Watt En Schlick Fest 2022: „Ich hab‘ das so vermisst, ey!“
Das WES-Festival 2022, mit Auftritten von u.a. den Beatsteaks, Danger Dan, Metronomy und Thees Uhlmann & Band
Die Popularität eines Festivals bemisst sich nicht nur durch die Publikumstreue, den von Jahr zu Jahr immer größeren Namen gebuchter Bands oder den Branchen-Auszeichnungen, die es in kontinuierlicher Abfolge erhält. Die Popularität bemisst sich auch nach den Schlangen vor ganz bestimmten Buden. Am Freitag um 15 Uhr beim Watt En Schlick Fest standen die meisten Besucher nicht vor den Bierständen an, auch nicht vor den Fresstheken, vielleicht nicht mal vor einer der vier Bühnen des Dangaster Nordsee-Festivals – sondern vor dem Festival-eigenen Merchandise-Stand. Das Watt En Schlick ist eine Marke, ein wichtiges Event, mit dem sich Einheimische genauso wie die von weit her kommenden Konzertgänger schmücken, indem sie die T-Shirts oder Käppis mit dem charakteristischen WES-Emblem kaufen.
Veranstalter Till Krägeloh hatte im ROLLING-STONE-Interview 2017 schon von seiner Hoffnung gesprochen, das WES würde sich irgendwann zum „Montreux des Nordens“ entwickeln. Sein Team und er kommen der Sache, wie dieses Jahr am Wochenende vom 29.-31. Juli, immer näher. Direkt am Wattenmeer gelegen, treten in Dangast bei Varel Bands, Solokünstler und Autoren vor einem altehrwürdigen Kurhaus am Wattenmeer auf, unter einer Promenade, deren gebotener Ausblick zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon die Brücke-Maler inspirierte; die prägenden Musikrichtungen in diesem Jahr waren Fusion, Soul, HipHop, Pop-Jazz, Punk und Rock. Von der ersten Reihe der Hauptbühne bis zum knietiefen Eintauchen im Schlick, vorbei an der Steinstatue eines erigierten Penis, sind es keine 200 Meter. Man kann, mit Nordseeschlamm bedeckt, Danger Dan über die Lust am Ausbruch aus der Alltagsroutine singen hören. Die Idee, Kunst und Natur im Einklang miteinander zu verbinden, vollendet sich hier.
Am Freitag um 16 Uhr gehört die Crucchi Gang zu einem der ersten Acts. Die Berliner bespielen die große Bühne, mit Blick über die ostfriesische Halbinsel des Jadebusens und auf die wahrscheinlich eifersüchtigen Wilhelmshavener am viele Kilometer entfernt gegenüberliegenden Strand, die über die Meeresbucht beobachten, was die Leute in Dangast so treiben. Die Crucchi Gang ist eine Allstar-Band, zu der Tobias Bamborschke von Isolation Berlin, Von-Wegen-Lisbeth-Sänger Matthias Rohde, das Zürcher Duo Steiner & Madlaina, Tristan Brusch sowie Francesco Wilking von Die Höchste Eisenbahn gehören. Begleitet werden sie von einem 12-köpfigen Bläser- und Streicherensemble. Die frühen Tagesauftritte beim WES sind stets delikat, gut ausgesucht, und sie setzen Zeichen; 2021 mit den Leoniden, und in diesem Jahr nun also mit der Crucchi Gang. Sommer, Sunshine Reggae. Die Crucchi Gang übersetzt deutsche Songs ins Italienische, kreiert Italo-Disco und Italo-Pop, der trotz oder gerade wegen des Dangaster Miesewetters am Freitag Euphorie erzeugt. Eine Righeira-artige Version des „Goldenen Reiters“ vereint NDW, Römer-Schmelz und Gelato-Feeling.
Die Paletten-Bühne hat sich seinen Ruf als toughe Bühne des Festivals hart erarbeitet. Sie ist die kleinste der vier, aber wer sich hier vor den Holzplanken versammelt, der schaut nicht zufällig vorbei. Die Newcomerband The Lounge Society aus der britischen Grafschaft West Yorkshire bietet genau die richtige Mischung aus schlechter Ernährung, hochgezogenen Schultern, dem Post-Punk-Minimalismus von Television und „Lager“-mäßigem Ibiza-Gebell eines Shaun Ryders. Vier Jungs mit Paisley-Hemden und Oberlippenflaum, jeder Songs mit dem Weltuntergangs-Ernst der Heranwachsenden vorgetragen, und eine echte Entdeckung.
