Weitläufiges Landei
Die Buchveröffentlichungen zum 100. Todestag des großen Humoristen und Gesellschaftskritikers Mark Twain
Es hatte wohl niemand auf dem Zettel, dass aus dem ungebildeten Südstaaten-Landei Samuel Langhorne Clemens der nachgerade archetypische US-Schriftsteller Mark Twain werden könnte. Seit seiner Jugend hat Twain immer wieder Käseblätter hinterm Wald mit Artikeln beliefert, doch erst nach einigen Umwegen merkt eine größere Öffentlichkeit auf und beginnt, die Qualitäten dieses einfallsreichen Zeitungsschreibers zu feiern. Man schickt ihn nach Hawaii, und seine zupackenden Reisebriefe von dort (soeben wieder aufgelegt: „Post aus Hawaii“, Mareverlag, 24 Euro) machen ihn landesweit berühmt. Sein darauf folgendes Reportagebuch „Die Arglosen im Ausland“, für das er eine Reisegruppe nach Europa und Palästina begleitet, begründet schließlich seinen Weltruhm.
Mit dem schriftstellerischen Erfolg geht der gesellschaftliche Aufstieg einher. Er heiratet nach langem, geduldigen Werben die Millionärstochter Olivia Langdon und erhält nun Einlass in die gutbürgerlichen Intellektuellenkreise der Ostküste. Aus dem fluchenden, spuckenden, saufenden Haudrauf soll ein soignierter Gentleman werden, so will es seine gottesfürchtige Braut Livy – und der von Alexander Pechmann vorzüglich ausgewählte, übersetzte und instruktiv kommentierte Briefwechsel „Sommerwogen“ (Aufbau, 16,95 Euro) dokumentiert dessen entsagungsvolle Assimilationsleistung. Vor allem aber sind diese Episteln Zeugnisse einer großen, aufrichtigen Liebe. Twain, oft wochen-, monatelang von seiner Frau getrennt, versucht sie mit kleinen Anekdoten zu unterhalten, sie aufzuheitern, sich ihrer Zuneigung zu versichern und zeigt sich noch in diesen oft schnellfertigen Alltagstexten als brillanter Causeur und großer Ironiker. Aber dem Parvenü reicht sein Ruf als brillanter Journalist und Spaßmacher nicht, er versucht als ernstzunehmender Schriftsteller zu reüssieren – und so entsteht schließlich „Tom Sawyers Abenteuer“. Ein mit Selbsterlebtem gesättigtes Panorama seiner Kindheit in Hannibal, Missouri, und zugleich, indem er episodisch so gut wie alle erdenklichen Standardsituationen dieses Lebensabschnitts durchspielt, der paradigmatische Kindheitsroman.
Ein knappes Jahrzehnt später nimmt er den Stoff noch einmal auf. Andreas Nohl hat den mittlerweile kanonischen Doppelpack „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“ (Hanser, 34,90 Euro) neu übersetzt, aber zumindest im zweiten Band „Huckleberry Finns Abenteuer“ wird er dem verbalen Wildwuchs des Autors nicht gerecht. Er versucht das Original zu verbessern, die „mannigfachen Inkonsequenzen der Twainschen Vorlage“ – so klingt unzulässige Übersetzer-Hybris! – „in einen plausiblen Entwicklungszusammenhang zu bringen“. Friedhelm Rathjens Haffmans-Übersetzung von 1997 liest sich da ungleich rabiater, dreckiger und ist einfach näher dran an der radikalen Form. Denn Twain gibt hier die humoristisch erprobte auktoriale Erzählperspektive dran und lässt stattdessen das asoziale Kind Huck Finn selbst die Geschichte erzählen. Ein ganzes Buch in Rollenprosa – noch dazu räudigstem Südstaaten-Slang. Prompt sprachen einige Salon-Feingeister diesem Werk die literarische Qualität ab und riefen zum Schutz der unschuldigen amerikanischen Jugend nach dem Zensor. Die Unflätigkeiten und die ungeschönte, eben wahrhaftige Darstellung krimineller Milieus spielten sicher eine Rolle, das eigentliche Skandalon aber war – so sah es jedenfalls Twain -, dass Huck seinen Freund, den „ausgebüxten Nigger“ Jim, „nicht verraten und dafür sogar zur Hölle fahren will“.
Dass ausgerechnet diesem Buch immer mal wieder der Vorwurf gemacht wurde, es sei rassistisch, ist insofern verwunderlich, erklärt sich aber aus der Figurenzeichnung Jims. Twain macht aus ihm eine ungemein liebenswerte, aber auch komische Figur. Der Subtext des Romans allerdings ist dezidiert antirassistisch. Er dokumentiert die landläufigen Stereotypen des 19. Jahrhunderts, aber auch den langsamen Prozess ihrer Überwindung. Mark Twain schimpfte viel über die liederlichen Franzosen, aber er konnte mit Recht behaupten, dass er „keine Rassenvorurteile habe … Alles, was mich interessiert, ist, ob jemand ein menschliches Wesen ist – das reicht mir schon.“