Was die Buhrufe für Helene Fischer im Berliner Olympiastadion wirklich bedeuten
Ob es nun stimmt oder nicht, dass das Pfeifen der Fans von der ARD ausgeblendet wurde: Der DFB hat am Samstag eine Lektion in Sachen Event-Kultur bekommen.
Helene Fischer ist ein Vollprofi. Das weiß man nicht erst seit gestern. Wie sie die ächzend-lauten Pfiffe der überwiegenden Mehrzahl der 76.000 Fußballfans im Olympiastadion in Berlin während ihres „Halbzeitshow“-Auftritts ignorierte, darf man durchaus bewundern. Bei ihrem nächsten Gastspiel in der Arena im kommenden Jahr werden ähnlich viele Zuschauer dabei sein – doch Buhrufe wird es dann nicht noch einmal geben.
Das liegt schlicht und einfach daran, dass sie sündhaftteure Karten für ein Konzert der zur Zeit bekanntesten deutschen Sängerin gekauft haben und nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen mussten, um irgendwie an ein Ticket für das stets ausverkaufte Pokalendspiel zu bekommen. Denn darüber diskutiert Deutschland seit dem beunruhigenden Pfeifkonzert am Samstag: Brauchen wir wirklich bei Sport-Events wie dem DFB-Pokalfinale eine Halbzeit-Sause im Stile des „Superbowl“ im American Football?Helene Fischer: Fade Playback-Show
Zahlreiche Tweets verärgerter Fußball-Anhänger deuten darauf hin (möglicherweise hatte Helene auch zuvor lautstark der falschen Mannschaft die Daumen gedrückt). Aber hatten viele Deutsche nicht auch wegen des WM-Erfolgs der Deutschen 2014 in Brasilien „Atemlos“ von Helene Fischer auf den Lippen? Plötzlich wollen sie von ‚ihrer‘ Hymne anscheinend nichts mehr wissen!
Die Erfolgssingle, die längst ein Eigenleben in Diskotheken, Fitnessstudios und auf Hochzeiten entwickelt hat, wurde damals angeblich in der Kabine gespielt, damit sich die Spieler vor ihren harten Duellen gegen die Weltelite aufputschen konnten. Fischer ließ es sich deshalb auch nicht nehmen, ihren Hit bei der Präsentation der Weltmeistertrophäe in der Hauptstadt noch einmal für die Massen zu schmettern.
Hier ging deutsche Wertarbeit Hand in Hand: die erfolgreichste Fußballtruppe der Welt wird akustisch unterstützt von der erfolgreichsten und in allen Medien überpräsenten Performance-Künstlerin Europas. Vielleicht ist diese Verbindung nicht ganz so zufällig entstanden, wie im Nachhinein behauptet wird. Der DFB hat in den letzten Jahren viel Geld und Ressourcen darin investiert, das eigene Image zu pflegen und als Erfolgsprodukt zu vermarkten. Man ist nicht mehr die Nationalelf, sondern heißt „Die Mannschaft“. Was im Falle von anderen Teams des Weltfußballs mit der Zeit entstand (Frankreich: Equipe Tricolore; Italien: Squadra Azzurra; England: The Three Lions), muss den Deutschen erst als Marke aufgezwungen werden. Und so sollte auch Helene Fischer den passenden Sound für die erfolgsverwöhnten Kicker liefern.
Schlechte Akustik im Olympiastadion
Unglücklicherweise sang die Musikerin dann noch nicht einmal live. Was im Fernsehen kaum von Bedeutung ist, weil das von der aufwändigen Regie-Inszenierung sedierte Publikum die üblichen Bilder und Töne bereits aus dem Fernsehgarten kennt, ist im Olympiastadion in Berlin ein Problem. Denn die Akustik ist in der Anfang der 2000er aufwändig restaurierten Arena alles andere als gut. Fans von U2, Coldplay und anderen Stadionbands, die dort auftraten, können ein Lied davon singen. Der Sound verschwimmt zu Brei. Und so tat er es auch am vergangenen Samstag. Nach einer packenden ersten Halbzeit, einer der besten der letzten Jahre, stand also wohl keinem Besucher der Sinn danach, eine viel zu perfekt durchchoreographierte Show zu beklatschen. Die Fans der Eintracht und des BVB sparten sich das Klatschen lieber für die zweite Hälfte.
Außerdem ist im Olympiastadion von den oberen Rängen aus ohne Fernglas kaum etwas zu erkennen. Das ist in den modernen Sportstadien in den USA beim American Football anders – und in Deutschland in fast jeder anderen Bundesliga-Stadt auch. Für die zahlenden Zuschauer im Stadion muss Helene Fischers Auftritt deshalb wie ein schlechter Witz dahergekommen sein.
Von der Hand zu weisen ist aber trotz allem nicht, dass die längst zum Hype aufgeblasene Erfolgsgeschichte der 32-Jährigen in diesen Tagen ein paar erste, wenn auch kleine Risse bekommt. Das ist insofern bemerkenswert, als dass es bei Fischer schon lange nicht mehr darum geht, ob sie einige gute, neue Songs auf den Markt wirft. Nach den üblichen Standards des Marktes hat die Sängerin geliefert: „Herzbeben“ erfüllt all die Kriterien eines durchkonfektionierten Schlager-House-Stampfers, wie man ihn von Fischer erwarten durfte. Doch die gebürtige Russin ist eben schon lange keine Künstlerin mehr, sondern ein marktwirtschaftliches Modell, eine beliebig beschreibbare cash cow.
Ist der Helene-Hype schon vorbei?
Vor wenigen Tagen hatte die 32-Jährige praktischerweise ihre neue, selbstbetitelte Platte auf den Markt gebracht und ist nun auf Werbetour. Verschweigen lässt sich dabei nicht, dass das über Monate geplante und nach außen hin sattelfest wirkende Konzept ihrer Plattenfirma (Polydor) durchaus von einigen unguten äußeren Bedingungen durchgeschüttelt wurde. Helene Fischer spielte bei der Aufwärm-Party für den ESC in Hamburg – und die Wolken verfinsterten sich. Es blitzte, es donnerte. Dafür kann Fischer nichts. Im Grunde auch nicht für die Buhrufe, die ja eilig auf die nicht ganz passende Situation einer unerwünschten Halbzeitshow während eines bedeutenden Fußballspiels geschoben wurden. Danach kam dann erst einmal ein zahmer Auftritt bei Duz-Onkel Thomas Gottschalk, der die Pfiffe weltmännisch ansprach, aber – seine eigene Karriere reflektierend – auch Mut zusprach: Das passiert jedem in dieser Branche. Wegstecken, weitermachen.
Aber die neue LP von Helene Fischer will sich eben auch nicht mehr so gut verkaufen wie die Vorgänger, wo allein die Weihnachtsplatte der Sängerin in wenigen Wochen vor Jahresende 2015 so viel Umsatz machte wie ein Großteil der meisten anderen deutschen Musiker zusammen. Nach einer Woche ist „Helene Fischer“ schon wieder runter von Platz eins der Albumcharts. Möglicherweise fällt der europaweite Hype um Helene Fischer nun zu einer ganz gewöhnlichen deutschen Erfolgsgeschichte herab. Dass dies in den Medien mit heißer Nadel diskutiert wird, liegt aber vor allem daran, dass im Grunde fast jeder in den Medien eine Scheibe vom Helene-Kuchen abschneiden wollte – und der Overkill nun langsam, aber sicher erreicht ist.