Weltliteratur als Ballerspiel
Der Autor WLADIMIR KAMINER ("Russendisko") hat Fjodor Dostojewskis "Schuld und Sühne" in die deutsche Gegenwart geholt - als Egoshooter. Raskolnikow heißt nun Herr Spalter, und nicht mal die Kanzlerin ist vor ihm sicher
Das Vorspiel
Ein junger Mann sitzt zu Hause vor dem Fernsehen und langweilt sich. Er heißt Herr Spalter. Trotz seiner 18 Semester an der Uni, seinem Magister in Volkswirtschaft und Osteuropastudien kann er keinen vernünftigen Job finden. Wozu hat er studiert? Er lebt davon, dass er am Wochenende auf dem Flohmarkt Souvenirs verkauft, gefälschte Mauersteine, angeblich von der Berliner Mauer, deren Segmente vor einem Vierteljahrhundert im Zuge der deutschen Wiedervereinigung in alle Winde verstreut wurden. Jedes Wochenende wird der Flohmarkt von Touristen überschwemmt, vor allem Südeuropäer scheinen Geld zu haben, das sie ohne Bedenken für so etwas Unnützes wie gefälschte Mauersteine ausgeben, während der Verkäufer sich nicht einmal einen neuen Anzug leisten kann. Der junge Mann sucht nach Schuldigen für seine Misere, im Fernsehen wird jeden Tag von der Finanzkrise geredet, von verschuldeten Südeuropäern, die Armut leiden, von der geheimnisvollen unsichtbaren Hand des Marktes, die angeblich alles regelt. Herr Spalter würde gern die unsichtbare Hand des Marktes abhacken, die seine Zukunft in eine fremde Tasche gesteckt zu haben scheint, doch diese Hand ist nur ein Phantom, ein konturloses Feindbild.
Das reale Böse hält sich versteckt. Das Fernsehen erzählt, man solle keine allzu große Hoffnung auf Staatshilfe hegen, jeder müsse sich selbst anstrengen, nach individuellen Wegen suchen, wie er sich in die Gesellschaft einbringen, sich nützlich machen könne. Herr Spalter beschließt, selbstständig zu werden und volkswirtschaftliche Studien über Osteuropa zu veröffentlichen. Er will Osteuropa der westlichen Welt näher bringen, die alten Vorurteile sollen abgeschafft werden, Westeuropa und Osteuropa werden, dank Herrn Spalter, einander besser kennenlernen, die Welt wird sich kulturell, geopolitisch, ökonomisch zum Besseren ändern, die unsichtbare Hand des Marktes, die angeblich alles regelt, bekommt eins auf die Finger. Doch dazu braucht Herr Spalter ein Startkapital. Du schaffst es, sagt das Fernsehen zu ihm. Herr Spalter will sich prüfen: „Bin ich ein Mann oder eine Laus?“, fragt er sich vor dem Spiegel. Die Geschichte kennt viele kleine Männer, die riesengroß geworden sind: Napoleon, Lenin, Putin. Auch Herr Spalter wird es schaffen.
Level I
Durch Zufall erfährt er, dass seine Nachbarin, die Rentnerin Frau Müller, Aktien eines Solarunternehmens in beträchtlicher Höhe besitzt. Dabei braucht Frau Müller die Aktien gar nicht. Sie ist bestimmt hundert Jahre alt, verlässt kaum noch die Wohnung und hat der Welt ganz sicher nichts mehr mitzuteilen. Sie hat keine Kinder, dementsprechend auch keine Enkelkinder, keine Haustiere, keine Katzen oder Hunde. Sie führt ein sinnloses Leben, niemand wird ihr eine Träne nachweinen. Die Welt wird es nicht einmal merken, wenn Frau Müller nicht mehr da ist. Außerdem hatte Frau Müller selbst neulich gesagt, als Herr Spalter ihr geholfen hat, die Milch von „Getränke Hoffmann“ in den zweiten Stock zu tragen, sie könne nicht mehr und habe jegliche Lust am Leben verloren. Ausgerechnet diese Person verfügt über die Mittel, die Herr Spalter braucht, um die Welt zum Besseren zu verändern. Er beschließt, diese soziale Ungerechtigkeit wiedergutzumachen. Hinter dem Küchenschrank findet Herr Spalter das einzige Erbstück, das ihm von seinem leider zu früh verstorbenen Vater übrig geblieben ist: die Axt Fiska. „Du solltest nicht töten“, sagt ihm seine innere Stimme. „Und wenn es nicht anders geht? Wenn dadurch andere Leben gerettet werden können?“, fragt er die innere Stimme zurück. Schafft er es, seine innere Stimme umzustimmen, kommt er auf Level II.
