterzugehen drohte – die Musik.

Seit dem Pennebaker-Tourfilm „Keine Zeit“ hattest Du einige Jahre zum Nachdenken. Hat’s was gebracht?

Als ich mich im Film in diesen roten und blauen Samtjäckchen sah, dachte ich mir: „War schon in Ordnung, aber jetzt ist es gut damit“ Mir wurde immer klarer, daß nicht ich selbst wichtig bin, sondern das, was ich geschaffen habe. Das, was bleiben wird.

Nach Hockenheim wollte ich eine längere Pause machen, wollte vor allem raus aus der Öffentlichkeit Ich werd ja nicht nervös, wenn ich ein paar Monate nicht in der Zeitung stehe. Irgendwann kam ich dann an den Punkt an dem ich das Resümee zog: „Ich hab die Wände mit Gold- und Platin-Platten volltapeziert und so ziemlich alle Awards gewonnen, die man gewinnen kann, hatte ausverkaufte Stadion-Tourneen und was jetzt?“ Mir wurde klar, daß ich niemandem mehr was beweisen muß – auch mir selbst nicht Und mir wurde bewußt, daß ich nur eines will: gute Songs schreiben, gute Platten machen und Spaß dabei haben.

„Radio Maria“ ist kein Lolli-Rock zum Nebenbeihören. Man merkt, daß Du auf die 50 zugehst.

Mit Riesenschritten! ,Jiadio Maria“ ist sicher ein Album, mit dem man sich befassen muß. Meine Musiker und meine Freunde sagten: Jetzt bist Du musikalisch erwachsen geworden.“ Ein großes Kompliment Ob das Deine alten Fans genauso sehen?

Weiß ich nicht, aber ich kann mich ja nicht meiner eigenen Entwicklung sperren.

Wer will überhaupt Westernhagen hören?

Wenn das Publikum auf der letzten Tour repräsentativ gewesen sein sollte, dann sind es Menschen zwischen 14 und 50. Wir haben das Glück gehabt daß immer eine neue Fan-Generation nachgewachsen ist. Ob das heute auch noch so ist werden wir sehen.

Die „neue“ Generation hört HipHop, liebt Fast Food und tanzt bevorzugt zu Loops.

Wenn ich der Meinung wäre, daß HipHop, Drum’n’Bass oder andere Elemente bei meinem Material musikalisch Sinn machen würden, hätte ich nicht die geringste Scheu, sie einzusetzen. Aber nicht, um vom Markt votgegebenen Trends hinterherzulaufen. Ich glaube, eine Karriere, die so lange dauert wie meine, ist nur möglich, wenn du konsequent den eigenen Weg gehst. Ob ich nun gute Musik geschrieben habe, Songs, die Bestand haben, erweist sich ohnehin erst in zehn oder 20 Jahren. Nimm eine Band wie die Beatles: Ihre Qualität war doch, daß sie sich stilistisch nie haben einengen lassen. Und wenn man heute das „Weiße Album“ oder „Sgt. Pepper“ hört, dann sind das immer noch hochmoderne Platten. Die Kompositionen sind nach wie vor unique und auch vom Sound her keineswegs veraltet.

Viele Songs auf „Radio Maria“ wirken entspannter als früher. Die Instrumente klingen zum Teil fast so, als würden sie ganz für sich alleine spielen.

Es hat sich durch die nun doch bereits einige Jahre dauernde Zusammenarbeit mit meinen Musikern eine Band gefunden, die meinen musikalischen Vorstellungen folgt und vor allem vertraut Wenn wir uns nach einem halben Jahr wieder im Übungsraum treffen, dann ist es, als wären wir erst gestern auseinandergegangen. Diese Vertrautheit macht den Prozeß des Songschreibens natürlich einfacher, ich konnte endlich wieder so schreiben wie früher – mit Kassettenrecorder, Gitarre, Klavier. Immer wenn ich drei oder vier Songs hatte, ging ich mit der Band in London in den Übungsraum, um sie gleich darauf im Studio aufzunehmen.