Nicht ganz so schick angezogen kommen Shame daher, aber das gehört zum Konzept der Punk-Musiker, die immer so schön schluffig wirken, als kämen sie mit den Klamotten, die sie sich morgens überstülpen, am Abend halt auf die Bühne. Seit ihrem Debüt „Songs of Praise“ von 2018 werden die South Londoner, gemeinsam mit Idles und Fountains, D.C., zur „neuen Hoffnung des Punk“ erklärt. Sie sehen auch wirklich schrecklich aus, sind also wirklich gut, und es ist eine bizarre, geradezu kontraintuitive Begebenheit, dass ausgerechnet eine Punk-Band mit dreißig Minuten Verspätung auftritt, weil sie beim Soundcheck als Perfektionisten in Erscheinung treten. „Dies ist das erste Mal, dass wir diesen Sommer an einem Strand auftreten!“, ruft Sänger Charlie Steen, der im gleichen Atemzug vermeldet, dass die dritte Platte seiner Band fertig aufgenommen sei. Die WES-Veranstalter werden sich den Shame-Auftritt genau angesehen haben; dies war einer der ersten Beweise dafür, dass auch extrem aggressive, nihilistische Musik auf der großen Bühne funktioniert; der Jubel des Publikums war in diesem Jahr selten lauter als hier. Steen hat die „Soll das alles sein?“-Aufforderungsgeste des Hools verinnerlicht, fährt beide Hände mit offenen Handflächen und in der Senkrechten nach oben, die Dezibels sollen steigen, es ist ihm noch nicht laut genug.
Kein Watt-En-Schlick-Festival ohne einen (oder zwei) der Leute von Studio Braun. Rocko Schamoni fehlt in diesem Jahr. Aber sowohl Heinz Strunk (mit einer Lesung), als auch Jaques Palminger sind vor Ort. Palmingers Trio The Kings of Dubrock setzt auf eine Melange aus Publikumsbeschimpfung und Fantastica Melodica. „Wir werden für euch das Wort ‚Dub‘ buchstabieren!“, verspricht Palminger und setzt die Latte bewusst tief. Die Band singt von „Playa Paranoia“, überträgt Pop-Hits mit leichten Variationen ins Deutsche („Ich bin alle Männer“) und fordert: „Fick Dich, Henry Maske!“. Wie müssen Palminger, Keyboarderin und Sängerin Rica Blunck und der Rhythmus-DJ Viktor Marek wohl auf Leute wirken, die kein Deutsch können? Nicht alles, was die Kings of Dubrock spielen, wirkt wie Komödie und Kleinkunst, und das soll es wohl auch nicht. Palminger spielt den sarkastischen Hassprediger, aber seine aufrichtige Liebe gilt tatsächlich den alten Märchen, das kann er nicht verbergen. „Ich kann wieder zaubern“, ruft er und redet sehr viel über Pinocchio. Dem Juwel seiner Diskografie, dem Fraktus-Stück „Mary Poppins“, kommt das doch recht nah. Aber bitte, lieber Jaques: Die Stadt, zu der Dangast gehört, heißt Varel, nicht, wie von Dir ausgesprochen: „Warrell“.
Kurz nach den „Kings“ stellt Betterov auf der Floß-Bühne, die in diesem Jahr nicht mehr im Wasser schwimmt, ein weiteres Mal die Qualität dieser Bretter unter Beweis. Die Anlage ist extrem laut, aber extrem differenziert im Klang. Schall powert die wenige Meter gegenüber liegende Promenadenwand an, die Promenadenwand powert zurück. Das Floß ist also genau das Richtige für die Gefühlsarbeitsmusik des Berliner Indierock-Musikers, und ein harter Kontrast zum Soul Curtis Hardings. Der US-Amerikaner präsentiert auf der großen Bühne die Songs seines aktuellen Albums „If Words Were Flowers“, die in ihren besten Momenten an den anderen Curtis des Soul, Curtis Mayfield, erinnerte.
Den Freitagabend beschließt Danger Dan, der im Vorjahr mit seiner Antilopen Gang schon in Dangast auftrat. Ein Keyboard steht allein auf der Bühne, ein Streichquartett gab beim Soundcheck bereits die Richtung vor: Dies wird ein Ausklang der ruhigeren Art, ein Headliner mit Piano-Set. „Mein Name ist Daniel!“, sagt Danger Dan und spielt „Lauf davon“, ein Stück über den Eskapismus, der gerade dann wichtig sei, wenn man glaubt, alles und immer mehr erreicht zu haben. Daniel Pongratz, wie Danger Dan bürgerlich heißt, meistert die Herausforderung, Straßenweisheiten nicht schulmeisterlich klingen zu lassen, außerdem ist er ein passabler Pianist. Nur gelegentlich wird er zum Klaus und Klaus, wenn seine Call-and-response-Ideen ins Schunkelige abdriften. Während der Pandemie seien ihm bestimmte Erkenntnisse gekommen, sagt er, zum Beispiel dass die Leute alle scharf wurden auf Klopapier und Nudeln. „Ich singe ‚Nudeln‘, ihr ‚Klopapier’“, wünscht er sich nun vom Publikum. Ein schräges Zusammenspiel, das nach Meinung der mitklatschenden Zuschauer jedoch funktioniert.
