Watt En Schlick 2018: Sturm und Drang am Strand

Das „Watt En Schlick“-Festival im friesischen Dangast präsentierte sich 2018 von seiner besten Seite. So bunt wie nie, so groß wie nie – und, für die Region nicht selbstverständlich, so warm wie nie.

30 Meter sind es von der Hauptbühne bis zum Strand. Eine halbe Minute zu Fuß durch den Sand. Wer sich ins Wasser stürzt, oder eben – abhängig von den Gezeiten –, in den Schlick, der hat von dort noch immer einen guten Blick auf das Geschehen. Musiker sehen, Töne hören, während man selber plantscht oder matscht.

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„Wir haben das schönste Festivalgelände im Land“, werden die Watt-En-Schlick-Macher, nicht erst seit dem Gewinn des Festivalpreises „Helga“ im vergangenen Jahr, oft zitiert. Einen noch schöneren Blick als die Zuschauer auf den Sonnenuntergang über dem Jadebusen haben wohl nur die Künstler selber – die blicken frontal dort in den Himmel, wo die Sonne am Abend langsam am sehr breiten Horizont entschwindet.

Das kann auch Tocotronic, Headliner am Sonntag, letzte Band des Festivals, nicht kalt lassen. Die Musiker präsentieren Songs ihres aktuellen Albums „Die Unendlichkeit“ dem Plattencover entsprechend vor einer schwarzen Leinwand voller weißer, Pop-Art-artig gerundeter Sterne. Was unfreiwillig komisch ist. Denn eben diese Sterne, sinnbildlich für die den Menschen quälende Gleichgültigkeit des Universums, haben dem Sonnenuntergang, der Schönheit der Natur, dem Gedanken, dass es eine schöpferische Natur geben muss, wenig entgegenzusetzen. Die Dangaster Kulisse bezwingt das Konzept der Tocs.

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Für Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail kein Problem – warum auch! Sichtlich angetan von der Röte des Himmels und angefeuert nicht nur von den Fans, sondern auch von den etlichen erleichterten Festival-Helfern und Veranstaltern, die sich kurz zuvor auf der Bühne vom Publikum und deren „WATT-EN-SCHLICK“-Kampfrufen feiern ließen, gelingt ihnen ein mitreißendes und gelegentlich auch sehr lustiges Set. Von Lowtzow macht wieder den Cthulhu plus Abdul Alhazred, reimt „Electric Guitar“ auf „Inshalla“; mit „Dank-ast“ erfindet er ein Dankeschön-Wortspiel, das der Vareler Tourismusbehörde bislang noch nicht eingefallen ist.

„Watt En Schlick“, sagt von Lowtzow und blickt in Richtung wasserfreien Meeresboden, „man muss es wohl so sagen!“ – da ist er wieder, der alte, Tocotronic-typische Gedanke der 1990er-Jahre, dass manches gesagt werden muss, auch wenn man es nicht möchte. „This Boy Is Tocotronic“ bleibt, auch an diesem Abend, ihr bestes Lied, und „Aber hier leben, nein Danke“ wird, in der heutigen Zeit mehr und mehr, zum mahnenden Wort des Propheten. „Sag alles ab“: Lowtzow intoniert es bellender und keuchender denn je, er klingt dann wie das Nicht-Vorbild Til Schweiger, wenn der den Tschiller rausholt.

Sassan Niasseri

Geburtstagssause mit Drangsal

Drangsal
Drangsal

Noch vor dem ersten Lied darf Max Gruber ein Ständchen genießen – schließlich hat der Frontmann das erste Vierteljahrhundert seines Lebens überstanden und will dies mit einem dementsprechend euphorischen Konzert zelebrieren. Statt des herkömmlichen Bühnenbilds haben Drangsal die Zeltbühne mit Happy-Birthday-Girlanden und Blumensträußen dekoriert. Das Geburtstagskind verspricht Kuchen und Sekt, „den bekommt ihr, wenn ihr lieb seid“.

Die Max-Gruber-Pop-Show schafft es weiterhin, allerlei Genres miteinander zu vermischen und sie teilweise auch zu karikieren: Der theatralische Sänger erzählt von seinen mehr oder weniger ernsten Plänen, im Frühjahr zum Eurovision Song Contest zu fahren „und das Ding nach Hause zu holen“.

