Was man als Androidin heute so trägt
Ob wir wollen oder nicht: Lady Gaga war der Popstar des Jahres. Und ihr größter Hit war kein Song, sondern ein Schnitzelkostüm.
Schade um die schöne Greifvogel-Heiligenbild-Hummerscherenschuh-Kombination, entworfen vom seligen Alexander McQueen. Schade um den schwarzen Mega-Lederrock mit Brustspitzen und Freiheitsstatuen-Helm, den Giorgio Armani extra schneidern ließ. Aber schon vor Lady Gagas Auftritt bei den MTV Video Music Awards am 12. September in L.A. muss klar gewesen sein, dass am Ende nur das dritte der drei nacheinander getragenen Kostüme wirklich bleiben würde. Wen man heute auch fragt, alle sagen gleich: das Fleischkleid. Nur komplett mit Steakhütchen, Haxentasche und Fred-Feuerstein-Mammutkeulen-Schuhen.
Ein Traum in Rindsrot und Speckgrau. Erstmals vorgeführt, als die Gaga zum Empfang des „Video des Jahres“-Award für den Clip „Bad Romance“ auf die Bühne kam, Cher die fettig aussehende Handtasche in den Arm drückte und als Höhepunkt vier Verse aus einem neuen Stück sang, in dem sie feststellt, sie sei praktisch so auf die Welt gekommen: „I’m beautiful in my way/ ‚Cause God makes no mistakes/ I’m on the right track/ Baby I was born this way.“ Wo war Kanye West, um ihr das Mikrofon zu entreißen? Nie hätte er es gewagt.
Man sollte das kurz klarstellen, ganz ohne Sarkasmus: Natürlich gibt es im Jahr 2010 oder 2011 nichts Schöneres, Willkommeneres, dringend Notwendigeres als einen Popstar, in dessen (metaphorischen) Gedärmen man nach Bedeutsamkeiten wühlen kann, ohne allzu schnell und hart auf Grund zu stoßen. Die BBC News führten ernsthaft am Tag nach den Awards eine Expertenumfrage durch, wie dieses Kleid denn nun zu verstehen sei. Als subversives Statement gegen die Modebranche, meinte ein Designdozent aus Westminster. Als Zeichen für Frauenrechte, fand eine feministische Autorin: Zu oft würden weibliche Stars wie Schnitzel behandelt. Ein Kunstprofessor des Goldsmith College erkannte eine Art modernes Stillleben, das Eitel- und Vergänglichkeit thematisiere. Ein Londoner Chefkoch sah – mit Augen, die vom Zwiebelschneiden müde waren – einen Kommentar zum scheinheiligen Umgang der Gesellschaft mit Fleisch.
Nachdem die Moderatorin und Veganerin Ellen DeGeneres leichte Ekelgefühle geäußert hatte, schaltete sich die Künstlerin dann selbst ein. Das Kleid sei Teil ihrer Kampagne für schwule Soldaten, stellte Lady Gaga klar, sehr rätselhaft, wenig hilfreich: „Wenn wir nicht dagegen kämpfen, werden wir bald nur noch so viele Rechte haben wie das rohe Fleisch an unseren Knochen.“ Derweil erklärte Designer Franc Fernandez auf MTV, wie einfach man seine Kreation nachbasteln kann. „Gehen Sie zum Metzger, holen Sie sich ein paar schöne Stücke und fangen Sie zu nähen an!“
Von Herzen lieben muss man Lady Gaga dafür nicht. Dieses Gefühl erscheint im Angesicht der neuen, strengen Popkönigin sogar seltsam deplatziert und altmodisch. Aber 2010 war nun mal ihr Jahr. Ein Jahr, in dem ihr größter Hit tatsächlich kein Song, sondern ein Kleid war, oder der Auftritt in dem besagten Kleid, oder die Berichterstattung über den Auftritt. Ein Jahr, in dem jeder, der irgendetwas mit Showbusiness zu tun hatte, zu einer Reaktion auf Lady Gaga gezwungen war oder wurde. „Sie ist wie eine Tochter für mich“, sagte Elton John, „Sie muss sich mal eine Pause gönnen“, sagte Christina Aguilera, „Sie ist die neue Madonna„, sagte Alison Goldfrapp, „Sie sollte mehr Klavier spielen“, sagte Boy George. Die sogenannte Lady-Gaga-Frage wurde zum neuen Standard für Interviews. „Vanity Fair“ setzte sie in ihrer jährlichen „The New Establishment“-Liste auf Platz 23, vor Jon Stewart und Karl Lagerfeld. Noch hinter Ralph Lauren und Johnny Depp, aber lange kann das nicht mehr dauern.
Und auch andere Schwärmer und Kommentatoren taten ihr den Gefallen, die Wichtigkeit des großen Gaga-Ereignisses in Zahlen zu taxieren, in alter, ökonomischer Mengenlehre: über 14 Millionen verkaufte Alben von „The Fame“, zwei Grammys, acht MTV-Awards, über 300 Millionen YouTube-Views von „Bad Romance“ und so weiter. Weil immer zu beweisen ist, dass es eben doch noch Konsens geben kann in der Zeit der personalisierten Programme. US-Soldat Bradley Manning schmuggelte die Afghanistan-Daten, die zur ersten WikiLeaks-Affäre führten, auf einer falschen Lady-Gaga-CD aus dem Armeebüro. Er wusste, dass er so am wenigsten auffallen würde.
