Was ist heute links?
Mit Texten von Sahra Wagenknecht, Marek Dutschke, Andrea Nahles, Matthias Matussek, Karl Nagel, Güner Yasemin Balci, Schorsch Kamerun, Lothar König, Robert Wyatt & Jörg Thadeusz
Das Tabu ist gebrochen, wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten, wir dürfen, ja müssen über Alternativen nachdenken.“ Diese Forderung des slowenischen Philosophen und internationalen Vorzeigelinken Slavoj iek, die er vor den Occupy-Aktivisten im Zuccotti-Park in New York erhob und die man im Suhrkamp-Band „Occupy!“ nachlesen kann, überrascht aus seinem Munde nicht. Verblüffend ist allerdings, wenn der Herausgeber der konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, in seinem Blatt formuliert: „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik“, und wenn er mit Hinweis auf die Hilflosigkeit der westlichen Regierungen angesichts der entfesselten Finanzmärkte langsam glaubt, dass die Annahmen der größten Gegner bürgerlicher Politik doch richtig gewesen sein könnten – und dass „die Linke“ doch recht hat. iek und Schirrmacher Seite an Seite? Was ist da los?
Die neue Lust an fundamentaler Gesellschaftskritik ist vor allem durch die verschiedenen Stufen der Finanzkrise und ihre Akteure forciert worden. Das Heilsversprechen einer deregulierten, frei handelnden Welt, von der alle gleichermaßen profitieren, hat an Überzeugungskraft verloren. Es stellt sich – kurz und grob zusammengefasst – für viele heute eher als Freiheit für wenige dar, auf intransparenten und oft genug irrationalen Märkten mit sogenannten Finanzmarktprodukten, die niemand mehr versteht, ganze Volkswirtschaften samt deren Regierungen vor sich her zu treiben, um absurd hohe Renditen zu erzielen – und um im Schadensfall die Verluste möglichst auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Die Schuldenpolitik vieler Staaten hat den Einfluss der schnellen Märkte noch vergrößert, sie geben den Takt vor, ihren Erwartungshaltungen versucht die schwerfälligere Politik zu entsprechen. Also werden die Entscheidungsfristen kürzer, für lange Debatten ist keine Zeit, die Sachzwänge, das muss man doch verstehen, ein bisschen Demokratie bleibt immer auf der Strecke oder wird gar als hinderlich angesehen – wie die Reaktionen auf Papandreous Idee zeigten, seine Griechen über existenzielle Entscheidungen abstimmen zu lassen.
Gegen diese Entwicklungen regt sich weltweit Widerstand, bei traditionell Linken, die sich natürlich in allen Prophezeiungen scheinbar bestätigt sehen, aber neuerdings eben auch, siehe oben, im bürgerlichen Lager. Es gibt selbst bei denen, die mit den alten roten Parolen nichts anfangen können, plötzlich den Wunsch nach Aktion, nach Gesten der Gegenwehr, nach einem irgendwie gearteten besseren Leben und mehr Gerechtigkeit, auch wenn das nicht immer konkret definiert werden kann – und nach neuen Ausdrucksformen für den Unmut. Die Occupy-Bewegung ist ein Beispiel dafür: „Zuccotti-Park war sexy. Das war nicht mehr die alte, wimmernde Linke. Auf einmal war es cool, links zu sein“, sagte Kalle Lasn, einer der Initiatoren.
Aber waren die endlosen basisdemokratischen Diskussionen und Trommelsessions „links“? Ist der Schlachtruf „Wir sind die 99 Prozent“ wirklich schon „das, Friede den Hütten, Krieg den Palästen!‘ des beginnenden 21. Jahrhunderts“, wie „Spiegel Online“ frohlockte? Und werden solche Einordnungen überhaupt noch einer Welt gerecht, in der die CDU Atomkraftwerke abschaltet und sich für den Mindestlohn erwärmt?
Also wollten wir wissen: Was ist heute links? Was bedeutet es, wenn das Primat des Politischen durch das Primat des Ökonomischen verdrängt wird, was muss dann geschehen? Wie sehen mögliche Alternativen aus, und vor allem: Wo werden sie formuliert? Oder geht es um
Etwas ganz anderes?
Zehn mögliche Antworten auf diese Fragen finden Sie auf den folgenden Seiten.
Rainer Schmidt
Wer Verantwortung lebt, muss links sein
Von Sahra Wagenknecht
Es ist ein geflügelter Satz geworden: Das Primat des Politischen ist durch das Ökonomische verdrängt worden. Dieser Satz ist verharmlosend. Die Wirklichkeit ist brutaler: Die Großkonzerne und der Geldadel haben den Staat gekapert, um ihre ökonomischen Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Es ist die Politik gewesen, die zum Beispiel den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer senkte, die Vermögensteuer abschaffte oder eine niedrigere Besteuerung der Konzernprofite beschloss. Zur gleichen Zeit verabschiedete sie die Agenda 2010 und beschnitt die Renten und die sozialen Sicherungssysteme. So wuchs das Vermögen der Einkommensmillionäre rasant. Auf der anderen Seite wuchs die Armut. Eine kleine Schicht von Superreichen – ein Prozent der Bevölkerung – verfügt in Deutschland inzwischen über ein Geldvermögen von 2,2 Billionen Euro. Das ist mehr als die gesamten Staatsschulden Deutschlands. Die ärmere Hälfte der deutschen Gesamtbevölkerung verfügt statistisch dagegen über nichts. Ihr zusammenaddiertes Vermögen beträgt null Euro. Zur schrecklichen Wahrheit gehört auch: Ungleichheit geht über Leichen. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der Linken hervorging, ist die Lebenserwartung von Geringverdienern in den letzten zehn Jahren um zwei ganze Jahre gesunken.
Das Auseinanderdriften von Reich und Arm ist als Entwicklung in fast allen entwickelten Industrieländern zu beobachten. In Deutschland verlief diese Entwicklung in den letzten zehn Jahren im internationalen Vergleich sogar am rasantesten. Das wird von einer Studie nach der anderen erneut belegt. Egal ob durch den jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung oder entsprechende Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Dieser Trend lässt sich immer weniger leugnen. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Das politische System hat nur den Reichen gedient. Ein Satz, der inzwischen selbst in konservativen Kreisen zustimmend zitiert wird. Wer diese Tatsache nicht mehr ignorieren kann, erkennt das gesellschaftszersetzende Potenzial dieser Entwicklung. Die Worte des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt vom April 1938 wirken deshalb auf schreckliche Weise aktuell: „The first truth is that the liberty of a democracy is not safe if the people tolerate the growth of private power to a point where it becomes stronger than their democratic state itself. That, in its essence, is fascism – ownership of government by an individual, by a group, or by any other controlling private power.“
Wer diese Gefahr heute sieht, der muss als verantwortungsbewusster Mensch links werden. Und das bedeutete schon immer das Gleiche: Einsatz für soziale Rechte – egal ob im Spartakusaufstand der Antike, in der von Marx inspirierten Arbeiterbewegung seit dem vorletzten Jahrhundert oder im Kampf gegen die immer perverser werdende Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer in unserer Zeit. Immer musste und muss dabei versucht werden, soziale Rechte gegen die Interessen der herrschenden Machtclique in einer Gesellschaft durchzusetzen und zu erkämpfen. Das ist aktueller denn je. Denn bis heute sind noch nicht einmal die fatalen Folgen der Agenda-2010-Politik korrigiert worden, verantwortet durch rot-grüne Politiker, die damit ihr angeblich linkes Gewissen endgültig an die herrschende Machtelite verkauften.
Ein Politikwechsel wird immer dringender. Obwohl die zunehmende Ungleichheit eine der tieferen Ursachen für den gegenwärtigen Krisencocktail aus Finanz-, Banken- und sogenannter Schuldenkrise ist, werden für die Krisenkos-ten nicht diejenigen herangezogen, die von dieser Entwicklung zuvor profitiert haben. Anstatt Banken und Superreiche nun endlich zur Kasse zu bitten, soll die Zeche europaweit wiederum von der vorher schon geschröpften Mehrheit der Bevölkerung gezahlt werden. Die Ungerechtigkeit nimmt so kein Ende. Wir sollten gemeinsam verhindern, dass durch die Fortsetzung dieser Politik die Demokratie und der Frieden in Europa gefährdet werden. Das ist links.