Im Grunde kreisen Deine Songs um drei Themen: Liebe, Tod, Sinnsuche.

Die meisten Leute sind permanent auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Und damit auch auf der Suche nach sich selbst Es ist ja auch viel schwieriger, sich selbst kennenzulernen als jemand anderen. Das ist ein Vorteil des Älterwerdens: Du kommst dir näher, begreifst dich besser, wirfst Ballast über Bord. Leute wie Dieter Bohlen arbeiten mit viel mehr Kalkül. Auch das ist sicher ein Talent, aber ich kann’s nicht Ich schreibe in erster Linie für mich selbst, um Dinge zu bewältigen, die mir passieren.

In einem Song smgst Du: „Ich btn wieder hier/in meinem Revier/war nie wirklich weg/ habe muh nur versteckt/ich rieche den Dreck“. Was hat das mit Deinem Leben zu tun? Du willst mir doch nicht erzählen, daß Du im Designer-Anzug mit arbeitslosen Stahlkochern in der U-Bahn zum Sozialamt fährst?

Natürlich nicht Aber ich bin mir sehr wohl bewußt, daß es diese Menschen gibt Und ich setze mich mit ihnen und ihrer Situation auseinander. Ich glaube, es gibt viele Leute, deren Position mit meiner vergleichbar ist – und die vergessen haben, daß es Menschen gibt, denen es schlechter geht als ihnen. Als ich 14 war, hat mein Vater mir gesagt: „Egal, was Du wirst, verdienst oder besitzt – komm nie auf die Idee, dich über andere zu erheben.“ Vermutlich eine der wichtigsten Lektionen, die ich je gelernt habe.

Natürlich, ich habe viel Glück gehabt Aber ich kann auch heute noch in den Spiegel schauen, ohne mich zu schämen. Ich bin konsequent meinen Weg gegangen, habe mich nie bestechen lassen oder mich verrückt gemacht, nur um Erfolg zu haben. Doch ich habe genauso große Hochachtung vor Leuten, die beispielsweise ein Türschloß reparieren können.

Als wir unser Haus in Hamburg renovieren ließen, saß ich oft stundenlang mit den Handwerkern am Tisch. Gerade da erfährst Du viel über Realpolitik. Bei den sogenannten „kleinen Leuten“ gibt’s gar nicht so viel Neid, wie gern behauptet wird. Das ist eher ein Phänomen des gehobenen Mittelstands, also der Leute, die meinen, zu kurz gekommen zu sein, die aber eigentlich mehr als zufrieden sein könnten.

Das Album beginnt mit einem Sample des Rundfunksenders „Radio Maria“, der in Deiner Zveit-Heimat Italien rund um die Uhr Gebete und Kirchenmusik sendet. Nach ein paar Sekunden verstummt die Stimme Gottes – und Du erhebt die Deine…

Wir haben ein Studio in einem kleinen, aber extrem hohen Raum aus dem 13. Jahrhundert gebaut Ich wollte die Möglichkeit haben, wann immer ich Lust hatte, singen und den Gesang gleich aufnehmen zu können. Als wir das Studio dann zum ersten Mal einschalteten, hatten wir diesen religiösen Sender auf dem Monitor. Wir haben dann den Mann ausfindig gemacht, der die Übertragungs-Antenne des Senders betreibt Und weil sie in Italien einen enormen Respekt vor jeglicher künstlerischer Tätigkeit haben, erklärten sich die Leute bereit, den Sender netterweise abzuschalten, wenn ich im Studio arbeiten wollte.

Wieso hat es Dich nach Umbrien verschlagen, wo doch die halblinke Kulturszene in der Toskana wohnt?