Level II
Herr Spalter überlegt: „Alles im Leben hat einen gerechten Preis. Wäre der Preis nicht zu hoch, der Nachbarin den Rest ihres überflüssigen Lebens zu nehmen, um dadurch mit Hilfe ihrer Aktien sich in das gesellschaftliche Leben einbringen zu können, Armen und Bedürftigen helfen, die Welt zu verbessern?“ Herr Spalter antwortet mit einem Nein. Der Preis ist nicht zu hoch. Er trainiert zu Hause mit einer Babybornpuppe, die Puppe hat ein kindliches Gesicht, sie kann sogar Mama sagen. Herr Spalter kauft Ohrenstöpsel in der Apotheke, um nichts zu hören. Er schlägt mit der Axt auf die Puppe, der Puppenkopf rollt unters Sofa. „Ich kann es tun“, sagt Herr Spalter und kommt auf Level III.
Level III
Mit der Axt in der Manteltasche klingelt Herr Spalter an der Tür der Nachbarin. Es ist spät. Frau Müller erwartet niemanden, der Fernseher läuft auf voller Lautstärke. Herr Spalter bleibt nichts anderes übrig, als die Tür aufzubrechen, er fühlt sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – wie ein richtiger Mann. Er tritt ins Wohnzimmer, Frau Müller bleibt auf dem Sofa sitzen, schaut ihm mit Unverständnis entgegen. „Tut mir leid!“ Sagt Herr Spalter. „Wie bitte?“ Fragt Frau Müller nach. Sie ist etwas taub. „Tut mir leid“, schreit Herr Spalter und erschlägt Frau Müller mit der Axt seines Vaters. Anschließend durchsucht er das Zimmer. Was er nicht wissen kann, Frau Müller hat an diesem Abend ihre Cousine Emma zum gemeinsamen Tatortgucken eingeladen.
Tante Emma hat in ihren jungen Jahren Taekwondo gelernt und besitzt einen schwarzen Gürtel in Karate. Sie kommt aus der Toilette und greift Herrn Spalter an. Herr Spalter kommt zu der bitterem Erkenntnis, mit einer Oma ist die Sache nicht getan, und jede weitere Oma ist schwieriger zu töten. Wenn er trotzdem die Cousine schafft, kommt er aus der Wohnung raus und landet auf Level IV.
Level IV
Herr Spalter erfährt, die Aktien des Solarunternehmens, die er von Frau Müller unter Lebensgefahr enteignete, sind wertlos, die Sonnenbatterien des Unternehmens können die Energie nicht in großen Mengen speichern. Sie geben Licht nur, wenn die Sonne scheint und es sowieso hell ist. Nachts, wenn es dunkel wird, schalten sich die Batterien ab. War etwa der Tod zweier Omas umsonst gewesen? Die Welt wurde nicht gerettet und die private Lebenssituation von Herrn Spalter nicht besser? Mit diesem Gedanken kann Herr Spalter nicht leben. Ihm bleibt keine andere Wahl, er muss weitermachen. Er weiß, wenn irgendjemand in Deutschland Geld hat, dann sind es die Omas. Herr Spalter geht auf Oma-Jagd. Er kauft sich für sein letztes Geld eine Busfahrkarte für eine Kaffeefahrt nach Prag. Der Bus ist voll mit Omas, die ihr gespartes Geld dabeihaben, um gegen Ende des Lebens ihr Kapital für eine sinnlose, beheizbare Massagedecke auszugeben. Herr Spalter hat nichts im Gepäck außer seiner Axt. Als einziger junger Mann im Bus genießt er großes Vertrauen, er hilft den Omas beim Ein- und Aussteigen, beim Sudokuraten und erzählt ihnen Rentnerwitze. Kurz vor der tschechischen Grenze beginnt das Oma-Massaker. Nicht alles geht glatt. Manche Omas wehren sich. Sie haben Waffen: Pfefferspraydosen, Elektroschocker, Peitschen. Die Lage eskaliert, als der Busfahrer sich auf die Seite der Omas stellt und eine Eisenstange aus der Schublade holt. Für den Weltverbesserer wird es eng. Wenn Herr Spalter es trotzdem schafft, die Omas und den Busfahrer zu erledigen, kommt er mit dem gesammelten Geld auf Level V.