Dazu eignet sich vielleicht „Turmbau zu Babel“, ein Gemisch aus Post-Punk und Schlager mit klugem Text. Die Lyrics sind auf dem zweiten Album noch durchdachter und überzeugen mit Liedern über die Zerrissenheit wie etwa „Und Du?“.

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Das Publikum ist recht verhalten: Wo normalerweise bei Drangsal-Konzerten Moshpits entstehen – also spätestens beim dem poetischen „Will ich nur dich“ –, wird in Dangast ruhig abgewartet. Am Ende begeistert die Band mit einem Cover von Klaus Lages „Tausend Mal Berührt“, wobei alle Anwesenden den Refrain mitgrölen und einige auch pogen. Nach einem instrumentell gedehnten „Weiter nicht“ versucht Max Gruber mit etwas Theatralik und Gruppenzwang eine Zugabe zu erzwingen – aber nicht einmal ein 25. Jubiläum lässt die Veranstalter weich werden.

Trotzdem die Bilanz: „Der schönste Geburtstag, den ich je hatte“.

Alena Struzh

Erobique: Der Disco-Zirkus

Krönendes Highlight eigentlich jedes Festivals ist ein Set von Carsten Meyer alias Erobique. Während der DJ noch Soundcheck macht, ist das Zirkuszelt bereits komplett voll, einige müssen sich damit zufrieden geben, draußen zu tanzen.

„Ich spiele jetzt ein Lied, das ich immer spiele, wenn grade nichts klappt“, erklärt der Mann hinter dem Pult nach einigen von Soundproblemen geplagten Songs und stimmt den kleinen Hit „Easy“ an, die Menge jubelt, wenig später wird die „Endorphinmaschine“ angeschmissen. Während ein Zuschauer sich im Stagediving versucht, sagt Erobique ganz vernünftig: „Was machst du da für einen Quatsch?“

Die Mischung aus einer simplen rhythmischen Grundlage, 80er Samples, instrumentaler Improvisation und selbstironischen, spontanen Texten mit Witz macht den Disco-Zirkus für alle zugänglich. Es ist auch die einzige Musik des Abends, die für alle tanzbar ist (außer man hat vorher schon mit Hayiti zu CloudRap gehüpft). Immer wieder kehren melodische Elemente wieder, doch wandelt der Klangkünstler sie immer wieder ab.

Erobique fühlt sich sichtbar wohl, gibt allen das Gefühl, spätestens jetzt, Freitagnachts, auf dem Festival angekommen zu sein. Für das Watt En Schlick dichtet der Witz-Lyriker ein spontanes Liedchen zum „Urlaub an der Nordsee“, den hier alle gemeinsam feiern.

Das große Highlight „Urlaub in Italien“ kann schließlich nicht zu lange dauern – so wie auch dieser unglaublich sonnige Urlaub an der Nordsee am liebsten niemals aufhören sollte.

Alena Struzh

Haiyti: Noch kurz die Verhältnisse klären

Shootingstar Haiyti
Shootingstar Haiyti

„Seid ihr am Leben? Okay jetzt bin ich auch wach“, schreit Haiyti knappe 30 Minuten, nachdem sie die Bühne betreten hat. Mit dem vergangenen Lied hat sie die Mehrheit des Publikums kurz zum Springen gebracht, jedoch spaltet ihr Set die Zuschauer überwiegend.

Während die 25-Jährige mit eingängigen Trap-Elementen und offensivem Autotune die Dekadenz besingt, bilden sich im Publikum drei Lager: Die älteren Zuschauer runzeln die Stirn und verstehen nicht, wieso Haiyti den Headlinerspot des Freitags bespielen darf.

Ein anderer Teil hat scheinbar einen Pakt mit der Hamburgerin geschlossen: dass das Set pure Ironie sei und man mit belächelndem Gesichtsausdruck mithüpft.

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Die dritte Fraktion einiger Jugendlicher singt den Text aber sehr ernsthaft mit und badet sich in Liedern wie „Berghain“, Mafioso“, oder „Sunny Driveby“, das Smartphone in die Luft haltend.

