Unfrieds Urteil: Wenn die Grünen es böse finden, muss es gut sein
Gute Menschen, böse Menschen, Mutter Angela oder Monster Merkel? Gut und böse sind keine politischen Kategorien, mit denen sich erfolgreicher Umgang von Politik und Gesellschaft mit den Flüchtlingen messen ließe.
Vor wenigen Tagen erschien der „Spiegel“ mit einem aufrüttelnden Doppeltitel: Es ging um den Kampf zwischen dem „hellem Deutschland“ und dem „dunklen Deutschland“. Nazis oder moralisch handelnde Menschen – wer wird sich durchsetzen, fragte das Magazin bange und warb mit einem „Manifest“ engagiert für das Aufgeklärte, Mitfühlende, Sharende und Gute. In dieser Woche präsentiert ein höhnischer „Spiegel“ Kanzlerin Angela Merkel als Mutter Teresa auf dem Cover: Das ist die klassische Abqualifizierung des sozialen und emphatischen Handelns als naives, moralisierendes und weltfremdes „Gutmenschentum“.
Auch wenn es in den Hefttexten teilweise differenzierter zu geht, offenbart sich hier das Dilemma des anschwellenden Versuchs, das gesellschaftliche und politische Handling der globalen Flüchtlingsfrage in eine konsistente Moralkategorie zu pressen: Vor allem, da es derzeit nicht mehr primär um Nazis oder Rechtspopulisten geht, sondern um die Frage, ob die „normalen“ Deutschen und ihre Politiker sich in dieser Situation als gute oder als böse Menschen erweisen. Oder ob die Guten gegen die Bösen kämpfen.
Die Welt dreht sich nicht nur um die Deutschen
Auch das Menschelmedium „Die Zeit“ tut sich richtig schwer, und das liegt daran, dass man den Problemen der Gegenwart mit der Fragestellung „Schaffen wir das?“, mit einer für alles passenden Haltung und mit einem für alles passendem Denksystem schlicht nicht beikommen kann. Erstens dreht sich die Welt – so engagiert wir das auch ignorieren mögen – nicht nur um die Deutschen. Zweitens sind Gut und Böse keine politischen Kategorien, mit denen sich die Realität der Flüchtlingskrise managen ließe. Drittens ist nichts nur gut oder nur böse. Etwas, das hier und jetzt moralisch gut ist, hat anderswo oder zu anderer Zeit möglicherweise große negative Auswirkungen, etwa für eine menschenwürdige Unterbringung, für den Zusammenhalt der EU, für die nachhaltige Unterstützung der Einwanderungsbewegung in einer Kommune.
Es ist auch bei der Merkel-Regierung so (wie auch bei der Rot-Grünen davor), dass sie nicht entlang langer oder gar roter Linien Politik machen kann, sondern auf die Entwicklung von Aktualität reagiert – und auf die permanent wechselnde Rezeption durch Öffentlichkeit und Medien.
Daher muss man auch nicht als gesichert annehmen, dass Merkel von einem privatistischen Gefühlsschock durchgerüttelt wurde, als sie sagte, dass Deutschland Menschen willkommen heiße, die vor politischer Verfolgung und Krieg fliehen. Nachdem sie das Problem, wie üblich, so lange beobachtet hat, wie es eben ging, wurde auch sie von der Dynamik erfasst. Vielleicht ist es jetzt so wie immer und sie erkennt schlicht, dass eine Mehrheit im Land das möchte? Die übrigens keine „linke Mehrheit“ ist. Nicht nur die Rechtsaußen, sondern auch Teile der Linksparteiwähler sind ganz und gar nicht begeistert von neuen Mitbürgern, die sie als Konkurrenz empfinden.
Merkel wird den Grünen und der SPD eine Änderung des Asylrechts abringen
Nehmen wir also an, im Mittelinks- bis Mitterechts-Spektrum bewegen sich gesellschaftliche Mehrheits-Normvorstellungen wie bei Atomausstieg, Geschlechteremanzipation und Homoehe auch in diesem Bereich von klassischen CDU-Werten in Richtung Grüne Werte. Das ist hart für Teile der Union. Und auch für Teile der Grünen. Die Gesellschaft geht eben nicht ganz rüber, weshalb beide Parteien sich bewegen müssen.
Es heißt auch nicht automatisch, dass die CDU verliert und die Grünen Wähler gewinnen. Es kann auch andersherum kommen. Wenn die Grünen sich jetzt nicht mit ihren Landesregierungen federführend an der realen Bewältigung der Flüchtlingsintegration beteiligen, kann es sie richtig aus der Kurve hauen. Merkel wird den führenden Grünen Landespolitikern – und ihrem kleinen Koalitionspartner SPD – also an diesem Donnerstag eine Änderung des Asylrechts abringen, etwa mehr „sichere Herkunftsstaaten“ auf dem Balkan, was es ohne die rasante Entwicklung nie gegeben hätte.
Die eine Realität ist, dass das Asylrecht damit weiter verschärft wird. Die andere Realität ist, dass faktisch eine Million Menschen bis Jahresende aufgenommen werden, zwanzig mal mehr als 2010. Dass in Kommunen schon bis hin zu U-Bahnschächten alles inspiziert wird, was Menschen vor Winterkälte schützen könnte. Es heißt, dass die Politik eine Grundlage für die Bewältigung der nächsten Jahre schaffen muss. Gut im Sinne einer lesbaren Realität heißt: Für den Idealismus der deutschen Bürgerbewegung 2015 politische Strukturen zu finden, in denen er nachhaltig weiterwirken kann.
Altmaier wurde in letzter Sekunde gerettet
Denn wenn wir ausnahmsweise mal kritisch mit uns selbst wären, müssten wir zugeben, dass wir zuletzt nicht sehr sozial belastbar waren. Zwar fragen sich zunehmend mehr Menschen, ob sie nach dem seit 1945 geltenden Arbeits-, Karriere- und Konsumprinzipien leben wollen. Und zunehmend sind Leute nicht mehr stolz auf ihre soziale Impotenz, was das Lächerlichmachen von „Gutmenschen“ de facto ausdrückte: Sie wollen sie überwinden. Eine aktuelle Untersuchung des Instituts Rheingold kommt trotzdem zu dem Schluss, dass wir eine saturierte, auf Besitzstandwahrung und eigene Befindlichkeit fixierte Gesellschaft sind. Und das sind nicht immer nur die anderen. Fazit: Es ist nicht Gut gegen Böse oder wir gegen die. Es ist noch nicht mal St. Pauli gegen „Bild“. Es ist viel komplizierter.
Als Kanzleramtsminister Peter Altmaier den ersten Asylkompromiss aushandelte, kam es fast zum Aufstand einiger CDU-Politiker. Sie hielten das Ergebnis für unakzeptabel. Viel zu gutmenschlich. In letzter Sekunde wurde Altmaier dann gerettet. Von einem Proteststurm einiger Grüner. Sie hielten den Kompromiss auch für unakzeptabel. Viel zu unmenschlich. Worauf die CDUler sich umorientierten.
Wenn die Grünen das so böse finden, folgerten sie, dann muss es gut sein.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de