Was ist britisch? BILLY BRAGG denkt darüber seit Jahren nach – und schrieb jetzt sogar ein Album zum Thema
Schön ist das nicht. Da kommt Billy Bragg in sein Hotelzimmer und muss einen Pizza-Fast-Food-Flyer sehen, der die Frage stellt: „“Should I Stay Or Should I Go?“ Ausgerechnet! Ein Lied seiner Lieblingsband als Werbeslogan. Er schüttelt einige Sekunden fassungslos den Kopf und reißt sich dann wieder zusammen. Schließlich soll es jetzt um sein neues Album „“England, Half English“ gehen, und da spricht er gern und besonders deutlich, damit man auch versteht, was ihm am Herzen liegt FünfDenkstränge des Sozialisten, Internationalisten und Optimisten:
Identität und (Inter-)Nationalismus. “ „Es ist fast unmöglich zu definieren, was ‚britisch‘ bedeutet. Das Entscheidende an Großbritannien ist seine Unterschiedlichkeit. Wir brauchen hier keinen Nationalismus, sondern eine persönliche Identität und Internationalismus. Die Nationalisten erzählen uns gern, was englisch ist – und dabei geht es immer um Hautfarbe, Religion und solche Dinge. Das interessiert mich nicht – mich interessieren die Ziele und Ideale der Menschen.“
Euro. „“Ich bin dafür. Ich hatte mir eine Abstimmung darüber erhofft. Und ich fühle mich von meinem Land verraten, wenn die Menschen darüber diskutieren, was durch den Euro-Beitritt passieren könnte, und die Situation mit 1940 vergleichen. Es gibt viel Germanophobie in England. Die Rechten denken, die Bundesbank hat den Euro erfunden, um Europa zu erobern. Das ist so peinlich. Aber die Mehrheit der jüngeren Leute denkt nicht so, die reden lieber über Fußball. Briten sind eben aus Tradition vorsichtig. Wir waren immer spät dran. Die ersten drei Weltmeisterschaften haben wir nicht mitgemacht. Das ist doch für Ausländer! Britannien ist wie eine argwöhnische alte Frau.“ Stadtflucht und Zynismus. „“Über meinen Umzug aufs Land sage ich gern: Ich bin von London nach England gezogen. In London sieht man ja praktisch keine Tories, in Dorset schon. Und was für welche! Nicht zum Zyniker zu werden, ist da ein ständiger Kampf. Zynismus ist wie ein Bauch – er wächst jeden Tag, wenn man nicht aufpasst Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich sage: ‚Ein Zyniker würde sagen…‘ Aber ich will nicht aufgeben. Zynismus ist so kontraproduktiv, wenn man die Zukunft für ein Land im Auge hat. Ein schlimmerer Feind als die Konservativen.“
Politische Songwriter. „Ich würde zurzeit nicht als politischer Songwriter anfangen wollen. Es gibt keine Ideologie, über die man schreiben kann, und so gut wie keine politische Diskussion, zu der man beitragen kann. Dann kam plötzlich der 11. September. Aber darüber einen Song schreiben? Shit, wo fangt man da an? Selbst ich kann jetzt noch nicht darüber schreiben. Ich konnte auch jahrelang nicht über Nordirland schreiben. Sowas braucht Zeit.
Doch ich habe die Erfahrungen aus dem Minenarbeiter-Streik, das hat mich politisiert. Davor hatte ich Punkrock. Das ist jetzt fast 25 Jahre her. Aber heuteall diese hüpfenden Bands mit den langen Shorts und Ziegenbärten sind nur wütend darüber, dass sie weiß, Mittelklasse und Amerikaner sind. Das sind doch keine Probleme!“
11. September. „Ich glaube, die Idee, dass wir jetzt alle New Yorker sind, ist falsch. Tatsächlich sind die New Yorker nun wie wir. Sie sind die Leute von Dresden, von Coventry, von Guernica. Etwas unfassbar Schreckliches ist ihnen passiert, in ihrer eigenen Welt. Unschuldigen Menschen. Wir haben das im 20. Jahrhundert erlebt Somalia hat es auch erlebt. Aber die Amerikaner eben nicht – bis das passierte. Und es zeigt einem: Die Politik findet dich, wo immer du bist. Es mag dich noch so wenig interessieren, aber du bist mittendrin. Ich möchte in den nächsten Monaten den Amerikanern erklären, dass der 1. Januar mit der Euro-Einführung wichtiger war als der 11. September. Zumindest für unsere Zukunft. Die Welt hat sich am 1. Januar mehr verändert als am 11. September.“
Der Mann hat nicht nur Hirn und Herz, er hat auch Nerven.