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Haiyti bearbeitet die Grenze zwischen der ernsthaften Prollo-Angeberhaltung vieler ihrer männlichen Kollegen und der verzerrten Ironie. Man könnte anhand ihres Auftritts eine Debatte über Image führen, oder über Sexismus – Cloudrap ist ein noch männlicheres Genre im HipHop, Haiyiti singt währenddessen von „Bitches“, aber wieso sollte man? Die Künstlerin muss „noch kurz die Verhältnisse klären“ und ihr zweifelndes Publikum außerhalb des Internets von sich überzeugen. Da bleibt wenig Zeit für einen Diskurs über ihre Dramaturgie, oder die Frauenfeindlichkeit in der Szene.

„Wo sind die ganzen Punks bloß?“, fragt die Rapperin irgendwann zwischen mantrahaften Wiederholungen des Festivalnamens und schmeißt damit eine wichtige Erkenntnis in den Raum: Das ist sie, die neue, wiedergeborene Form von Punk. Sie ist genauso ungehorsam und unkonventionell wie in den 70ern. Verfechter der durchdachten Popkultur werden sich an diese Art der Musik gewöhnen beziehungsweise anpassen müssen.

Haiytis Cloudrap mag fragwürdig sein. Die „Trap-Queen der Reeperbahn“, wie sie von ihrem DJ nach knapp 50 Minuten verabschiedet wird, beweist aber mit ihrem Auftritt und der Tatsache, dass sie den Echo-Kritikerpreis gewonnen hat: Ihre Musik, die zunächst nur in einem sehr engen HipHop-Milieu funktioniert hat, breitet sich aus.

Alena Struzh

Parcels: Daft Punks fröhliche Neffen

Parcels schaffen es ganz entspannt mit ihrem Funk-Pop, die Zuschauer zu begeistern. Nach ihrem letztjährigen umjubelten Zeltbühnen-Auftritt wurden die Australier prompt erneut eingeladen und auf die Hauptbühne befördert.

Das bekommt der Band sehr gut: Die Sonne scheint auf die silbernen Vorhänge, die als Bühnenbild aufgehängt wurden, knallbunte Lichtelemente geben dem Strandkonzert die irrwitzige Atmosphäre eines Schulballs. Nach einigen Liedern gestehen die Männer in Schlaghosen und Sakkos, dass die Reflektion doch sehr blende, machen aber mit einem Lächeln weiter. Hat einer der Mitglieder grade nichts zu tun, tanzt er mit Triangel oder Aperol Spritz in der Hand ganz theatralisch am Rande der Bühne.

Die Inszenierung könnte schnell kippen, da das Quintett aussieht wie aus einer anderen Zeit gefallen – Sänger Jules Crommelin sieht aus wie ein junger George Harrison –, doch dieses Kokettieren mit der Gegenwart und der Vergangenheit macht Lieder wie „Gamesofluck“ und „Older“ zu zeitlosen Goldstücken.

Zwar haben Parcels, Australier mit Wahlheimat Berlin, nur eine Handvoll Songs draußen, weil diese aber ganz dem Funk zugeschrieben sind, können sie diese mit experimentierenden Elementen ins Unendliche strecken und das Publikum am Strand tanzen lassen. Zwischen all den extrovertierten Liedern mogeln sich aber auch zwei ruhigere, ernste ein: „Bemyself“ und ein Intro von „Clockscared“ nehmen aber absolut nichts von der Dynamik und Tanzbarkeit des Sets.

Die Leichtigkeit, mit der Parcels ihre Lieder spielen, obwohl insbesondere die Basslines und Gitarrenriffs durchaus komplex sind, ist beeindruckend. Das Set lässt die Vorfreude auf das kommende Debütalbum der Australier nochmals um ein großes Stück wachsen.

Alena Struzh

Das „Watt En Schlick“: Es wird immer größer

2019 findet das fünfte „WES“-Fest statt, mit fast 6.000 Zuschauern ist der Strand am Dangaster Kurhaus auch so gut besucht wie noch nie. Ist ja auch kein Wunder. Dies ist das Festival, bei dem der Jan von Tocotronic zum Stimmen seines Basses selbst auf die Bühne kommt; bei der die Deiche wie natürliche Tribünen funktionieren; wo zu den ersten Klängen von Gisbert zu Knyphausen die Leute über die Deiche angerannt kommen, um nichts zu verpassen; und die Festival-Klos, der Autor dieser Zeilen hat dazu eine kleine Umfrage eingeholt, zu den saubersten gehören, die Besucher solcher Events überhaupt je gesehen und danach umso lieber benutzt hätten.