Wir haben jahrelang in der Toskana gesucht, aber da bekommt man nur irgendwelche Hütten für unglaublich viel Geld. Mein Freund Jürgen Flirrun gab mir den Tip, es mal in Umbrien zu versuchen. Es gibt dort kaum Tourismus, so daß du direkt mit den Menschen, den Bauern, den Handwerkern lebst. Und dabei schraubt man seine Ansprüche immer weiter zurück: Nach zehn Tagen dort ist es einem scheißegal, was man anhat Man denkt nur noch über ganz elementare Dinge nach: Morgens denkst du daran, was es mittags zu essen geben wird, und nach dem Mittagessen denkst du ans Abendessen.

Das ist ja auch das Wichtigste in Italien…

Die Italiener reden den ganzen Tag – und meistens übers Essen. Wunderbar! Ich liebe die Italiener, ihre unverkrampfte Mentalität, ihre Menschlichkeit und ihre Ansprüche ans Leben. Mich haben zum Beispiel die Handwerker sehr beeindruckt, die drei Jahre mit Liebe und Hingabe an der Renovierung unseres Hauses gearbeitet haben. Jeder einzelne von ihnen ist unglaublich stolz auf seine Arbeit – und irgendwie gehört jedem von ihnen ein Teil des Hauses.

Klinp, als wolltest Du ganz auswandern?

Wir sind hauptsächlich noch in Hamburg und durch die Arbeit auch sehr oft in London.

In London besucht Dein Sohn Guilio auch ein Internat – eine prima Möglichkeit, sich vor seiner Verantwortungais Vater zu drücken…

Unsinn. Für mich ist es wichtig, meine Kinder zu respektieren. Meine schlimmsten Erfahrungen als Kind waren die, wenn meine Eltern mich beschissen, mir nicht die Wahrheit sagten. Kinder müssen sich an Dir festhalten können. Sie müssen wissen, daß ein Ja“ ja und ein „Nein“ nein bedeutet Wir haben monatelang hin und her überlegt, ob wir Guilio auf ein Internat schicken. Es ist für einen 14jährigen bestimmt nicht einfach, wenn ein Elternteil eine öffentliche Person ist Einerseits nutzte er das in der Schule aus, andererseits versuchte er ständig, sich an mir – oder besser gesagt: an meinem öffentlichen Image zu messen. Sein soziales Verhalten wurde mit der Zeit immer unerträglicher – eigentlich kein Wunder, denn in seinem Alter glaubt man schnell daran, daß man omnipotent ist. Jetzt, in diesem Internat, gibt es einen ganz klaren Dresscode. Und das heißt, es gibt keinen Konkurrenzkampf darüber, wer die coolere Hose oder den geileren Ohrring trägt. Für Jugendliche gibt’s nichts Wichtigeres als Image, als cool zu sein. Ich dachte, nur unser Sohn sei so, aber ich habe gelernt, daß all seine Freunde genauso drauf sind.

Kennst Du seine Freunde denn überhaupt?

Na klar, sie hängen ja oft bei uns nun. Und zwar buchstäblich. Sie machen alles gleichzeitig: Der Computer ist an, der Fernseher läuft, dazu spielen sie Videogames und telefonieren. Sie schöpfen alle Möglichkeiten gleichzeitig aus – und sind sofort gelangweilt, wenn sie nicht unterhalten werden.

Welche Musik hört er?

Er hört das, was alle hören, die ihre Hosen tief unterm Hintern hängen haben: HipHop, Gangsta-Rap und so weiter.

XXXXL-Hosen?

Genau. Aber ich war ja nicht anders, als ich in seinem Alter war; ich kann mich noch gut dran erinnern. Nur waren die Hosen bei mir hauteng und klemmten alles ab. Auch meine Eltern haben mich natürlich für verrückt erklärt Dennoch glaube ich, daß wir damals etwas kreativer waren-weil es für uns noch nicht diesen übermächtigen Markt gab. Wer hip sein wollte, mußte sich seine Klamotten selbst ausdenken und in Second-Hand-Läden stöbern.

Dein Sohn nutzt doch nur die ihm gegebenen Möglichkeiten, sich von seinem 50jährigen, Gucci-tragenden Superstar-Vater abgrenzen zu können.