Sahra Wagenknecht, 42, ist stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke, für die sie seit 2009 im Bundestag sitzt. Dort ist sie wirtschaftspolitische Sprecherin und stellvertretende Vorsitzende ihrer Fraktion. Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Plattform ruht seit Anfang 2010. Ihr jüngstes Buch heißt „Freiheit statt Kapitalismus“.
Die Linke ist keine Partei
Von Marek Dutschke
Ich fühle mich dem linken Lager zugehörig. Aber was bedeutet das eigentlich? Gilt als Kriterium immer noch die Einteilung der parlamentarischen Sitzordnung, wie einst während der Französischen Revolution, als alle, die links saßen, gegen die Monarchie waren? Wohl kaum. Das politisch Linke als solches ist, wie die Schriften von Karl Marx, die Bibel oder auch der Koran, ein Selbstbedienungsladen geworden. Es ist heute nicht einfach, Linkssein zu definieren. Und seit es eine Linkspartei gibt, ist es eher noch schwerer geworden.
Obwohl ich mich als Linker fühle, treibt mich die Frage um, was denn eigentlich damit einhergeht. Bedeutet es im Jahr 2012, dass ich fordern muss, alle Banken zu verstaatlichen? Ich denke eher, dass damit heute weniger die konkreten Charakteristika einer Person gemeint sind als vielmehr die Möglichkeit, jemanden mittels der Kategorie „links“ in eine bestimmte Schublade zu stecken. Doch von jemand anders als links abgestempelt zu werden – das geht schnell. Eine adäquate Definition von Linkssein zu finden, das dauert lange.
Wenn ich lese, was sich die großen Denker der linken Richtung – also die des Marxismus, der Sozialdemokratie und des Kommunismus – darunter so vorgestellt hatten, geht die Verwirrung los. Sie wollten gleichsam den Himmel auf Erden ermöglichen, institutionalisierte Verdummung der Menschen abschaffen und radikal mit der herkömmlichen, ausbeuterischen Struktur der Eigentumsverhältnisse brechen. Deshalb standen die Enteignung von Grund und Boden, die Abschaffung des Erbrechts, die Verstaatlichung der Fabriken, die Zentralisierung des Kreditwesens in den Händen des Staates und die gesellschaftliche Planungswirtschaft auf dem Programm. Es wird wahrscheinlich nicht wenige in der Linkspartei geben, die mit diesen Punkten einverstanden sind. Aber wie das alles freiheitlich umgesetzt werden könnte, bleibt mir schleierhaft.
Die Freiheit ist nun mal, wie Rosa Luxemburg angemahnt hat, die Freiheit des Andersdenkenden. Daher bleibt bei mir die Frage offen, ob die Umverteilungsvorschläge der Linkspartei – die zwar bei Weitem weniger radikal sind als die oben genannten Maßregeln – gerade in den Zeiten der Euro-Krise nicht ein viel zu großes Vertrauen in nationalstaatliche Instrumente und Maßnahmen setzen. Der Mensch, der dabei die Gestaltungsmöglichkeiten haben soll, kommt nur noch als Kleindarsteller vor.
Ich war vor langer Zeit bei einer Veranstaltung im Verlagsgebäude der „Berliner Zeitung“, als Gregor Gysi während eines Wahlkampfauftritts dem Publikum Rede und Antwort stand. Eine Frage an ihn war, ob er denn eigentlich ein Kommunist sei. Gysi nannte sich lieber einen demokratischen Sozialisten, der an die Einheit von Freiheit und sozialer Sicherheit glaube. Die autoritäre, bürokratisierte Staatssklaverei der DDR, in der Rechte einzelner Menschen eingeschränkt wurden, sei ein Fehler gewesen, so Gysi.
Das ist eine schöne Einsicht. Ich zweifle nicht daran, dass es Parteien geben muss, die dagegen kämpfen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft, dafür dass es einen menschenwürdigen Mindestlohn und eine sichere Rente gibt, dass Abrüstung und Friedenspolitik eine Priorität der politisch Verantwortlichen darstellen. Doch linkes politisches Engagement fängt nicht in der Politik an, wenn über Gesetze zur Euro-Rettung gestritten wird. Nein, Linkssein fängt auf der zwischenmenschlichen Ebene an. Dort, wo wir als Gesellschaft bereit sind, Verantwortung füreinander zu übernehmen – unabhängig vom politischen, finanziellen oder religiösen Hintergrund. Für mich ist das der erste Schritt, um linkes Engagement zu definieren.
Vor einigen Jahren habe ich mich um einen Listenplatz bei Bündnis 90/Die Grünen für den Deutschen Bundestag beworben, bewegt von meinem Verständnis von linker Politik. Damals befand sich die rot-grüne Bundesregierung in einer prekären Situation der Selbstauflösung. Ich fühlte, dass die Grünen nach sieben Jahren als Regierungspartei ihre Aura des Unangepassten, der politischen Neuartigkeit und Anständigkeit zu verlieren drohten. Ich wollte Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen und hoffte, dass ich durch den Aufruf zum erneuten politischen Umbruch viele Wähler finden würde. Es ist mir nicht geglückt. Das heißt aber nicht, dass es sich nicht lohnen würde, linke Ideen zu entwickeln und über Alternativen zum etablierten politischen System oder auch zum Kapitalismus nachzudenken.
Nun wird ersichtlich, wie schwierig es ist, eine Definition des Linksseins zu formulieren, die dem Begriff gerecht wird. Die aktuelle Krise des Wirtschafts- und Finanzsystems hat es nicht einfacher gemacht – auch wenn sie die Attraktivität linker Positionen erhöht hat. Selbst in den Texten meines Vaters werde ich nicht fündig. Vielleicht hat das auch seine Richtigkeit.
Für mich wird jedenfalls klar, dass weder der Blick in die Geschichte noch die Positionen unserer politischen Parteien Orientierungspunkte einer Definition sein können. Warum sollte auch die Parteizugehörigkeit Auskunft darüber geben, ob jemand links ist? Für mich ist jemand links, der sozial-liberal, humanistisch, undogmatisch und kritisch zugleich ist. Jemand, der eine starke Vorstellung davon hat, wie unsere Gesellschaft aussehen sollte und wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Das ist meine Definition.
Rudi-Marek Dutschke, 31, arbeitet an der Hertie School of Governance in Berlin und ist als Autor tätig. Als Sohn von Rudi Dutschke, dem Wortführer der deutschen Studentenbewegung, wuchs er in den USA auf. 2005 bewarb er sich (vergeblich) bei den Berliner Grünen um einen Listenplatz für die Bundestagswahl.
Links sein muss Freiheit bedeuten
Von Andrea Nahles
Es gibt sie noch, linke Musik. Zum Beispiel vom Kölner Künstler PeterLicht. In seinem Lied „Das ist das Ende vom Kapitalismus“ heißt es in charmanter Leichtigkeit: „Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, ist uns lange genug auf der Tasche gelegen.“ Wie wahr: Kapitalismus in seiner jetzigen Form kommt unsere Gesellschaften teuer zu stehen. Wenige bereichern sich auf Kosten der Mehrheit. Nicht nur die Griechen können ein Lied davon singen. Aber die Zeiten sind vorbei, als Pop- und Rockmusik weltweit für einen Aufstand der jungen Generation stand. Stattdessen laufen heute selbst Songs von John Lennon zur Berieselung im Supermarkt. Der Markt hat den Protest vereinnahmt.