Es ist eine einmalige historische Schnittstelle, auf der die Lady hier entlangtanzt, vor aller Augen. Eine Starfigur, „born this way“, die aus der Welt des Virtuellen kommt und in sie hineingehört, ins Reich der Netzwerke, der schnellen Updates, des ständig Mobilen, der abstrakten Schauplätze und verformbaren Gestalten – aber wir behandeln sie so, wie man traditionell mit Popmusikern umgegangen ist, im Prinzip seit den 60er-Jahren. Wir kennen es nicht anders. Ihre Platten werden gekauft, sogar auf Vinyl, ihre Brillanz diskutiert. Dabei ist offensichtlich, dass die Musik in diesem Fall das Nebenprodukt ist: kaum um Originalität bemüht, reduziert auf effektive Slogans, schon als MP3 geboren, Filesharing-Pop. Das musikalische Talent Lady Gagas, das sie bei Konzerten gern in kurzen Klavier-Häppchen beweist, funktioniert wie das Gold im Schweizer Safe: Man weiß, dass es existiert, aber es ist nicht die Währung.
Fotografen und Reporter belauern sie – dabei ist sie doch auf alles vorbereitet, kann von keinem grellen Licht geschockt werden, wurde noch nie das Opfer einer Berichterstattung, war immer die Meisterin. Man lädt sie zu Spektakeln ein, zu TV- und Award-Galas – dabei karikiert sie nur die Rituale des Verkleidens und der Talkshow-Geständnisse, benutzt sie wie einen Vorspann für ihr nächstes Video. Der Pop-Wissenschaftlerin Meghan Vicks ist aufgefallen, dass Lady Gaga (anders als früher Madonna, Bowie, Dylan) keine klassischen „Phasen“ mehr in ihrer Karriere hat, sondern alle gleichzeitig in sich trägt, alle Gesichter, Launen und Spleens. Trotzdem wird ihre Geschichte, aus der ja doch keiner schlau wird, erzählt. Immer wieder. Jedes Mal werden alle drei Vornamen aufgezählt, die in ihrer Geburtsurkunde stehen, obwohl die Künstlerin in Interviews doch glaubhaft versichert, sie sei Lady Gaga und sonst gar nichts.
Vielleicht wirkt sie deshalb oft so fremd, kalt und roboterhaft: weil sie sich als neuer, multipler, virtueller und vernetzter Popstar in einer alten Welt bewegen muss. Die Androidin muss sich als Mensch tarnen, muss Verletztlichkeit simulieren, obwohl sie unbezwingbar ist. Sie muss Fleisch tragen. Vielleicht deshalb das Kleid.
Falls das noch keinem aufgefallen ist: In der eben be-schriebenen Hinsicht hat die Lady erstaunlich viel mit dem schon Mitte der Neunziger ähnlich angelegten Charakter Marilyn Manson gemeinsam. Der musste allerdings umschwenken, nachdem ihm Mitschuld am sehr realen Columbine-Schulmassaker gegeben wurde – und auch Lady Gaga wurde im vergangenen Jahr attackiert, weil ihre zugegeben zwielichtige Art viele überfordert. Verschwörungsspezialistin erkannten in ihren Videos die Zeichen der Illuminaten, Stephanie zu Guttenberg sah Porno. Die Essayistin Camille Paglia interpretierte in ihrem schon legendären Aufsatz Gagas Performance als „das erschöpfte Ende der sexuellen Revolution“ und empfahl den jungen Facebook-Userinnen, doch lieber mal Tina Turner oder Janis Joplin zu hören, weil da noch Frauenschweiß fließe.
Unrecht hat die viel gescholtene Paglia ja nicht mit ihren Beobachtungen. Nur ist es eben kein Grund zum Klagen, wenn eine Figur wie Lady Gaga uns mal den Horizont dessen erweitert, was heute sexy sein kann, was Körper im Pop alles können und was Celebrities uns dafür zurückgeben, dass wir sie verehren. Um Liebe und Identifikation geht es hier nicht, wie gesagt. Schließlich lernen wir auch von ihr, dass es völlig okay ist, sich ab und zu vor Stars ein bisschen zu fürchten. Das Ende des Pop ist das nicht, wie von einigen Kommentatoren pathetisch vorausgesagt. Nur ein neuer Aggregatszustand.
Ein aus der Nähe von München kommender Musiker und Poptheoretiker, dessen Name hier leider nicht genannt werden darf, hat dieses Jahr während einer Partyunterhaltung seine Sicht auf Lady Gaga so erläutert: „Sie ist wie mein Lieblingsitaliener – gute Lage, tolle Inneneinrichtung, angenehme Beleuchtung, nettes Personal. Nur das Essen schmeckt leider nicht besonders.“ Aber essen kann man zum Glück auch anderswo. Fleischlos, wenn’s sein muss.