Ist ja auch sehr wichtig. Dein Anzug sieht übrigens auch nicht aus wie von H&M. Naja. Für uns war das damals leichter, weil die Generation unserer Eltern viel konservativer war. Heute haben viele Jugendliche liberale Eltern, die Hippie-Generation halt, gegen die viel schwieriger zu rebellieren ist Mein Sohn kann heute ankommen und mir einen Hip-Hop-Song vorspielen – und ich kann ihm sagen: „Kenn ich – dieses Element hat damals schon der und der benutzt. Das wißt Ihr jungen Leute nur nicht.“

Als löjähriger würd ich das zum Kotzen finden…

Sag ich ja. Wenn Guilio aus dem Internat für ein Wochenende zu uns nach Hamburg kommt, sehen wir ihn kaum. Aber die Zeit, die wir zusammen verbringen, hat eine ganz andere Qualität bekommen. Es gibt ihm Sicherheit, daß wir für ihn da sind, aber er verbringt seine Zeit natürlich lieber mit seinen Freunden; war bei mir auch nicht anders. Ich glaube, Kinder lernen nur aus Erfahrungen. Auch im Internat – dort lernen sie, für die Gemeinschaft zu denken. Sie wohnen in Vierbettzimmern, und wenn einer Scheiße baut, wird das ganze Zimmer bestraft. Dadurch begreifen sie, daß sie aufeinander angewiesen sind. Und nach drei Monaten Internat fing auch Guilio plötzlich an, sich für andere einzusetzen. Mir ist wichtig, daß er später ein glücklicher Mensch wird, ganz egal, was er mal machen wird. fon mir aus kann er Pizzabäcker werden, aber er soll glücklich sein.

Was will er denn werden? Vielleicht Basketball-Profi in der NBA?

Ja, ja – in der NBA spielen, aber nicht trainieren wollen. So ist das heute: Die Kids kaufen sich eine Gitarre, und wenn sie nach einer Woche nicht wie Clapton spielen können, legen sie das Ding wieder weg. Im Sport ist’s ähnlich. Aber es reicht nicht, mit ’nem coolen Trikot und den Schuhen von Michael Jordan auf den Platz zu gehen.

Und dennoch scheinen die Blender im Moment erfolgreicher zu sein denn je.

Genau das macht mich wahnsinnig. Wir leben in der Hoch-Zeit des schlechten Geschmacks. Ich habe wirklich nichts gegen Guildo Hörn, den ich tatsächlich ganz witzig finde. Nur: Ich habe das Gefühl, die Deutschen kapieren die Ironie nicht Sie sehen alles eindimensional. Ich hab auch nichts gegen Frau Feldbusch, aber das alles hat eine unfaßbare Wichtigkeit bekommen. Es muß schlechten Geschmack ebenso geben wie durchschnittlichen oder guten. Aber wenn dem schlechten Geschmack plötzlich gar ein „Stern“-Titel zugestanden wird, dann frage ich mich schon, wie es um unsere kulturelle Identität bestellt ist.

Oder nimm das Beispiel der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten: Wo erfüllen die noch ihren kulturellen Auftrag, für den wir sie mit unseren Gebührengeldern bezahlen? Statt ihren Statuten gerecht zu werden, versuchen sie, bis auf wenige Ausnahmen, das Niveau der Privaten noch zu unterbieten. Und ich finde es äußerst zynisch, wenn du den Leuten etwas verkaufst, das wissentlich unter den eigenen Qualitätsansprüchen liegt Natürlich würd ich lügen, wenn ich behaupte, ich würde nicht gerne Geld verdienen. Aber es darf nicht das alleinige Motiv sein. Dann bist du kein Künstler, sondern ’ne Kultur-Hure.

Klingt alles sehr konservativ und autoritär. Woher willst Du wissen, was richtig und falsch ist?