Der Samstagmittag beginnt mit einer klaren Forderung: „Ich will doch nur einen Orgasmus haben!“, ruft Cäthe von der La-Mer-Bühne. Die Berliner Sängerin hat in diesem Jahr mit „Chill Out Punk“ ihr erstes Album seit sieben Jahren veröffentlicht; sie klingt nun etwas elektronischer, was auch an der Kooperation mit ihrem neuen musikalischen Partner Andi Fins liegen könnte, mit dem sie die Bühne teilt. Ein Avantgarde-Popper an den Tasteninstrumenten, der die Eleganz von Phoenix mit der Dringlichkeit von Metronomy verbindet. Ein überzeugendes Duo. „Ich feier‘ ’ne Party mit der Angst, Party mit der Angst“, singt Cäthe. Aber sie strahlt.
Der Samstagnachmittag steht im Zeichen eines kurzen Gewitters, das zur Evakuierung des Geländes führt. Viele verbringen die nasse Wartezeit im Kurhaus bei Kaffee und Kuchen, aber als die ersten Sonnenstrahlen zurückkehren, macht sich auch schon der Alan Rickman unter den Gitarristen, der Mike Krüger der Podcaster, Olli Schulz, an die Arbeit. „Wir haben derbe Verstärker dabei, wir sind lauter“, verspricht der einstige Hamburger Roadie Schulz, in Anspielung auf die Konkurrenzbeschallung von den Bühnen links und rechts – durch die Festivalunterbrechung von einer Stunde treten alle Acts nun zeitlich etwas dichter, paralleler auf. Schulz‘ Lieder erscheinen manchmal subversiv, so wie Musik, über die er sich selbst lustig machen würde, im Stil etwa eines Johannes Oerding; seine Stärke liegt also in den Momenten zwischen den Songs, in denen er echte Schlagfertigkeit beweist (der Witz mit dem „Pferdepapa“). Sein 18-Uhr-Auftritt ist neben dem der Beatsteaks am Sonntag der wohl meistgefeierte des Watt En Schlicks, einige Stücke werden erkannt, und in Schulz‘ vorderen Zuschauerreihen, das hat sich in den vergangenen 20 Jahren nicht geändert, stehen vor allem weibliche Fans. „Wenn es gut ist, wird es schön sein“ wird geliebt, und der 48-Jährige zieht alle Register: Spagat, Russenrapper-Hocke sowie die aus seinen Sendungen bekannten Rants des Kleinen Mannes im Schnellfeuer-Tempo. „Bin gerade in so ner Phase, wo mich kaum einer versteht“, sagt er, oder „Quatsch zu erzählen ist mein Elixier“, oder „Ich hab‘ das so vermisst, ey!“. Schulz verkörpert die echte Hamburger Schule, auch, wenn er nicht dazugehört; was er macht, kann man nicht lernen, man muss so aufgewachsen sein. Er wirkt wie ein Mensch, der über sich hinauswachsen durfte. Oder, wie ein berauschter Hörer beim Pinkeln zu seinem Freund sagt: „einfach authentisch, der Mann.“
Noga Erez tritt nach Schulz auf der großen Bühne auf. Die israelische Elektro-Rapperin wirkt engagiert, hört von links aber auch die harten Klänge von der La-Mer-Bühne. „Das weckt den Wettbewerbsinstinkt in mir“, sagt sie. „Lasst uns lauter sein als sie!“. Der Preis für das lauteste Konzert geht aber womöglich an Blood Red Shoes. Das Garagerock-Duo aus Brighton steht in der Tradition jener Zweier-Bands mit Farben im Namen, also den White Stripes und den Black Keys. Laura-Mary Carter und Steven Ansell haben mit „Ghosts On Tape“ unlängst ihre sechste Platte veröffentlicht, und wie bei vielen anderen Acts des diesjährigen WES kommt das Publikum in den Genuss eines Soundchecks vorab. „Bist Du sicher, dass meine Haare laut genug sind?“, ruft Drummer Ansell seinem Tontechniker entgegen, womöglich eine Anspielung auf dessen übertriebenem Perfektionismus, irgendwann soll es ja schließlich losgehen mit dem Auftritt. Der Tontechniker kontert: „ich bin versucht, dich nun von der Bühne gehen zu lassen – wirst Du sie denn wieder betreten?“. Das anschließende Lärminferno der Blood Red Shoes wird bis zur Hauptbühne zu hören sein.
