„Watt En Schlick – Fest“: 12 Highlights
Als „Modellprojekt Niedersachsen“ fand das „Watt En Schlick Fest“ in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen statt. Es scheint ein Erfolg zu sein: Getestet werden mussten alle, dafür feierten auch alle ohne Maske – und das WES wurde kein Superspreader Event. 12 Erkenntnisse vom diesjährigen Festival.
01. Vor dem Eintritt testen: kein Problem. Vier Teststellen haben die „WES“-Macher rund ums Gelände am Kurhaus-Strand von Dangast aufgebaut und über zusätzliche Zentren in der nächstgelegenen Stadt, Varel, informiert. Bei bis zu 6.000 Besuchern kann es natürlich bis zu 6.000 verschiedene Corona-Test-Erfahrungen geben, aber zumindest der Autor dieser Zeilen kann berichten: reibungslose Geschichte, das Testen! Stäbchen in die Nase, 15 Minuten später ist Ergebnis da, dann durch den Security-Check und drauf auf’s Masken-freie Festival. Das Feeling ist tatsächlich wie vor der Pandemie. Und das Watt ist derart dicht bevölkert, dass das sonst ins Auge springende Wahrzeichen des Strands, der erigierte, drei Meter hohe Steinpenis, kaum noch auffällt. Und: Bis Dienstag keine Meldung, dass das WES zum Superspreader-Event geworden ist.
02. „Seid ihr gut drauf?“ bleibt auch in der Corona-Ära die Publikumsbegrüßung der Wahl. Dargebracht unter anderem von Leoniden-Sänger Jakob Amr. Klingt selbstverständlich? Ist es aber nicht. Denkbar wäre auch ein „Seid ihr alle gesund?“ gewesen, das fortan die Kommunikation mit den Zuschauern prägt. „Das ist kein Livestream“, sagt Danger Dan von der Antilopen Gang. „Das sind echte Menschen!“ Uns hat’s auch gefehlt.
03. Bestialisches Wetter haut hier niemanden um. Ehrlich, das Wetter war zum Teil schlimm, selbst für friesisches Wetter schlimm. Einmal hat’s sogar gehagelt. Platzregen deluxe, der den Schlick-Strand plus dazugehörige Wiesen zum Glastonbury-2-Festival machten. Positiv betrachtet, waren die Verhältnisse isländisch – Wetterumschwünge gibt es häufig, was zum Glück aber auch bedeutet, dass es tolle Sonnenstunden und am Sonntag sogar einen kleinen Sonnenuntergang am Jadebusen zu bestaunen gab.
04. Viele Friesen im Publikum. Die Einheimischen lieben das WES, und sie lieben ihre Heimat. Und sie heben niemanden einfach so aufs Podest. Deshalb hauen sie auch gegenüber internationalen Künstlern ihre Sprüche raus. Die Rikas aus Stuttgart (und eine gute, an Phoenix erinnernde Pop-Band) eröffneten am Freitagnachmittag das Festival und konnten vom Anblick des Strands – von der Bühne bis zum Wasser sind es vielleicht 40 Meter – nicht genug kriegen. Antwort aus dem Publikum: „Jau, wart mal ab, bis hier das Hochwasser steht, ne.“ Und es stimmt: Noch am Vorabend kam die Flut bis an die Kurhaus-Mauer ran. Wer da im Sand stand, war nass. Auch Casper Clausen, Kopf der dänischen Indierock-Band Efterklang, konnte von kurzen Wegen kaum genug kriegen: „You can simply walk into the water!“ schwärmte der Mann, lenkte sich selbst von seinen Liedern ab, während er doch in sein Mikro in Form einer Hornhautraspel singen sollte.