Es gibt sie noch, linke Politik. Auch wenn sie auf dem Rückzug zu sein schien. Vor zehn Jahren waren die meisten Regierungen in Europa sozialdemokratisch. Heute sind die meisten konservativ. Wobei „sozialdemokratische Regierung“ nicht unbedingt gleichbedeutend war mit „linker Politik“. Der Kapitalismus hat sich teilweise durch die linke Programmatik gefressen. Auch die deutsche Sozialdemokratie war davor nicht immer gefeit. Allerdings, und das ist der große Unterschied zu den Konservativen: Die Sozialdemokraten haben nie ihren Anspruch aufgegeben, das Leben für alle besser zu machen. Sie haben nicht ihre „linken“ Prinzipien aufgegeben. Sie haben nur geglaubt, dass sie es mit „rechten“ Rezepten erreichen können. Das war ein Trugschluss, wie nicht zuletzt die jüngste Weltwirtschaftskrise gezeigt hat. Aber das lässt sich mit der richtigen Einstellung korrigieren. Linker Politik geht und ging es immer um die Befreiung von Bevormundung. Dass nicht der eine Herr ist und der andere Knecht. Dass Geld nicht die Macht bedeutet, die Regeln für alle in der Gesellschaft zu bestimmen. Oder wie es die SPD seit fast 150 Jahren formuliert: um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Sind wir denn nicht frei? Werden wir denn noch bevormundet? In der Tat sind die gesellschaftlichen Freiheiten rapide gestiegen. Während früher schon Langhaarige suspekt waren, dürfen heute sogar Polizisten Ohrringe tragen. Aber Millionen von Menschen in unserem Land und erst recht in vielen anderen Ländern sind dennoch nicht frei. Dazu sind sie schlichtweg zu arm, dazu können sie sich zu wenig leisten, dazu hängen sie zu sehr in Beschäftigungsverhältnissen fest, in denen sie der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert sind. Das Mantra der Konservativen – „Wenn Du dich nur genug anstrengst, wirst Du es schaffen“ – ist so nicht wahr. Denn regellose Märk-te können Freiheit nicht gerecht verteilen. In der globalisierten Welt bekommen wir es daher auch in Deutschland immer weniger hin, für gleiche Chancen zu sorgen. Das liegt auch daran, dass die Fronten nicht mehr so klar sind. Früher ging es bei linker Politik um Klassenkampf. Um den Gegensatz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Der Gegner stand fest – und er war greifbar. Heute ist der Gegner die Logik des finanzmarktgetriebenen Turbokapitalismus. Der nur Profite maximiert, ohne reale Produkte zu produzieren. Der für eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsbedingungen sorgt. Oder wie es Bob Dylan sagt, in „Workingman’s Blues #2“: „They say low wages are a reality if we want to compete abroad“. Diese Logik wollen wir Linke sprengen. Und das müssen wir über die Grenzen unserer Länder hinweg tun. In diesem Sinne haben der britische Parlamentarier Jon Cruddas und ich ein Konzept für eine „gute Gesellschaft“ entworfen, das soeben in dem Buch „The Future Of European Social Democracy“ erschienen ist. Es geht um den linken Kerngedanken, dass Menschen das größtmögliche Maß an Kontrolle über ihr eigenes Leben haben. Dafür muss die Politik den Märkten übergeordnet sein. Dafür müssen öffentliche Dienstleistungen wie Energie- und Wasserversorgung im Sinne aller reguliert werden. Dafür brauchen wir internationale Zusammenarbeit, um den Unterbietungswettlauf bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und Umweltstandards zu bekämpfen. Lebensqualität und Sicherheit von vielen müssen wieder wichtiger werden als der Profit von wenigen. Wir wollen faire Löhne und Gehälter, bessere Startchancen für die junge Generation, finanzielle Sicherheit im Alter und mehr demokratische Mitsprache.
„Are you taking over – or are you taking orders?“, fragten The Clash 1977 in „White Riot“. Heute stellt sich diese Frage neu: Beugen wir uns weiter der fatalen Logik der Finanzmärkte oder sorgen wir endlich dafür, dass das Interesse der Menschen wieder die Überhand gewinnt?
Wir haben es in der Hand.
Andrea Nahles, 41, ist Generalsekretärin der SPD. Nachdem sie 1995 bereits zur Bundesvorsitzenden der Jusos gewählt worden war, war sie von 2007 bis 2009 stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. „Frau, gläubig, links: Was mir wichtig ist“ heißt ihr aktuelles Buch.
Bombenleger und Seelenverkäufer
Von Karl Nagel
Wer ist stärker? Hulk oder Thor? Superman oder Dooms-day? Im Grunde egal. Interessiert eh nur die Hardcore-Comic-Fans. Weitaus mehr Wind macht natürlich die Frage „Was ist eigentlich heute links?“ Marx oder Mao? Gysi oder Gaddafi? Die Linke oder eher die MLPD?
Viel wichtiger ist doch, wo man sich Filme und Musik herunterladen kann, ohne dass einem ein Strafbefehl ins Haus flattert. Wie man es halbwegs hinkriegt, Miete und Brötchen zu bezahlen, und sich all die Typen vom Leib hält, die einem per Telefon irgendwelchen Schrott verkaufen wollen oder einem gleich mit Hölle und Verdammnis drohen. Nicht zu vergessen: Wie finde ich den richtigen Arzt, der mich trotz Zugehörigkeit zur gesetzlichen Krankenkasse wie einen Menschen behandelt?
Politik hilft einem da nur begrenzt weiter – den Parteien des Mainstreams kannst du nicht über den Weg trauen, während der politische Randbereich eine Verschwörungstheorie nach der anderen produziert. Da kriegst du eh nie raus, wer dich mehr als andere über den Tisch zieht. Wer sich irgendeinem politischen Seelenverkäufer verschreibt, kann gleich Teile der Realität in einem Atemzug abschreiben.
Obwohl, schön wär’s ja. Einfach dazugehören, zu den Guten. Nicht mehr als „linker Bombenleger“ wie in den 70er-Jahren attackiert zu werden, sondern als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft voranzugehen mit den Paraderezepten Frieden, soziale Gerechtigkeit und Aufstehen gegen Nazis. Alles schön geregelt.
Macht ungefähr so viel Spaß wie eine Gremiumssitzung der IG Metall, wirklich. Und eine linke Brille nimmt einem zwar die Last eigener Beobachtung ab und ist eine schöne Ersatzreligion, gibt aber eben auch anderen die Möglichkeit, dich am Nasenring durch die politische Arena zu führen.
Also: Lieber nicht zu viel Zeit verschwenden bei der Suche nach den wahren, echten Linken, sondern lieber die Verbündeten ganz pragmatisch aussuchen und je nach Bedarf wechseln. Mit oder ohne Links-Aufkleber. Einfach Augen auf im Straßenverkehr und immer schön aufpassen, wer einem das Denken abnehmen oder gleich was verbieten will. Dann heißt es: Finger weg!
Karl Nagel, 51, erfand 1982 die Chaos-Tage in Hannover, er spielt(e) in diversen Bands (Militant Mothers, Kein Hass da) und produzierte viele Comics. Außerdem unterhält er die Menschen mit dem Kabarettprogramm „Idiotenklavier“. 1998 war er Kanzlerkandidat der APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands), beging aber 2002 offiziell „politischen Selbstmord“.
Endlich Weltende!
Von Matthias Matussek
Lieber Chefredakteur Rainer Schmidt,
Sie haben mich gefragt, was „Linkssein“ heute bedeutet, wo die Wirtschaft das Primat über das Politische gewonnen hat, was ja marxistisch gesehen schon immer der Fall war, und überhaupt jeder nur noch mit einem eingenähten Preisschild durchs Leben läuft.
Hier ist meine Antwort, aber ich weiß nicht, ob sie Ihnen schmecken wird: Linkssein bedeutet gar nichts mehr. Es ist noch nicht mal mehr ein Aufreger, es ist nur noch ein Wort, ein vergessener Reiz. Das bisschen Stalin-Pop von iek, das bisschen Mindestlohn-Gemaule von Gysi? Ich bitte Sie!
Die politische Linke ist obsolet geworden, und wir können durch unsere Interventionen am Schreibtisch am Lauf der Welt ohnehin nichts ändern. Wer den Systemwechsel fordert und nicht bereit ist, die luxussanierte Altbauwohnung gegen den Platz am Lagerfeuer einer bewaffneten urbanen Anarchisten-Horde zu tauschen, ist nur ein weiterer Schwätzer. Oder er heißt Heiner Geißler. Oder Sahra Wagenknecht.
Ich halte es mit Gottfried Benn: „Die Armen wollten immer hoch und die Reichen nicht herunter. Schaurige Welt, kapitalistische Welt, seit Ägypten den Weihrauchhandel monopolisierte.“ Was mir die Geschichte der gescheiterten Systemstürze klarmacht: Uns hilft nur noch beten. Auf Erden ist Gerechtigkeit nicht zu haben, aber in der katholischen Messe gibt es immerhin so etwas wie Trost oder Sinn.
Die ersten Linken waren übrigens Jesus und seine Jünger, und die lebten in der Naherwartung des Weltendes. Links sein und apokalyptisch gestimmt sein, ist das Gleiche.
Insofern bin ich ein Linker. Allerdings einer ohne Theorie.
Theorien sind nicht mehr nötig.
