Welcome to the Heartbreak Hotel
Lange bevor sich Cliff Richard mit Jesus anfreundete, Eurovisionsschlager sang und zum Ritter geschlagen wurde, transponierte er mit seinen Shadows amerikanischen Rock'n'Roll in ein britisches Idiom, das dem Beat den Weg ebnete und Britanniens Aufstieg zur Pop-Weltmacht einläutete.
Es war auf einem Parkplatz in Waltham Cross, Hertfordshire, als Harrv Webb vom Blitz getroffen wurde. Aus dem Radio eines geparkten Straßenkreuzers, den er mit ein paar Freunden bestaunte. „Well, since my baby left me“, hörte er eine Stimme singen, die völlig anders klang als alles, was er bis dahin gehört hatte, gefährlich und geheimnisvoll, „down at the end of lonely Street, at heartbreak hotel“. Der Wagen fuhr weg, noch ehe eine Ansage über die Identität des Sängers Auskunft geben konnte. Radio Luxembourg, dem Harry nachts zu lauschen pflegte, gab den Namen schließlich preis: Elvis Presley. „Was für ein fremdartiger Name“, wunderte er sich. Harry war 15. Inzwischen ist er fast 68, heißt Cliff Richard und erinnert sich lebhaft: „I was hooked, instantly. Elvis made it feel fantastically exciting to be alive.“
Aufregend war bis dahin auch sein Leben verlaufen, fantastisch nicht. Die Webbs hatten in Indien gelebt. Dort, in Lucknow, war Harry im Oktober 1940 zur Welt gekommen. Der Krieg wirkte sich nicht direkt auf seine Kindheit aus, wohl aber der rapide Zerfall des British Empire. Die Regierung in London hatte den kolokalisierten Subkontinent per „Home Rule“-Dekret in die Eigenverantwortung entlassen, was zum Bürgerkrieg zwischen Hindus und Moslems führte und den über Jahrzehnte gewachsenen angloindischen Communities jäh den Boden entzog. Gewalttätige Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung, 1948 schifften sich die Webbs in Bombay ein und kehrten zurück in die alte Heimat, hoffnungsvoll, aber mittellos.
Was ihn in England erwartete, so Richard, sei hart gewesen, „a rough life“, habe ihn aber stark gemacht. Womit er nicht den sozialen Absturz der Familie meint, nicht das beengte Hausen von fünf Personen in einem Zimmer, nicht den Verzicht auf jegliche Annehmlichkeiten. Dieses Los teilten die Webbs in den Nachkriegswirren mit vielen anderen Briten. Mehr litt Harry darunter, dass er seine Herkunft nicht verleugnen konnte. Seine Hautfarbe war dunkler als die seiner Mitschüler, er sprach mit Akzent. Was ihn Anfeindungen aussetzte. In der Schule riefen sie ihn Sabu, drangsalierten ihn, lauerten ihm auf. Harry bezog oft Prügel, lernte indes, sich seiner Haut zu wehren und sich Respekt zu verschaffen. Nicht zuletzt durch sportliche Leistungen, beim Fußball oder Speerwerfen. Vor allem als Rugbyspieler war er gefürchtet. „He was an absolute madman on the pitch“, erinnert sich ein Schulfreund, „terribly aggressive.“ Der Sport hatte seinen Zweck erfüllt, den Teenager trieben bald andere Dinge um. Eine Brieffreundin zog Harry 1953 ins Vertrauen: „My ambition is to become a famous singer.“
Fünf Jahre sollte es noch dauern, bis dieser Traum wahr wurde. Dazwischen lag besagte Erweckung durch Elvis, Schuleschwänzen für ein Bill-Haley-Konzert und sechs Monate in der Dick Teague Skiffle Group. „Skiffle war okay“, so Cliff später, „hatte aber keinen Stil, jedenfalls keinen, der zu meiner Tolle und meinen spitzen Schuhen passte.“ Und so gründete Webb eine eigene Gruppe, gemeinsam mit Terry Smart, Ian Samwell und Norman Mitham, alle des Skiffle überdrüssig und erpicht darauf, die Wände wackeln zu lassen. Was die Suche nach einem Übungsraum erschwerte, bei den ersten Auftritten aber für einiges Aufsehen sorgte. Ein zündender Name für die Band war schnell gefunden. The Planets. Nein, doch lieber The Drifters. Harry Webb & The Drifters? Indiskutabel, in einem Pub in Soho blieben nach stundenlangem Ausschlussverfahren schließlich zwei Optionen übrig: Russ Clifford oder Cliff Russard. Anderntags trommelte Harry seine Familie zusammen und teilte ihr mit, dass er fortan Cliff heiße. Cliff Richard.
Cliff Richard & The Drifters bezogen ihr Repertoire von Schallplatten. „Wir gaben unser ganzes Geld für Singles aus“, erklärte lan Samwell, „und weil das nicht viel war, mussten wir darauf achten, keinen Penny an Duplikate zu verschwenden.“ Aus dem gemeinsamen Singles-Pool also bediente man sich, coverte „Get A Job“ von den Silhouettes oder den neuesten Hit von Ricky Nelson. So überzeugend, dass sich die in-crowd in den Coffee Bars und Clubs von Soho besonders enthusiastisch zeigte, wenn Cliffs Quartett aufspielte. Im Szene-Treff „21’s“ ebenso wie im „Heaven And Hell“, ja sogar im „Regal Ballroom“ in Ripley. Als nach einem Gig im „Gaumont Theatre“ in Shepherd’s Bush kreischende Mädchen die Büh-ne stürmten, Cliff das Hemd vom Körper rissen und erst von ihm abließen, als er sich in der Toilette eingeschlossen hatte, war’s vorbei mit dem selbstgenügsamen Dasein als Amateure. „We were clearly on the right track“, so Samwell, „on the verge of something big.“ Was fehlte, war eine eigene Platte. Im Mai kam Jerry Lee Lewis zu einem skandalträchtigen Gastspiel. Die Medien fielen über ihn her, weil er ob seiner 13-jährigen Braut keinerlei Unrechtsbewusstsein an den Tag legte.
Jerry Lees „Breathless“ war denn auch einer der Songs, der zu Demo-Zwecken aufgenommen wurde und in Form eines Acetates auf dem Plattenteller eines Mannes landete, der ein Ohr für Talent hatte und als Hausproduzent des EMI-Labels Columbia auch Macht und Mittel, daraus Musik zu destillieren: Norrie Paramor. Der arrangierte sofort eine Recording-Session. Am 24Juli entstanden zwei Tracks in den Abbey Road Studios. „Schoolboy Crush“, das Cover eines aktuellen US-Hits von Bobby Helms, nicht unflott, aber auch nicht umwerfend. Und „Move It!“, ein Eigengewächs, das sich lan Samwell auf einer Busfahrt hatte einfallen lassen. Da die Drifters keine Studio-Erfahrung mitbrachten, zog Paramor Session-Musiker hinzu. Weshalb es nicht Samwells Lead-Gitarre ist, die „Move It!“ so unwiderstehlich macht, sondern die von Ernie Shears.
In der Folgezeit, während die Hits immer größer wurden und Cliff seinem Start-up-lmage als Elvis-Klon entwuchs, wandelte sich auch die Besetzung der Band. Es waren Hank Marvin, Bruce Welch, Jet Harris und Tony Meehan. die bald als The Shadows jenen Echo-geladenen Sound zauberten, der längst als klassisch gilt und bis heute kopiert wird.