Am Sonntag wird deutlich, dass dieses Festival dringend besseres Wetter verdient. Wie schon im vergangenen Jahr regnet es einen ganzen Tag lang in einer Tour. Es tut einem besonders für diejenigen leid, die von weit angereist kommen – der August am Jadebusen ist normalerweise sonniger, und der Glastonbury-Matsch nervt gehörig. Auf dem Floß stellen sich Kid Simius & Bonaparte dem Gepiesel. Die beiden scheinen wie füreinander geschaffen. Bonaparte-Sänger Tobias Jundt an der Gitarre und Simius-Musiker José Antonio García Soler am Turntable kreieren eine Art Elektro-Sturm-Rock der Ekstase; Jundt wirkt wie eine Schamanenmischung aus Kevin Shields, Jim-Cavietzel-Jesus und Charles Manson, der in Zungen redet. Er wischt sich Schlick ins Gesicht, alles wird zu langen Haaren, Bart und Matsch, und bellt den regenverhangenen Himmel an, als würde er rufen: Petrus, ist das alles? Vor ihm die Zuschauer versunken im Watt, das Wetter peitscht einem ins Gesicht, so müssen sich die Wikinger im „Northman“ gefühlt haben.
Thees Uhlmann, „der Kumpeltyp“. Er kommt rüber wie jemand, der aus Dangast stammt, Hemmoor ist auch gar nicht so weit weg, und er sagt, dass er es noch immer bereue, in Berlin statt hier zu leben. Er und seine Band bringen die Hits, „Danke für die Angst“ und „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“, und Uhlmann hält ein Loblied auf die Schriftstellerin Ronja von Rönne, die am Nachmittag ihre Lesung hatte: „Bleib weiter so toll, zieh das durch, Diggi!“. Die Umgebung scheint Uhlmann zu inspirieren, er erzählt viel aus seinem Leben, auch, wie herausfordernd es sein kann, eine Tochter zu haben und Slayer-Fan zu sein, wobei das Leben ab 40 dann doch immer besser werde. Er hält ein Sport-Shirt hoch, das die Größe eines Badehandtuchs hat, vom Baseballteam Detroit Tigers. Sein Onkel Walter und seine Tante Gail seien extra aus Detroit angereist, um ihren Neffen das erste Mal in ihrem Leben auf einer Bühne zu sehen. Uhlmann berichtet von seiner Teenagerzeit, von Verwandtschaftsbesuchen, vor denen er sich gesträubt hat. Und wie überrascht er dann doch war: „Das erste Mal, dass jemand, der mein Blut in sich trägt, nett zu mir ist.“ Vielleicht der schönste Satz, den ein Musiker in diesem Jahr hier gesagt hat.
Die Beatsteaks treten auf der großen Bühne als vorletzte Band auf, nach ihnen kommen noch Metronomy. Aber sie sind die eigentlichen Headliner, das wird schon in den ersten Sekunden spürbar. „Peter, alles gut?“, ruft Arnim Teutoburg-Weiß seinem Gitarristen zu, die Band hatte keinen Soundcheck machen können – und legt sofort los. So kann es halt auch gehen, anders als bei vielen Gruppen, die vor ihrem Auftritt noch ewig am Klang frickelten. Mehr Spaß als bei Rock am Ring!“, ruft Teutoburg-Weiß, der Mann mit den wechselnden Ballermann-Kopfbekleidungen. Er ist auch der Mann, bei dessen Konzerten selbst Kinder – sicher – stagediven, und der Mann, der den Stagedivern, sofern sie an ihm vorbeigleiten, die Schuhe zubindet. Ein Showman, der sich durch das Publikum bis zur Deichtribüne durchkämpft, um dann von ganz oben einen Hechtsprung ins Publikum zu machen – einen Hechtsprung mit Salto (Hand auf dem Kopf, damit der Hut drauf bleibt). Die Band spielt das mit Dirk von Lowtzow erarbeitete Stereolab-Cover „French Disko“, zitiert dann den besten Song von Rage against the Machine und verbaut Bassläufe aus dem besten Song von Faith No More. Die Beatsteaks werden für zwei Zugaben zurückgeholt.
„Kinder habt ihr euch das so vorgestellt?“, fragt Teutoburg-Weiß. Ja, geht nicht besser.