Das maße ich mir gar nicht an. Aber ich konnte den Lebensweg der Kinder etlicher Freunde verfolgen, die in den 60er und 70er Jahren antiautoritär erzogen wurden. Die meisten von ihnen hatten später echte Kommunikationsprobleme. Ich finde, du mußt deinen Kindern die grundlegenden humanistischen Werte vermitteln. Daß sich die Menschen danach sehnen, konnte man exemplarisch an der Trauer um Lady Di nachempfinden – so kritisch man den Kult auch sehen mag: Da hat sich das Grundbedürfhis nach Menschlichkeit und Ehrlichkeit und nach jemandem, der was für andere tut, ohne dafür bezahlt zu werden, ganz klar manifestiert. So was ist gerade in Deutschland verloren gegangen.

Vielleicht haben wir durch die Wiedervereinigung ganz andere, zusätzliche Probleme bekommen.

In meinen Augen war es ein kaum zu verzeihender Fehler, daß die Bundesregierung einzig die wirtschaftliche Herausforderung der Wiedervereinigung angenommen hat, nicht aber die geistigmoralische und schon gar nicht die kulturelle. Natürlich muß in einem Staat auch die Kasse stimmen, aber das alleine reicht nicht Ein Volk bekommt seine Identität doch durch Kunst und Kultur – nicht durch gute Bilanzen. Helmut Kohl hat dieses Land ausgehöhlt und dazu beigetragen, daß Gemeinschaftsgefühl, gesunder Patriotismus und das Selbstwertgefühl des Einzelnen ihren Stellenwert verloren haben.

Schlechte Zeiten – Gute Zeiten: Deutschland raus aus der WM, Boris Becker raus aus der Top 100 und Kohl am Ende…

Für mich war das ein fast historischer Tag: Helmut Kohl im Stadion, als Deutschland bei der WM scheiterte. Das ist ein Symbol fur das gegenwärtige Deutschland mit seiner rückwärtsgerichteten Politik – das muß vorbei sein!

Und was kommt statt dessen? Sprechblasen-Schröder?

Ich glaube, daß hinter diesem Bild eine gut funktionierende CDU-Kampagne steckt Ich habe Schröder Anfang des Jahres in einem kleinen Kreis von Freunden kennengelernt Und er hat mir imponiert, weil er zuhören kann.

Mein Hund kann mir auch stundenlang zuhören.

Aber wir brauchen den Wechsel. Meine Befürchtung bei Schröder ist eher die, daß er Probleme haben wird, seine Partei geschlossen hinter seine Politik zu bekommen. Er muß zeigen, daß er Eier hat. Aber das Problem hatten ja alle SPD-Kanzler. Hauptsache, es passiert was; mit dieser lähmenden Stagnation können wir einfach nicht mehr weiterleben.

In einem Land, das im Dauerwahlkampf lebt, bleibt für Inhalte eben keine Zeit.

Richtig. Daß ein Politiker 16 Jahre lang Bundeskanzler sein darf und geradezu unbegrenzt die Geschicke dieses Staates leiten kann, das hat schon fastetwas von einem Regime. Erzähle mir niemand, daß so ein Mann noch einen gesunden Bezug zur Realität hat Mit diesem System, in dem ein Kandidat immer wieder gewählt werden kann, beginnt am Tag nach der Wahl schon der nächste Wahlkampf. In den USA hat der Präsident maximal zwei Legislaturperioden: In der ersten wird er sich bemühen, wiedergewählt zu werden. Aber in der zweiten wird er alles daran setzen, etwas Dauerhaftes zu hinterlassen. Natürlich hat Kohl unbestrittene Verdienste – aber die kommende Wahl ist ja keine Dankbarkeits-Wahl.

Andererseits hat der beschauliche rheinische Kapitalismus dem Land eine nie dagewesene Stabilität Gebracht.

Aber um welchen Preis? Die alte Bundesrepublik war ein Puppenstaat, in dem man vieles einfach unter den Teppich kehren konnte. Man hat etwa nie diesen latent vorhandenen Rassismus gespürt – das tat man einfach nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Alles in Deutschland war überschaubar und beschaulich. Wir hatten diese kleine, niedliche Hauptstadt -jeder mochte uns und hat hier investiert.