Ich weiß zufällig, dass die Welt in zwei Wochen untergeht.
Europa ist kaputt, Amerika ist im Eimer, in der Politik machen Faschingspiraten Furore, während der Iran demnächst einige nukleare Marschflugkörper in Richtung Israel abschießen wird, dann machen auch alle anderen mit, und gerade treibt der letzte Eisbär auf einer rasant schmelzenden Eisscholle in die ewige Sonne. Die Reichen werden reicher, die Armen noch ärmer, die Hunger nimmt zu, aber am tragischsten ist, dass die Hoffnung dahinwelkt und die Seele stirbt.
Also, das Ende ist nah. Sie wissen das jetzt auch, lieber Schmidt, und Frank Schirrmacher, unser größter Apokalyptiker, weiß es erst recht. Zurzeit ist er noch ganz benommen von der Tatsache, dass die Linke doch die ganze Zeit über recht gehabt haben könnte, auch recht gegen ihn, da haben sich seine Albträume klüger erwiesen als er selber. Dem Christenverfolger Paulus ging es nicht anders, als er vor Damaskus vom Pferd fiel und rief: „Mein Gott, die Christen haben recht!“
Doch im Unterschied zu Schirrmacher zog Paulus die Konsequenzen, er hängte sich rein, er wurde für sein Zeugnis gesteinigt, er überlebte mehrere Schiffbrüche, reiste Tausende von Kilometern und predigte und lebte bedürfnislos und ließ sich schließlich im Circus Maximus vor dem verwöhnten römischen Publikum abschlachten.
Sehen Sie, Herr Schmidt, dass Apokalyptiker links sind, oder sich zumindest so fühlen, gerade das hat ja frühchristliche Tradition. Sie lebten in der Erwartung des Weltendes und taten Gutes, die frühen Christen. Das Christentum verbreitete sich im römischen Reich deshalb so lauffeuerartig, weil es einherging mit einer sehr werbewirksamen Soziallehre.
Sie kümmerten sich um Alte, um Schwache, um Waisen und hingen einer verrückte Idee an, die sie „Nächstenliebe“ nannten, völlig neu für die konservativen, staatstreuen Römer, die an Sklaven gewöhnt waren und an Fußbodenheizungen und Metzeleien im Colosseum. Die Urchristen haben sich persönlich haftbar gemacht und verantwortlich gefühlt, sie dachten an den Nächsten nicht nur theoretisch, sondern praktisch – was für Revolutionäre!
An sich selber übrigens dachten sie nicht, denn Jesus hatte ja in der Bergpredigt sehr überzeugend dargelegt, dass es sich gar nicht mehr lohne, sich um Kleidung oder Unterkunft zu kümmern, weil das Ende ohnehin nahe sei. Ich hatte das in meinem Buch „Das katholische Abenteuer“ nur angedeutet, weil ich mindestens so unerlöst bin wie Schirrmacher und für meine Lesungen, sofern sie noch stattfinden werden, doch gerne gut untergebracht werden möchte.
Doch noch einmal an alle, auch an Slavoj iek und Antonio Negri und die lieben Occupy-Leute und die bösen italienischen Anarchisten, und auch Frankie S.: Wir haben jetzt wirklich keine Zeit mehr für solchen Kram, auch Stuttgart 21 hat sich ja wohl damit erledigt.
In der uns noch bleibenden Restzeit sollten wir uns bemühen, nett zueinander zu sein. Das ist das Einzige, was wir tun können, das und beten um einen „gnädigen Gott“, wie Luther es nannte. Nicht mehr diskutieren. Keine Theorien, keine Pläne, wir wissen, der Allmächtige lacht sich schief, wenn der Mensch Pläne macht.
Übrigens ist das Weltende überfällig. Sicher, dass wir es immer wieder entfristen mussten, hat an der Glaubwürdigkeit von uns Apokalyptikern genagt, die Zeugen Jehovas können ein Lied davon singen.
Mit den ständigen Vertagungen hatte auch Petrus schon zu tun, und dem hatte der Herr noch persönlich seine Wiederkehr prophezeit. Sie wollte sich einfach nicht einstellen, die Apokalypse, und Petrus schreibt in seinem zweiten Brief bitter über die „Spötter“, die sich „über die Wahrheit lustig machen, aber doch nur ihren selbstsüchtigen Wünschen folgen“.
Sie hatten gerufen: „Wo bleibt er denn? Inzwischen sind schon unsere Väter gestorben, aber alles ist immer noch so, wie es am Anfang der Schöpfung war.“ Sie hatten recht. Vorläufig. Petrus antwortete damals eher ungenau, nämlich, dass für den Herrn tausend Jahre wie ein Tag seien und ein Tag wie tausend Jahre. Ich hab’s genauer: noch zwei Wochen, das war’s dann.
Wenn ich ehrlich bin, verehrter Herr Schmidt, kann ich es an manchen Tagen, wie die Urgemeinde damals, kaum erwarten. Ich müsste dann keine Glückwunschpostkarten mehr schreiben, und die Menschen draußen müssten sich nicht mürrisch durch den grauen Nieselregen zu irgendeinem Schnäppchenverkauf schleppen.
Stattdessen würde etwas Grandioses passieren. Der revolutionäre Umsturz! Die komplette Neuordnung! Rumms und Krawumm! Oder eben das Weltende, dieser Tag, „an dem die Himmel im Feuer verbrennen und die Elemente im Brand zerschmelzen werden“.
Und das ist ja dann auch eine Art Revolution.
Geht es Ihnen nicht auch so?
Ihr Matthias Matussek
PS: Spenden Sie mein Honorar für die Afrika-Hilfe. Ach was, drücken Sie es dem Obdachlosen unten an der Ecke in die Hand, und machen Sie schnell.
Matthias Matussek, 57, ist „Spiegel“-Autor und Publizist. Zuletzt erschien sein Bestseller „Das katholische Abenteuer. Eine Provokation“, in dem er bekennt: „Ich bin so leidenschaftlich katholisch, wie ich vor vierzig Jahren Marxist war.“ Die Redaktion spendet sein Texthonorar an die Berliner Obdachlosenhilfe mob.
Vergesst Biosiegel, schafft Gerechtigkeit!
Von Güner Yasemin Balci
Es gab einmal eine Zeit, da bedeutete Linkssein in Deutschland noch, den Idealen des Marxismus nachzustreben. Man war politisch engagiert, trug bunte Kleidung, ließ sich die Haare wachsen und pfiff auf preußische Sekundärtugenden. Die Konservativen, das waren die alten und die anderen, denen der Geist der Nazijahre noch in den Knochen und Köpfen steckte. Und die es galt, zu bekämpfen.
Die 68er-Zeit war eine Phase der großen Auf- und Umbrüche, in der die Jugend sich politisch auflehnte und man im Dunst von Kräutertee und Marihuana den Zusammenhalt einer verschworenen Gemeinschaft zelebrierte. Sich in besetzten Häusern, Studentengruppen und sonstigen Kommunen zusammenfand, um spirituell, politisch und sexuell auf Identitätssuche zu gehen. Man kämpfte für Palästina und Afrika und übernahm selbstverständlich die Vormundschaft für alle unterdrückten Völker der Erde, ohne darum gebeten worden zu sein. Die Welt war geteilt in Gut und Böse, Arm und Reich, es gab einen Klassenfeind, und das Leben hatte seine Ordnung, in der es eigentlich nur darum ging, sich für eine Seite zu entscheiden, auf der Suche nach Sinn.
Für die 68er-Rebellen war Krieg nur dann schlecht, wenn er nicht die eigenen Interessen verfolgte. Gewalt war damals nicht nur für die Terroristen der RAF ein legitimes Mittel, um bestimmte Anliegen durchzusetzen. Die Linke empfand sich als eine Art Rächer der Enterbten oder Heilsbringer der Armen und Unterdrückten und hatte neben vielen kleinen vor allem immer einen großen Feind: den Kapitalismus.