Level V
Herr Spalter wird als Oma-Bekämpfer im Land bekannt. Er möchte nicht als Mörder und Räuber von der Öffentlichkeit geschmäht werden, sondern als politischer Kämpfer. Er will der Öffentlichkeit beweisen, dass diese westeuropäische „Demokratie“ in Wirklichkeit eine autoritäre, von Omas geführte Diktatur ist, die alles tut, um die Interessen der alten Frauen zu schützen. Weil die Omas aus demografischen Gründen die Mehrheit im Land bilden, werden nur Politiker gewählt und immer wieder gewählt, die den Omas Macht und Einkünfte, bzw. Ersparnisse sichern. Um die Verschwörung der Omas aufzudecken, meldet sich Herr Spalter auf dem Level V inkognito bei der Volksmusiksendung „Musikantenstadl“. Die Omas, die diese Volksmusik lieben, stellen zu 100 Prozent das Publikum bei diesen Konzerten. Herr Spalter ist der einzige junge Mensch auf dieser Veranstaltung. Er hat auch seine Axt nicht vergessen. Diesmal hat er nicht nur mit bewaffneten Omas, sondern auch noch mit den Sicherheitskräften zu kämpfen, mit dem Volksorchester, mit gefährlichen bayrischen Biersängern und mit Helene Fischer. Wenn er Glück hat, bringt er alle um und kommt auf Level VI.
Level VI
Nach dem Erfolg der Mission im Studio des „Musikantenstadl“ wacht das Land langsam auf. Herr Spalter lernt Gleichgesinnte und Unterstützer kennen. Alle zusammen wollen sie die Jugend des Landes wachrütteln. Sie planen einen Überfall auf das größte Altersheim, die bestbewachte Festung des Landes. Am letzten Tag des Monats werden im Altersheim die Steuereinnahmen des ganzen Landes unter den wichtigsten Omas des Landes verteilt. Herr Spalter und seine Freunde wählen diesen Tag, um ein Zeichen der Hoffnung für die Jugend zu setzen und eine fette Beute zu kassieren. Nur mit Äxten bewaffnet stürmen sie das Altersheim, dort müssen sie sich mit den Ärzten, Krankenschwestern und dem Wachschutz schlagen, mit den Omas selbstverständlich auch. Wenn sie lebendig da rauskommen, erreichen sie das Level VII, das Bundeskanzleramt.
Level VII
Im Kanzleramt, im Turm, im zehnten Stock hinter dem Küchenschrank wird die Junge Seele des Landes in Handschellen festgehalten, beschützt von der mächtigsten Oma des Landes, der Bundeskanzlerin. Herr Spalter und seine Freunde kämpfen sich durch die Stockwerke durch und haben es am Ende mit der Bundeskanzlerin zu tun, einer unglaublich schnellen Oma, die sich unsichtbar machen und Feuer spucken kann. Am Ende finden sie hinter dem Küchenschrank die Junge Seele und befreien sie. Sie stellen fest: Die Junge Seele ist auch eine Oma, aber viel jünger.
Dieser Text ist ein exklusiver Vorabdruck aus dem von Thomas Böhm herausgegebenen Band „New Level. Computerspiele und Literatur“ (Metrolit, 18,90 Euro)