Und dann prophezeite der Kanzler die „blühenden Landschaften“. Entweder hat er gelogen, oder er ist beschränkt – und das kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls war’s ein falsches Signal, weil die Menschen in den Neuen Bundesländern denken mußten, daß Kapitalismus wie Sozialismus ist – nur besser Man wartet eben nicht mehr auf den Trabbi, sondern auf den Mercedes. Aber niemand hat ihnen gesagt, daß sie einem gnadenlosen Konkurrenzkampf ausgeliefert werden. Andererseits ist uns im Westen suggeriert worden, die Wiedervereinigung sei aus der Portokasse zu bezahlen. Wenn Kohl die ungeschönte Wahrheit gesagt hätte, hätten wir heute kein Volk von Enttäuschten.

Hättentätten.

Es ist in dieser Situation jedenfalls keine Lösung, nichts zu sagen, nur weil man nichts Falsches sagen wilL Die Menschen wollen ernstgenommen werden, sonst wenden sie sich ab.

Und deshalb sagst Du jetzt: „Wählt Schröder!“

Falsch. Ich sage, daß wir einen Wechsel brauchen.

Dann sag doch schon: „Wählt Schröder“!

Ich bin kein Sozialdemokrat, hab mit Parteipolitik nichts am Hut, aber ich glaube, daß Schröder eine Möglichkeit ist – zumal ich keine Alternative sehe.

Du vertraust ihm?

Soweit ein Politiker vertrauenswürdig sein kann.

Zumindest verkauft er diese wichtigste aller Politik-Waren sehr geschickt: Vertrauen.

Aber das ist doch hervorragend! Genau das ist es doch, was wir brauchen – eine Identifikationsfigur, die das folk aus der Lethargie reißt und Aufbruchstimmung verbreitet, die sich schon immer an Personen festgemacht hat – siehe Blair, siehe Clinton. Außerdem muß ein Generationswechsel her. Wie will denn ein Mann wie Helmut Kohl noch die ganz Jungen oder selbst die 30 bis 40jährigen motivieren?

Ich hab ’ne bessere Idee: „Wählt Westernhagen!“

Um Gottes Willen! Dafür fehlt mir nun wirklich das know-how. Und außerdem: Um in so eine politische Position zu kommen, mußt du jahrzehntelang Kompromisse schließen. Und dafür bin ich ganz sicher nicht der richtige.

Dafür hättest Du aber zumindest den Urteil, Dir Deine Diäten selbst erhöhen zu können.

Es mag ketzerisch klingen, aber ich finde, daß Politiker hierzulande weit mehr verdienen müßten. Schau nur, welche Spitzenkräfte hochbezahlt in der Wirtschaft arbeiten – und was für Dilettanten mitunter in der Regierung sitzen. Ein Top-Manager aus der Wirtschaft könnte dort gar nicht arbeiten. Der ist gewohnt, Entscheidungen zu treffen, ohne tausend Gremien fragen zu müssen. Unsere politische Elite sollte gut verdienen. Und jeder sollte wissen, was der Kanzler verdient Wir bezahlen ihn gut, dafür dürfen wir einen guten Job erwarten.

Das sind neue Töne von Dir. Bislang hast Du Dich zu politischen Themen doch eher bedeckt gehalten.

Das muß ich mir wohl vorwerfen lassen. Aber ich bin auch oft enttäuscht worden: Vorjeder Wahl stehen die Politiker bei Künstlern und Intellektuellen Schlange, um sie vor ihren Wagen zu spannen. Und nach der Wahl sind eben diese Leute, die sich engagiert haben, von der Politik stets enttäuscht worden. Nur: Die Gräben in unserer Gesellschaft sind inzwischen zu tief, als daß wir es uns noch erlauben könnten, so zu tun, ab ginge uns das nichts an.

Und deshalb kommt Dein neues Album jetzt pünktlich zur Wahl, damit Du in Interviews auch auf den Polit-Putz hauen kannst?