In diese Zeit der Auf- und Umbrüche fiel auch die Geburtsstunde der Grünen-Partei. Und während RAF und Hippiekommunen heute der Vergangenheit angehören, haben die Grünen tapfer die vergangenen Jahrzehnte des politischen und gesellschaftlichen Wandels überstanden und sogar mitbestimmt – und sind vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Eine steile Karriere, in deren Verlauf sich zum Beispiel der anfangs wollsockentragende und polizistenprügelnde Joschka Fischer nicht nur zu einem der obersten Staatsrepräsentanten mausern konnte, sondern selbst dann noch anstandslos von sich selbst behauptet, „links“ zu sein, wenn er als Lobbyist für milliardenschwere Konzerne das große Geld verdient. Nicht zu vergessen sei da auch Daniel Cohn-Bendit, einer der Gründungsväter der grünen Partei, der ihnen heute noch als Ko-Vorsitzender im Europäischen Parlament die Treue hält und den selbst seine mehr als fragwürdigen Ausführungen über erotische Vorfälle mit Kindern aus den 70er-Jahren nicht vom Sessel fegen konnten.
Die grünen Möchtegern-Weltverbesserer sind geblieben – doch die Zeiten des großen Klassenkampfes sind vorbei, und nur noch ewig gestrige Randgruppen, die sich politisch entweder linksaußen oder rechts im Abseits tummeln, plädieren heute noch ernsthaft – aber nie wirklich ernst zu nehmend – für eine Abschaffung des Kapitalismus. Selbst die Partei Die Linke verzeichnete in den vergangenen Jahren neben einem steten Mitgliederschwund eher bescheidene Wahlergebnisse und muss sich eingestehen, ihre gewichtigste Waffe, die Kapitalismuskritik, nicht mehr für sich allein beanspruchen zu können. Spätestens seit sich auch etablierte konservative Parteien im Zuge der globalen Finanzkrise gegen eine Allmacht der Wirtschaft ausgesprochen haben.
Was also ist geblieben von den ehemals linken Werten? Nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft fortbesteht, der Aufschrei gegen sie aber längst verstummt ist.
Und trotzdem, im Jahr 2012 dürfen wir alle ein bisschen links sein. Wir behaupten es zumindest, denn es kostet uns nichts. Wir sind links und müssen auf nichts verzichten. Links sein bedeutet heute, den Wohlstand zu sichern und sich eben dadurch die Sache des Volkes zu eigen zu machen. Ob CDU oder SPD, man setzt sich ein – für soziale Gerechtigkeit, für ein egalitäres Menschenbild, und auch Forderungen nach Gender Mainstreaming und Homoehen sorgten selbst in der CDU nur für den überfälligen Abschuss einer Handvoll rechtskonservativer Hinterwäldler, die sich wie Schiffbrüchige auf der Suche nach einem untergegangenen Deutschland um ihren greisen Kapitän Friedrich-Wilhelm Siebeke scharen.
Links sein ist heute zu einer Attitüde verkümmert, die mit echter Einsatzbereitschaft für Gerechtigkeit wenig zu tun hat. Auch, weil es insgesamt komplizierter geworden ist, zu erkennen, für wen oder was eigentlich noch gekämpft werden muss. Man konzentriert sich auf das Durchsetzen von Rauchverboten und Tempo-30-Zonen, glaubt die Chancengleichheit in der Gründung der Einheitsschule verwirklichen zu können und nimmt sich halbherzig der Arbeitnehmerrechte an, indem man sich auf eine Lohnuntergrenze einigt – wohl wissend, dass den Geringverdienern damit nicht geholfen ist. Die ehemals so wilden, freiheitsliebenden Grünen stehen für einen neuen Konservativismus, der ständig nach Sanktionen schreit, Bioladen und Biedermeier konfliktfrei vereint, und für dessen Wähler die Alliteration von Kinder, Küche und Kirche (in grünem Licht betrachtet) doch gleich ganz annehmbar erscheint: als frei gewählte Alternative und sentimentale Rückbesinnung auf alte Werte.
So schieben die neuen, jungen, sich als Linke empfindenden Konservativen in Scharen ihre Bugaboos mit dem Nachwuchs durchs Land, empören sich über Bio- siegel-Pfusch und Hundekot in der Stadt und sind ansonsten angekommen, in einem Leben voller Annehmlichkeiten. Man muss kein schlechtes Gewissen haben, denn man hat es sich verdient.
Das alles wäre auch gar nicht so schlimm, der Wandel in den Parteiprogrammen ein normaler Prozess, vielleicht ein Zeichen dafür, dass man sogar dazugelernt hat. Doch der letzte Armutsbericht hat gezeigt, dass die Armut in Deutschland – trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung – zugenommen hat. Die Politik scheint ihre Aufgabe, den Wohlstand gerecht umzuverteilen, in den vergangenen Jahren verfehlt zu haben. Und auch der aktuelle UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland zeigt, dass Chancengleichheit mehr voraussetzt, als Hunger und Durst zu stillen.
Ein Recht auf Bildung allein reicht zwar nicht aus, um zu verhindern, dass die soziale Schere immer weiter aufgeht. Doch Bildung bleibt der einzige Weg, um soziale Benachteiligung zu überwinden. Wem der Sinn nach einer gerechteren Welt steht, der hat in Deutschland also immer noch genug zu tun – und wie verhalten sich die Linken dazu? Sie fordern höhere Hartz-IV-Sätze, Ganztags- und Gemeinschaftsschulen, eine kostenlose Kinderbetreuung, kleinere Schulklassen und so weiter. Was sie nicht fordern, ist eine gesunde soziale Mischung in Kindergärten und Schulen, eine Quotenregelung, die es ermöglicht, dass Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft das Miteinander lernen und Kindern aus sozial schwachen Familien die Teilhabe an einem Leben ermöglicht wird, das sonst nur der bürgerlichen Schicht vorbehalten ist.
Der Trend ist in Deutschland ein anderer. Wer es im Leben zu etwas bringen soll, geht schon früh in den richtigen Kindergarten und hat damit auch gleich den Grundstein für wichtige soziale Kontakte gelegt, die für eine spätere Karriere genauso entscheidend sind wie das Studium. Ganz wichtig ist bei der Auswahl des Kindergartens, dass wenige bis keine Migrantenkinder dort sind, und auch in der Grundschule ist ein hoher Anteil von Kindern mit arabischen und türkischen Wurzeln für viele Eltern ein Grund, um im schlimmsten Fall doch lieber eine Privatschule zu finanzieren. Dass es heute sogenannte „Resteschulen“ gibt, in die all jene gehen, die von zu Hause aus nicht gefördert werden, ist ein Skandal, den kaum jemand thematisiert. Denn die Betroffenen schweigen, weil sie es nicht besser wissen. Und alle anderen leben ein besseres Leben, eines, in dem man gerne politisch korrekt bleibt, Missstände beschönigt oder gar verschweigt. Denn egal, wie links man auch ist: Die eigenen Kinder werden bestimmt in keiner Bildungseinrichtung landen, die man Problemschule nennt. Wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand.
Besonders an den großstädtischen Kindergärten und Schulen wird deutlich, wo die Grenzlinien in der deutschen Gesellschaft verlaufen. Und wer später mal die Zukunft des Landes mitgestalten wird – oder eben Zuschauer des schönen Lebens bleibt, auf Geringverdiener-Niveau, im schlimmsten Fall als Hartz-IV-Empfänger.
Der schöne Satz „Jeder ist seines Glückes Schmied“ mag seine Berechtigung haben. Doch in den Ohren all derer, die wissen, worauf es ankommt, wenn man allen Kindern gleiche Chancen auf ein gutes Leben einräumen möchte, muss er wie eine schlechte Ausrede klingen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass gerade die politische Linke sich wieder auf ihren Ursprung zurückbesinnt, auf die Idee, dass alle Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft und welcher Hautfarbe, gleich sind. Und sich für alle gleichermaßen verantwortlich fühlt, so als ginge es bei der Förderung des Nachwuchses in diesem Land um die eigenen Kinder. Erst aus dieser Haltung heraus wird man es wagen, die notwendigen Konflikte im Kampf für eine gerechtere Gesellschaft einzugehen. Und es nicht mehr in Kauf nehmen, dass es Kinder in Deutschland gibt, die quasi ab Geburt dazu verdammt sind, ihr Leben lang ganz unten zu bleiben.
Güner Yasemin Balci, 36, ist Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Die Tochter türkischer Eltern engagierte sich als Sozialarbeiterin, arbeitet für Printmedien und TV-Magazine, veröffentlichte die Romane „Arabboy“ und „ArabQueen“. 2011 machte ihre Filmdokumentation über Thilo Sarrazin Schlagzeilen, die nie gezeigt wurde, nachdem der Sender RBB ihr den Auftrag überraschend entzog.