05. Richtige Bühnen sind halt doch besser als Strandkörbe. Von Wegen Lisbeth, Headliner am Samstagabend, kriegen sich nicht mehr ein. „Wir haben letzte Woche ein paar Picknickkonzerte gespielt, aber das hier toppt alles“, jubelt Sänger Matthias Rohde. „War das ein Ansatz von einem Moshpit, das ich da gerade gesehen habe? Wenn ja, sehr gut. Und alles fühlt sich gerade sehr gut an.“ Songs waren aber auch gut. Publikum feierte Zeilen wie „Warum ist die AfD noch da, obwohl ich heute beim Yoga war.“
06. Das Floß bleibt die, nun ja, eigensinnigste Bühne. Das Floß schwimmt auf Fässern und ist mit Tauen am Strand befestigt. Es wackelt, mal mehr, mal weniger, je nach Windlage. Ilgen-Nur hatte am Samstagnachmittag mit ordentlich Föhn zu kämpfen, und die Musik blieb deshalb etwas dumpf. Niels Frevert und Band spielten am Sonntagabend in nahezu völliger Wetterstille – und mit dem besten Sound, den das WES auf irgendeiner Bühne in diesem Jahr zu bieten hatte. Schräg! „Bin ich der Einzige, der sich fragt, wie man hier runterkommt?“, fragte Frevert. Der lange, aufs Floß führende Steg stand da schon fast unter Wasser. Er trat zur Flut auf. AnnenMayKantereit, einen Tag vor Frevert dran, nahmen’s sportlich: „Wir schwimmen dann mit dem Floß auch wieder weg.“
07. Gerade Secret Acts bieten Aussagen über die Qualität von Festivals. AnnenMayKantereit waren solch ein Secret Act. Gebucht wurden sie für den Freitagnachmittag fürs Floß. Dabei hätten die Kölner, eine der gefeiertsten deutschen Bands der letzten fünf Jahre, auch die Hauptbühne bespielen können. Spricht für sie, dass sie sich aufs Floß zwängten. Erstes Gedränge im Watt, solider Gig bei böiger Tide. Zweiter Secret Act, diesmal auf der großen Bühne und am Samstagnachmittag, waren Provinz aus der Provinz, dem oberschwäbischen Vogt. Ihr Album „Wir bauten uns Amerika“ schaffte es in die Top 5 der deutschen Alben-Charts, und Sänger Vincent Waizenegger nutzte einen Spruch, den er vielleicht nicht zum ersten Mal live gebracht hat, aber in Dangast natürlich für Jubel sorgte: „Wer von euch kommt aus der Provinz?“
08. Die Höchste Eisenbahn. Eine der besten Live-Bands beim WES spielte am Freitagnachmittag. Jogi Löw ist ja gerade arbeitslos, was wäre das schön, würde der Bundestrainer nur einmal, wenigstens einmal diese Gruppe ansagen, würde man in diesem Kontext wenigstens einmal das Wort „Höchste“ aus seinem Mund hören.
09. Aber keine Missverständnisse: Das „WES“ war in diesem Jahr ein Festival der Frauen. Ilgen-Nur besiegte auf dem schaukelnden Floß den Wind, Kat Frankie hielt auf der neuen – dachlosen – Bühne „La Mer“ das Publikum trotz massivem Regen in ihrem Bann, Ex-Schnipo-Schranke-Sängerin Fritzi Ernst stellte auf der kleinsten Bühne, der „Palette“, Songs ihres Solodebüts „Keine Termine“ vor (brachte aber auch den früheren Hit „Cluburlaub“), und mit Lisa Simone stand eine Größe auf den „La Mer“-Brettern: Der Name verpflichtet, die Tochter von Nina Simone trat mit ihrer Jazzband schon auf dem Montreux Festival auf, in der New Yorker Carnegie Hall und im Sidney Opera House.
10. Apropos „La Mer“. Gute, neue Bühne, auf dem Campingplatz am Dangaster Hafen. Eine Balkenkonstruktion aus hellem Holz, ohne Dach, an allen Seiten offen und damit luftdurchlässig. Sie erinnert ein wenig an eine heidnische Kirche, sofern das kein Widerspruch in sich ist, ein Ort, an dem auch verrückte Rituale vollzogen werden könnten, Versammlungsort mit Ari-Aster-„Midsommar“-artiger Aura. Also im positiven Sinne.
11. Am Ende des Festivals, kurz vor dem abschließenden Auftritt von Milky Chance, kam Festival-Chef Till Krägeloh auf die Bühne, um sich zu bedanken, bei Publikum wie Bands. Dieses Jahr fiel die Ansprache natürlich deutlich anders aus. Nach der Corona-Zwangspause 2020 wurde das „Watt En Schlick“ unter strengen Auflagen gestattet. Es ist Krägeloh anzumerken, dass ihm zum Schluss des dreitägigen Festivals ein Stein vom Herzen zu fallen scheint, weil alles funktioniert hat. Er bedankt sich für das Vertrauen. Und er bedankt sich bei den Leuten, die man auf und vor der Bühne nicht sieht – die Leute im Hintergrund, die in den Zelten am Eingang arbeiten. „Ich möchte den Testzentren danken.“ Ein Satz, den noch vor zwei Jahren, im WES-Sommer 2019, niemand verstanden hätte. Man hätte jedem, der das von einer Bühne ruft, erstmal den Vogel gezeigt. Von nun an könnte „Ich möchte den Testzentren danken“ einer derjenigen Sätze sein, den Festivalleiter am häufigsten sagen.
12. Bleibt dabei: Die Bedeutung des „Watt En Schlick Fest“ für die Region könnte genauso wenig überschätzt werden, wie die Arbeit der Festival-Leitung und der Kurhaus-Besitzer, die das Areal stellen. Seit 2014, seit dem ersten „Fest“, kommt wieder Musik-Leben nach Friesland. Der Besuch von Bands solcher Größenordnungen, aber auch derart gut ausgesuchten Newcomern waren zuvor undenkbar. Es gibt etliche Künstler, die betonen, dass sie an einem solch schönen Ort noch nie gespielt hätten. Alles gut fürs Image, letztlich auch für den Tourismus des Kurorts am Jadebusen. Der Vorverkauf für das WES 2022 hat begonnen.