Nein, ich hätte mich auch ohne neue Platte geäußert, weil ich erst jetzt die Gefährlichkeit der Situation erkannt habe. Unsere Situation ist eine in der deutschen Geschichte völlig neue. Sie ist weder mit Weimar noch mit dem Ende der Adenauer-Ära vergleichbar. Dieses Modewort von der „Politikverdrossenheit“ – mir ist erst im letzten halben Jahr bewußt geworden, welche Gefahren das in sich birgt.

Trotzdem: Ohne „Radio Maria“ würden wir hier jetzt nicht an einem Tisch sitzen.

Aber doch nur, weil dann niemand ein Interview mit mir führen wollte.

Ausrede!Jedes Magazin würde derzeit mit Westernhagen ein Interview zur politischen Lage führen wollen.

Wenn dem so ist, ist es mir nicht bewußt. Als ich nach Jahren jetzt wieder mein erstes Interview gab, war ich über das Interesse an mir völlig erschrocken. Was mich an meinem Beruf immer gestört hat, ist diese permanente Öffentlichkeit. Da war ich lieber Maler oder Schriftsteller, da müßte ich mich nicht selbst hinstellen, sondern könnte die Arbeit sprechen lassen.

Genau das scheinst Du Deinem Album nicht zuzutrauen – oder warum gibst Du gerade jetzt Interviews?

Oh, nein, nein! Im Gegenteil. Ich bin zutiefst überzeugt von dem Album, auch sehr stolz, deshalb möchte ich, daß möglichst viele Leute erfahren, daß es JRadio Maria“ gibt Ein Großteil heutiger Popmusik ist doch wie ein Tempotaschentuch: reinschneuzen und wegwerfen. Aber es gibt Gegenbeispiele: Nimm die letzte Dylan-Platte, die dich dazu zwingt, sich mit den Songs zu befassen. Vielleicht hängt meine Einstellung mit dem Alter zusammen, aber solche Platten machen für mich die Qualität populärer Musik aus. Mit Filmen geht es mir ähnlich: Wenn du mich in „Independence Day“ setzt, langweil ich mich zu Tode.

Auch Westernhagen ist ein Unterhaltungskünstler.

Kunst kann unterhaltend sein, muß sie aber nicht. Das ist so wie der Unterschied zwischen Malerei und Gebrauchsgrafik: Wenn du vor einem Van Gogh stehst wirst du dich der Ausstrahlung seiner Arbeiten kaum entziehen können. Und dann gibt’s diese Grafiken, die sich Leute zuhause aufhängen, weil sie dekorativ sind. Sie berühren dich aber nicht, bewegen dich nicht Kunst hat manchmal auch die Funktion und Aufgabe, zu stören.

Vor fünf Jahren fragte ich Dich, ob Du dem damaligen Westemhagen-Wahn noch einen draufsetzen kannst. Du sagtest: “ Vielleicht kommt die Zeit, in der ich einen druntersetzen muß. „Ist es jetzt soweit?

Meine Frau hat mich neulich erinnert, daß ich eigentlich keine Tour mehr machen wollte. Wollte ich auch nicht – zumindest nicht nur, um Geld zu verdienen. Wenn überhaupt noch eine Tour, muß sie eine künstlerische Herausforderung sein. Als ich dann mit den Tourleuten zusammensaß, bekam ich plötzlich wieder Gefallen am Gedanken, das Konzept, das wir mit der „Affentour“ eingeschlagen hatten, weiterzuentwickeln: weg von der bonbonfarbenen Rock’n‘ Roll-Welt, hin zu einer intelligenten Licht- und Bühnendramaturgie.

Wenn Du weißt, daß Du so was nicht mehr toppen kannst – warum spielst Du nicht einfach in Clubs?

Ich weiß nicht ob ich in fünf Jahren noch so denke, aber wie’s im Moment aussieht, wird die kommende Tour meine letzte sein. Ich möchte nicht, daß ich irgendwann nur noch Komplimente wie „Schau mal, der Alte ist noch ganz schön fit“ bekomme.

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