Onkel Berner und die Linken
Von Schorsch Kamerun
Onkel Berner ist der neuralgische Punkt unserer Weihnachtsfeierlichkeiten. Traditionell. Weil er die üblichen, diplomatischen Toleranzzonen bei solchen Familienversammlungen kompromisslos ignoriert. So dröhnt er am verlässlichsten rechtsaußen von allen in unserer Sippe. Jedenfalls am offensten – wer weiß, was wäre, wenn alle Tacheles reden würden?
Immerhin gestalten sich seine Anwandlungen über die Jahre deutlich altersmilder, aber mitunter lässt er noch mal ordentlich einen vom Stapel. Mein Cousin Sid Hansen, ich selbst und vielleicht noch Cousine Wiebo ducken uns mittlerweile – um des lieben Friedens willen – meistens weg, wenn Berner (Bauernhofbetreiber und passionierter Waidmann mit eigenem Revier in Meck-Pomm) zum Heiligen Fest konkret wird. Wir halten still, weil der wackere Onkel zweifelsfrei auch warme, gar sehr großzügige Seiten bereithält. Ungenommen. Also, mal ein Auge zudrücken, weil Rechthaben sich im fragilen Family Business ja auch lohnen muss, finde ich.
Früher kam es regelmäßig zu bitteren Szenen am Fonduetopf. Aber da waren Onkel Berners Blitzattacken gegen „die Russen“, „euch Gammler und Kommunisten“ oder gar „den Itzig“ auch von anderem Ausmaß. Dieses Jahr dagegen: gerade mal eine schlappe Abwatschung über seinen eher als läppisch eingestuften Restfeind, die Linkspartei. „Jetzt haben diese Affen doch allen Ernstes vorgeschlagen, dass wenn ein Feiertag auf einen Sonntag fällt, dass der dann nachgeholt wird! Mann, Mann, Mann! Armes Deutschland!“ Mehr nicht!
Also wenn das jetzt die heftigsten Schläge vom real existierenden Konservatismus sind, dann wird es in naher Zukunft keine rebellische Jugendbewegung mehr geben, wie sie nötig war, als die Onkel Berners dieser Welt noch für krasse autoritär-repressive Lebensraumverletzung berühmt waren. Aber das war noch nicht alles, dieses Jahr. Es kam gar noch unerwartet umgekehrter: In einem authentisch nachdenklichen Exkurs über „die Verhältnisse“ verstieg sich jener Gatte meiner frohgemuten Tante Berner zu einem ausdrücklichen Wertewechsel, wie ich empfand. Darin beschrieb er – natürlich in etwas anderen Worten – nicht weniger als eine Umkehrnotwendigkeit im sonst so unangefochten freien Marktwirtschaftsglauben: Es gehe nämlich nicht mehr länger „nur noch nach vorn“ mit der Ausdehnung und der Profitmaximierung. Wie bitte? Mein alter Onkel Berner – wenn auch über 40 Jahre nach Gründung – ein neues Vollmitglied des Club of Rome, jenes visionären Gremiums, das bereits 1972 präzise das „Ende des Wachstums“ vorhersagte?
Was ist in euch gefahren, Schönschreiblehrer, Gesinnungsprüfer, Stramm-FAZ-ler und Langhaarabschneider? Frank Schirrmacher, bist du weich geworden (in deinem großen Artikel über das Sich-Bewahrheiten linker Prophezeiungen)? Manche waren natürlich noch früher dran, wenn man genauer hinschaut: Schon zu Beginn der Davos-Gipfel Anfang der 70er-Jahre beschrieben einige Wirtschaftskonservative die Kehrseiten der Globalisierung. Nun sind solche Einsichten nicht unbedingt als schöner Linksdreh zu werten – vielmehr zeigt sich bei derartigen Umkehrern einfach nur die pure Panik der Handlungsunfähigkeit an einer vor Langem überschrittenen Grenze der Gier. Den Antreibern der Marktentfesselungen sind in der Tat die Zügel aus der Hand geflutscht, und nun (im Katzenjammer) bleibt die schlichte Feststellung, dass die linken Miesmacher anscheinend sauber richtig lagen – schon immer.
Tja. Nun seid ihr aber zu spät dran, liebste Bürger-Antikapitalisten, verehrte Pfeffersack-Gegenmaterialisten! Euer Zug ist abgefahren, in Richtung Tiger- oder Jasmin-Staaten. Dort „regiert“ und maximiert jetzt das (behauptete) Volk zur fabulösen Konjunkturrendite. Für Spott bleibt dennoch kaum Spiel, denn eure Niederlage habt ihr zwar euch, aber gleichzeitig auch allen beigebracht. Und so ist durch eure eigenen Verluste leider nichts gewonnen: Die Welt bleibt die ungerechteste seit ihrer ersten Drehung, nie war mehr Krieg, Hunger, Krankheit, Ausbeutung, Zerstörung und so weiter.
Einige linke Forderungen sind heute gängig und akzeptiert, die Marx-Grundkritik bleibt zeitrichtig, die größeren Ideologiemodelle wirken allerdings eher als Manifeste denkbar, weniger in ihrer breiten Anwendung. Ein richtig strahlendes Update fällt also nicht leicht, weil die globalen wie unmittelbarsten Verstrickungen so ultrakomplex erscheinen. Das Wort des Jahres 2011 hieß „Demonstrant“. Ein Demonstrant, der am modernsten kämpfte und am wenigsten Gesicht zeigte. Als „aggressives Schweigen“ beschreibt der slowenische Philosoph und Star-Kulturkritiker Slavoj iek das Vorgehen der Occupy-Bewegung, die sich folgerichtig nicht sofort mit Führungspersönlichkeiten, Thesenkatalogen oder Richtungsposen vermedialisiert (und sich damit nicht zeitgleich wieder abschaffen lässt). Die nordafrikanischen „Facebook-Revolutionen“ waren als kommunizierend verbreitendes Phänomen tatsächlich (Internet-)heutiger als alles zuvor, aber auf die Stadtplätze, die Agora, kamen immer noch echte Menschen, mit konsequenten Körpern. Eine der außergewöhnlich vielen Teilnehmerinnen bei einem Theaterprojekt über heutige Protestmöglichkeiten antwortete mir neulich, als ich sie (sehr allgemein) zu ihrer Einschätzung zum Überbegriff Utopie befragte: „Ich glaube, unsere Utopie ist bereits das hier, jetzt, wo wir mit so vielen überhaupt erst einmal zusammengekommen sind, um gemeinsam etwas zu beginnen, woran offensichtlich allen wirklich etwas zu liegen scheint.“
Ich empfinde die (erst auf den zweiten Blick zusammengehörenden) Empörungen 2011 in Tel Aviv, London, Madrid, den USA, in Frankfurt und anderswo, die Aktionen der Frauenrechtlerinnengruppe Femen, das Manifest der Gaza Youth, die chinesischen Proteste, das neue russische Dagegenhalten etc. und auch den Arabischen Frühling als Beginn. Das Schnittzentrum ist dabei eine große Sehnsucht nach verlorener, direkter Teilnahme an politischen Prozessen. Das macht Hoffnung auf wieder viel mehr aktive Verabredung. Und, keine Angst: Onkel Berner ist da, wo wir uns immer am liebsten getroffen haben, früher auch schon nicht hingekommen.
Schorsch Kamerun, 48, bürgerlich Thomas Sehl, wurde als Sänger der Hamburger Punk- und Avantgarde-Rockband Die Goldenen Zitronen mit Alben wie „Das bisschen Totschlag“ und Songs wie „Alles was ich will (ist die Regierung stürzen)“ bekannt. Daneben machte er sich auch als Theaterautor und -regisseur einen Namen.
Ist Jesus ein Linksextremer?
Von Lothar König
Hier ist der Lothar König, JG-Stadtmitte, Jena, Pfarrer, der mit der Hausdurchsuchung und der kriminellen Vereinigung, Paragraf 129. Jetzt aber bin ich nur noch angeklagt wegen schwerem aufwieglerischen Landfriedensbruch, Paragraf 125. Wobei, 125 ist auch nicht zu verachten, der geht immerhin bis zehn Jahre. Eigentlich ist mir das zu viel, weil, na ja, in DDR-Zeiten haben wir mit bis maximal drei Jahren gerechnet. Das kann man absitzen, dachten wir, damals in der DDR. Ich soll was zu „links“ schreiben, was das heute heißen könnte.