Und mittendrin, von manchen Neuankommenden vielleicht anfangs irritiert wahrgenommen, dann aber recht schnell akzeptiert: der „Grenzstein“ des Künstlers Eckhart Grenzer am Strand – ein erigierter drei Meter hoher Phallus aus Stein, seit 1984 das heimliche Wahrzeichen des Küstenörtchens. Die griechische Mythologie besagt, dass das Meer weiblich ist. Falls das Land dann männlich ist, käme es bei einer Flut zur Vereinigung … na ja, macht sich auf jeden Fall gut für Andenkenfotos, der Pimmelmann.

Manche Musiker müssen an den Watt-Gags zwar noch ein wenig schrauben, wie „Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi“, die über ein „sich selbst enleerendes Meer“ staunten, samt Annahme, zum Gezeitenwechsel „werden die das Wasser schon irgendwie wieder hingebracht haben“. Müdes Lächeln, nicht nur bei den Einheimischen. Wenn der braune Strandmatsch dann noch mit „Scheiße“ verglichen wird, sind wir im Bierzelt des Humors angekommen.

Aber es gibt Wichtigeres. Dass ein Festival sich etabliert hat, wird nicht ja nur durch die Größe der Bands dokumentiert, sondern auch, wo sie auf dem Gelände auftreten. Wenn mindestens einer der besten Künstler nicht auf der Hauptbühne reüssiert, sondern geschmackssicher auf der zweitgrößten, hier im Zelt, dann wurde bei der Lineup-Planung schon mal ziemlich großes Selbstbewusstsein bewiesen.

Sam Vance-Law: Geliebter Outlaw

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Zu Recht: Sam Vance-Law spielt bereits am Samstagnachmittag im kleinen Rund und absolviert mit Ansage einen der Top-Auftritte beim WES. Mit „Homotopia“ veröffentlichte der kanadische Wahl-Berliner eines der aufregendsten Alben des Jahres 2018. Er ist ein Narziss, der jene perfekte Balance zwischen Größenwahn und Selbstironie hält, an der fast alle neueren Sänger, siehe Mika, bislang scheiterten. Vance-Law aber ist einer, der in seinen politischen Plädoyers gegen Unterdrückung Homosexueller doch für eine bewundernswerte, exakt getimte Stille im Publikum sorgen kann. Weil die Leute merken, dass sie jetzt zuhören sollten.

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„Cause I’m a faggot“ singt er: „weil ich eine Schwuchtel bin“, deshalb würde Gott ihn bestrafen. Und lacht. Sein Pop hat das große schwule Vorbild Rufus Wainwright, und auch ein bisschen Freddie Mercury, dazu ein wenig Kabarett. Vance-Law bindet Heteros ein, ob sie wollen oder nicht, zeigt auf einen Mann und sagt: „Dieser Song ist für Dich – ‚I Love Men’“; und er freut sich, dass hierzulande die Homo-Ehe mittlerweile erlaubt ist.

Dangast ist ein kleines Örtchen, wir sind hier in Friesland, viele Einheimische sind da, ältere Menschen und Kinder, und Vance-Law singt im Zelt von Sex-Träumen, zehn Meter weiter im Hafen steht das Schiff „Etta von Dangast“. Es ist toll.

Und nun?

„Watt En Schlick“ meldete bereits am ersten Tag des Vorverkaufs für 2019 einige ausgebuchte Ticket-Kategorien. Die Luxus-Frage könnte irgendwann lauten: Kann man expandieren? Es gibt weitere Strandabschnitte in Dangast, einige Buchten, das eigentliche Kurhaus-Areal … aber vielleicht halten wir erstmals fest: eines der besten deutschen Festivals fand in diesem Jahr oben in Friesland an der Küste statt.

Sassan Niasseri

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picture alliance / Vertigo Berlin/Universal/dpa
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