Das aber weiß ich auch nicht so genau. Ich stell mir darunter immer etwas vor, das besser ist als rechts. Warum? Na ja, die Linken sind mir, wenn es darauf ankommt, doch lieber als die Rechten. Vielleicht, weil sie weniger Mist gebaut haben als die anderen. So kommt es mir vor. Die Rechten sind ja zumeist die Herrschenden oder, wie man heute sagt, die Regierenden. Also die Reichen, die Mächtigen. Und da soll man immer machen, was die sagen. So habe ich das kennengelernt, schon in der Schule, damals in den 60er-Jahren.
Und dann kamen die Stones, und auch die Beatles, Janis Joplin, Hendrix, Cream … Hey, da war was los. Die haben das einfach nicht mehr in den Griff bekommen, die Lehrer nicht und auch nicht die Polizei. Was haben die mit uns alles angestellt: Haare abschneiden, Jeans verbieten, in die FDJ eintreten. „Freie Deutsche Jugend“ hieß das, aber das hat niemand geglaubt. Frei waren wir in der Musik. Das hat Spaß gemacht, was für eine Energie, so eine richtige Lebensfreude. Ich war 15 und alles lag vor mir. Ich höre noch heute Stones. Wobei, glaube ich, so richtig links sind die Stones auch nicht, vielleicht ein bisschen.
Ich komme ja vom Dorf. Da gab es Kühe, Schweine, Pferde und so. Alles Mögliche, nur Linke gab es nicht. Am Dorfrand vielleicht ein paar alte Sozis, aber die hatten es schwer. Ich glaube, die haben es immer schwer, weil, na ja, die gehören nirgendwo so richtig hin, hat mein Opa immer gesagt. Und dann gab es noch die Partei, die, die immer recht hat. Doch das haben nicht einmal die Genossen geglaubt. Aber einer muss uns ja regieren, das ist nun einmal so, sagte mein anderer Opa. Der wollte lieber den Kaiser wieder. Ich aber wollte weder das eine noch das andere, und dass es immer so bleiben muss, wie es ist, hat mich auch nicht überzeugt.
Irgendwann hab ich niemandem mehr geglaubt. Und dann bin ich zur Kirche gegangen, wollte Jugendarbeit lernen. Da haben wir Marx gelesen und Dutschke, Trotzki und all so Zeug und ab und zu auch die Bibel, Dorothee Sölle und die Befreiungstheologen. Das war ein ziemliches Wirrwarr, und ich hab auch nicht alles verstanden. Aber es war wahnsinnig interessant und spannend. Und dieser Jesus kam ins Spiel, wir waren ja in einer kirchlichen Ausbildung. Ich glaube, da habe ich das erste Mal was von „links“ mitgekriegt.
Jesus. Was für eine faszinierende, widerspenstige, selig arm anziehende Gestalt. Ecce homo. Ein Mensch. Ein Menschenkind. Gottes Sohn. Was denn sonst. Ein Unruhestifter, ein Unangepasster. Ein Gottesleugner. Ein Staatsverbrecher. Ein Jude. Von den Herrschenden angeklagt. Von der Menge verachtet. Von Freunden verlassen. Den Söldnern ausgeliefert. Ans Kreuz geschlagen. Fertiggemacht. Ein Verlierer. So macht man das. Wie denn sonst?
Und dieser Jesus soll leben, soll auferstanden sein? Was für ein Blödsinn, hab ich gedacht. Erst nach und nach hat es bei mir gedämmert. Da meldet sich einer zu Wort, der nicht unterzukriegen ist. Da gibt es neben der herrschenden Geschichte noch eine ganz andere. Eine Geschichte voller Musik, voller Freiheit, von unendlichen Wäldern voller Sehnsucht und sonnengelbem Strand. Und der Himmel geht auf und leuchtet wie Unendlichkeit. Und denen, die im Finstern wandeln, scheint ein großes Licht.
Der Grundschlag der Bibel heißt Freiheit. So fängt es an, als ein paar Verrückte meinen, Sklaverei ist nicht in Ordnung. Und sie sagen es auch noch laut. Und weil sie keiner hören will, hauen sie ab, lassen die Knechtschaft hinter sich. So steht es jedenfalls in der Bibel im ersten Gebot: Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Und dann dieser Jude. Wenn es nach ihm geht, werden die Mächtigen von den Thronen gestürzt. Und er will ein Feuer anzünden auf Erden; am liebsten ist es ihm, wenn es schon brennte.
Ich denke ja, dass dieser Jesus nach heutigen Maßstäben ein Linksextremist ist. Und die Kirche ist dann eine terroristische Vereinigung, Jedenfalls staatstragend sind sie beide nicht.
Was für ein Leben. Wie das in den Herzen brennt. Hey, was da losgeht. Und nur noch dieser eine Gott der Freiheit und keine andere Herren mehr als nur dieser Eine, den sie gekreuzigt haben. Und Recht fließt wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Und keine Angst ist mehr, vor nichts und niemanden. Nur noch Musik. Und eine tiefe Sehnsucht.
Wenn das links ist, dann will ich das so verstehen. Im Jahr des Herrn 2012.
Lothar König, 57, ist Pfarrer in Jena, wo er den Jugendtreff JG-Stadtmitte leitet. Der evangelische Theologe sitzt zudem für die Vereinigung „Bürger für Jena“ im Stadtrat. Der Jugendpfarrer engagiert sich sehr aktiv gegen Neonazis, was ihm 2011 eine Hausdurchsuchung und den Vorwurf des „Landfriedensbruchs“ von der Dresdener Staatsanwaltschaft einbrachte.
Demokratisiert die Demokratie!
Von ROBERT WYATT
Ich komme aus der mündlichen Tradition und schreibe wie ein Fisch an Land! Und es ist nicht meine Art, öffentliche Erklärungen abzugeben. Musik ist die einzige Sprache, in der mein Geist zu funktionieren scheint und natürlich fließt. (Ich denke, das „Kommunistische Manifest“ ist ein stilistisch so untypisch umständlicher und unbequemer Text, weil es eine Auftragsarbeit war und kein spontaner Beitrag von Marx). Aber vermutlich ist meine Eitelkeit groß genug, eine Frage zu beantworten, wenn man mich schon fragt. Was ist heute links?
Die Herkunft der Begriffe Links und Rechts in der Politik hat offenbar seinen Ursprung in Frankreich: Der Vorsitzende einer Versammlung einflussreicher Leute platzierte seine engsten Verbündeten stets zu seiner Rechten, die anderen zu seiner Linken. Die Rechte stand also für die Aufrechterhaltung der konservativen gesellschaftlichen Ordnung, die Linke stellte eine Bedrohung für sie dar. Die Linken sind also nach meinem Verständnis einfach diejenigen, die nicht einverstanden sind mit dem Status quo.
Wir glauben, dass die moderne Welt durch Karl Marx leichter zu verstehen ist. Wir glauben, dass er recht hatte mit dem, was falsch lief und läuft. Aber die Linken, die ich kenne, glauben nicht, dass die marxistischen Versuche, Aussagen über die Zukunft zu treffen, besonders viel Nutzen haben. Nicht mehr als wenn Charles Darwin versucht hätte, vom genauen Studium der evolutionären Entwicklungen auf zukünftige Arten zu schließen. Es ist ja schon schwer, Beobachtungen zum aktuellen Zustand der Linken zu machen. Sie ist wie das Wetter, zu jeder Zeit, an jedem Ort ist sie anders – und immer ist sie im Zustand des Flusses. Man könnte den Eindruck bekommen, sie befinde sich zurzeit – zumindest in unseren Breiten – im Aufwind. Aber ich muss dabei an einen Ausspruch von Mao Tse-Tung denken, der gefragt wurde, ob die Französische Revolution ein Erfolg gewesen wäre. Er antwortete: „Es ist zu früh, dazu etwas zu sagen.“
Natürlich sind wir erleichtert, dass so viele Menschen auf der Welt so ein gutes Verständnis davon haben, wie moderne Politik funktioniert, wie die Ökonomie funktioniert und wer in deren Namen die Drahtzieher sind und wer die Marionetten. Aber wir sehen auch, dass bisher keinerlei politische Macht von den Superreichen und ihren politischen Verbündeten auf die Opfer und die Vertretung ihrer Interessen übertragen wurde. Es ist zu früh, dazu etwas zu sagen. Was die leichten Linksverschiebungen in den Haltungen der großen etablierten Parteien angeht: in England, so erzählt uns unsere Geschichte, hat so etwas keine große Bedeutung. Die Parteien haben nur unterschiedliche Namen, um eine fiktionale Täuschung zu repräsentieren: die gemeinsame Annahme, dass wir in einer pluralistischen Demokratie leben.
In gewisser Weise bin ich im wahrsten Sinne des Wortes ein Reaktionär: Ich kann die erlebte Wirklichkeit nicht von einer abstrakten Idee her denken. In der Regel arbeite ich andersherum, ich reagiere auf die Erfahrung – mit einer Idee.
Die Geschichte der modernen Welt wird von Medienmagnaten, die wiederum von der Wirtschaft abhängig sind, die sie mit Anzeigen und sogar direkter Inhaberschaft finanzieren, in das Bewusstsein der breiten Masse gestopft. Zudem schließen – vor allem in den USA – diejenigen, die sich zur demokratischen Wahl stellen, einen faustischen Pakt mit denjenigen, die genügend Geld haben, um ihre Kampag-nen zu finanzieren. So stärkt also die gewählte Regierung am Ende die Macht der nicht gewählten Superreichen. Doch nur eine konsequente unabhängige Regierung könnte wirklich etwas verändern.
Emotional wie ich nun mal bin, mich unwohl fühlend mit dem Zustand der Welt, reagiere ich. Nicht, weil ich glaube, ich wüsste, wie man das Wissen oder die Demokratie selbst demokratisieren kann, sondern einfach, um meine geistige Gesundheit zu retten. Wie ich reagiere? Indem ich einfach versuche, durch die Täuschungen und Tarnungen des konservativen Establishments zu schauen und davon zu berichten, wenn sich die Möglichkeit ergibt. Manchmal in Musikstücken. Welchen Sinn das hat? Keine Ahnung. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Platten zu machen. Ein Fisch im Wasser.
Robert Wyatt, 67, wurde in den 60er-Jahren als Schlagzeuger und Sänger der englischen Band Soft Machine bekannt. Als Solokünstler pendelt er zwischen Jazz, improvisierter Musik und Pop, viele seiner Stücke beschäftigen sich mit Politik und kommunistischer Tradition. Sein aktuelles Album heißt „Comicopera“.
Die Heimat des schlechten Stils
Von Jörg Thadeusz
Endlich war es so weit. Auf diesen Moment hatte ich lange gewartet. Endlich konnte ich einem Afrikaner sagen, wie sein Kontinent zu retten ist. Die Lösung war gar nicht schwer zu finden. Ein paar Abende in einer Dortmunder Kneipe hatten gereicht, wo zwischendurch immer mal wieder sandinistischer Polit-Pop lief. Selbst gedrehte Zigaretten, Bier um Bier ein gehörigen Schluck klüger.
Mein Gastgeber David in Kampala, Uganda, trank keinen Alkohol. Er hatte in den USA Wirtschaft studiert und war stellvertretender Chefredakteur einer oppositionellen Zeitung. Was auch damals, Mitte der 90er-Jahre, eine weit gefährlichere Beschäftigung war, als sich in seiner Freizeit in Gorleben an die Gleise zu ketten.
Als ich meinen Kurzvortrag beendet hatte, sah mich David ratlos an: „Und was soll das sein, ‚der afrikanische Weg‘?“, fragte er. Warum sollten sie in Afrika weniger Geld verdienen, als in Asien gescheffelt wurde? Warum sollten sie nicht einfach versuchen, zu den europäischen Ländern, zu den USA, zum Westen aufzuschließen? David hatte Fragen, auf die ich nicht vorbereitet war. Vor einem Ostermarsch-Publikum zu Hause hatte es immer gereicht, irgendwas Solidarisches mit Afrika zu sagen.
Wenn hin und wieder ein junger Mensch der deutschen Occupy-Bewegung zu Wort kam, befürchtete ich, das Erlebnis auf Davids Terrasse noch einmal nacherleben zu müssen. Und so war es dann auch. Dritter Weg, raus aus der Wachstums-Ideologie, so kann es nicht weitergehen, das ewige Mantra jedes linken Kaffeekränzchens.
Der Zorn in der Stimme. Das gepeinigte Gesicht. Die gandhihafte Opferbereitschaft, mitten an einem kühlen Tag in einer deutschen Innenstadt in einem Zelt Thermoskannen-Tee zu trinken. Die pure Attitüde muss zum Überzeugen reichen.
Von links kommt kein Gedanke, der so bestechend ist, dass man erst einmal schweigend darüber nachdenken müsste. Es gibt auch schon überhaupt keine linken Persönlichkeiten, denen ein solcher Gedanke zuzutrauen ist. Die rufen keinen Wettbewerb der Ideen aus, wie es mit unserem historisch einmaligen Wohlstand weitergehen könnte. Zum einen würden die das Wort „Wettbewerb“ nicht freiwillig in den Mund nehmen. Zum anderen fühlen sie sich in einem Dunst von Herablassung am wohlsten. Aufgepumpt mit moralischem Dünkel, staksen sie wie ideologische Bodybuilder durch die Gegend. Thilo Bode von Foodwatch, der aus dem Fernsehen jeden Zuschauer vorwurfsvoll anglotzt. Ich höre förmlich, wie er mir zuraunt: „Du Abfallfresser, du“. Oder Ihre moralische Eminenz, der Weltfriedenspolitiker Gregor Gysi. Zu dessen politischen Lebensleistungen man zusammenzählen muss, dass er es geschafft hat, sechs Monate Wirtschaftssenator in Berlin zu bleiben. Und dass er ein paar Wochen vor Rosenmontag alljährlich einen Umzug zum Grab Rosa Luxemburgs organisiert. Zwischendurch holt er sich in einer Fernsehtalkshow immer gerne einen Applaus ab. Den gibt es günstig. Er muss nur einmal „Deutschland muss wieder sozial gerechter werden“ rufen. Dann klatschen die Leute, die durch die Lektüre von Margot Käßmanns Büchern zu ihrem inneren moralischen Kompass gefunden haben.
Wer von dem Spitzenpersonal, das sich für links hält, kommt denn zwischen der ewigen Entrüstung und der lärmigen Besserwisserei zum Denken? Andrea Nahles, die sich in Berliner Runden mit der sedierenden Kraft ihres Vortrags selbst betäubt und sich sonst noch an die Jacke heften kann, durch pure Ungeschicklichkeit schon den SPD-Vorsitzenden Müntefering gestürzt zu haben? Verdi-Chef Frank „First Class“ Bsirske, der mit der Lufthansa – bei der er im Aufsichtsrat sitzt – gerne gratis erster Klasse in den Urlaub fliegt, wenn gerade kein Klassenkampf ansteht, den er mit seiner rhetorischen Wucht eines T-Punkt-Filialleiters befeuern könnte? Sigmar Gabriel, der mit seiner gelegentlichen Halunkigkeit daran erinnert, dass links von der Mitte auch oft der schlechte Stil zu Hause ist?
Doch, es geht auch um Personen. Erst als Tony Blair die Labour Party übernahm, fanden sich die britischen Sozialdemokraten zu ihrer eigenen Überraschung wieder gegenseitig sexy. Weil er den richtigen Ton getroffen hat, konnte der sanfte Sozialist Zapatero die Spanier in Richtung Moderne schleifen. Die bekannten deutschen Linken sind aber nur selbstgefällige Schaulustige. Sie schlendern hocherfreut durch die rauchenden Trümmer ehemaliger konservativer Gewissheiten. Kleinfamilie war gestern, heute kuscheln Patchworker. Die Atomkraft ist erledigt und in Stuttgart ein konservativer Ministerpräsident auf den Thron gehoben, der mit der CDU nichts am Hut hat.
Zur linken Folkore gehört seit Jahrzehnten, immer alles und jeden „irgendwie“ zu verstehen. Dann verstehe ich jetzt, dass nach den vielen Siegen nicht erstaunen kann, wenn „links“ heute vor allem langweilig ist.
Jörg Thadeusz, 43, ist Radio- und Fernsehjournalist. Im RBB-Fernsehen moderiert er die Interview-Sendung „Thadeusz“ und die Talkshow „Dickes B“, bei Radio Eins leitet er die Sendung „Die Profis“. Für seine Reportagen bei „Zimmer frei!“ erhielt er den Grimme-Preis.