Warum Sie unbedingt das neue Album von King Krule hören sollten
Spätestens seit seinem zweiten Album wird King Krule als gefährdetes Junggenie gefeiert. Nun ist er fast 29, Vater einer Tochter – und seine Songs explodieren vor Fantasie und Inspiration
Es ist noch keine zwei Jahre her, als auf YouTube dieser Satz unter einem Video von King Krule gepostet wurde: „Bitte Gott, lass ihn die 27 überstehen“. Mehr als 6.000 Leute haben diese Bitte zum Song „Has This Hit?“ mit einem Like-Daumen versehen. Archy Ivan Marshall, wie King Krule bürgerlich heißt (und wirklich nicht Archibald!), galt mit Veröffentlichung seines ersten Lieds 2010 als Wunderkind – das größte von der britischen Insel seit Roddy Frame. Als Sorgenkind aber galt der damals 16-Jährige auch. Der Mann mit dem Ron-Weasley-Pagenschnitt kämpft seit seiner Jugend gegen Depressionen, und manche befürchteten, er könnte sich dem „Club 27“ anschließen: begnadete Künstler wie Kurt Cobain oder Jimi Hendrix, verstorben in jenem Alter. Es gibt hierzulande TV-Sendungen, die drehen sich nicht um Marshalls Musik, sondern um seine psychische Verfassung. Seine Offenheit macht ihn zum Vorbild.
Nun wird Marshall 29, und er sagt: „Ich fühle mich okay!“. Außerdem hat er eine Tochter, die bald drei Jahre alt wird: „Mir ist bewusst, dass meine Kompositionen nun auch von einer weiteren Hörerin wahrgenommen werden.“ Er spricht von „Excitement“, „Aufgeregtheit“, es ist das einzige Mal im Gespräch, das sich seine Stimme anhebt; sonst blickt er meist zu Boden und spricht zurückhaltend. Darauf kann man sich zumindest einstellen, schließlich tragen Marshalls Arbeiten Titel wie „Hello World“ oder „Man Alive!“. Es sind seine bestmöglichen Versuche, kommunikative Unzulänglichkeiten zu rechtfertigen.
Mit „Space Heavy“ veröffentlicht King Krule, der als „Stimme einer desillusionierten Generation“ und „Sprachrohr der Millenials“ gefeiert wird, sein viertes Album. Marshall ist sein eigenes Genre. Die gebellte Intonation erinnert an Black Francis (es gibt von Fans angefertigt Ton-Collagen, die sich nur seinen Ausrufen widmen), der Jangle erinnert an Orange Juice, manche Harmonien an Miles Davis, die elektronischen HipHop-Verfremdungen an Flying Lotus. Er singt von Emanzipation – damals über Abnabelung vom Elternhaus, heute davon, dass es normal ist, nicht normal zu sein. „Space Heavy“ ist so gut wie alle Platten davor; sein zweites Werk „The Ooz“ wurde 2017 von ROLLING STONE zum Album des Jahres gewählt, da war Marshall gerade mal 23. Eine Karriere, die zu implodieren drohte, da King Krule sich nicht als Rollenmodell verstanden sehen möchte. In Interviews sprach er davon, dass die Welt ihm manchmal zu schwer würde. Nicht mehr viele Jahre, dann wird Archy Marshall der Musiker sein, der die Hälfte seines Lebens als eine öffentliche Person verbracht hat, von der man weiß, dass es ihr so gut wie nie richtig gut ging.
Nun sieht er sich anscheinend in Topverfassung, oder, um es in der Fußballersprache zu sagen – er kann jetzt seine Leistung abrufen. Die Analogie zum Sport zieht er selbst: „Mit 28 bin ich im besten Fußballeralter. 28 markiert die Bestform. Rohes Talent hat sich zu Stärke und Selbstbewusstsein weiterentwickelt. Herausforderungen werden zu Routinen. Ich sehe die Dinge jetzt so deutlich, wie noch nie.“
Marshall machte eine harte Kindheit durch, wie aus einem Charles-Dickens-Roman, mit Krankenhausaufenthalten, Diagnosen und Schulbesuchsverweigerung. Das Video zu seiner neuen Single „Seaforth“ hat Hunde als Hauptdarsteller, die eine Vater-Sohn-Beziehung nachstellen. „Keine Lust auf Menschen gehabt“, sagt Marshall. „Als Kind war ich oft wütend. Lief in mein Zimmer, schloss mich ein. Mein Hund wartete dort auf mich. Ich sah ihm in die Augen. Er verstand mich.“ „Seaforth“ zeigt viele Großaufnahmen trauriger, aber verständnisvoller Hundeaugen.
Ihm ist bewusst, dass die Wahrnehmung seiner Musik mit seinem Alter zusammenhängt. „Als Teenager galt ich als rebellisch. Jetzt bin ich fast 30, und manche denken, wenn ich noch immer diese Texte singe, sei ich nicht mehr rebellisch, sondern zynisch und verdrossen.“ Es gibt eine banale Frage, aber in ihrer Direktheit führt sie manchmal zu unerwarteten Antworten, deshalb: Wie geht es Dir eigentlich jetzt gerade? Marshalls Replik ist bemerkenswert, denn sie fängt im Kleinen an und verbindet das Kleine urplötzlich mit dem Großen: „Heute war ein stressiger Tag, ich habe keine Freizeit mehr … und das führt bei mir zu Chaos. I’m in random collision with different forces.“ Banale Alltagsorganisation wird zur existenziellen Angelegenheit.
Seit Marshall Vater ist, pendelt er zwischen London und Liverpool. „Mir gefällt das Image des Musikers, der mit seiner Gitarre den Zug besteigt. Aber die Gitarre nehme ich nicht mit“. Er habe andere Instrumente dabei: Stift, Papier, ein Notizbuch. Er betrachtet dann die vorbeiziehenden Landschaften, fängt an, in Musik zu denken. „Mein größter Einfluss? Nicht die Musik der anderen. Mein größter Einfluss ist das Gespräch.“ Obwohl Marshall schüchtern ist, mag er es angesprochen zu werden, weil sich daraus Material für seine Lieder ergibt. Er spricht dann von „Feeding the Dragon“ – sich selbst kreativen Nährstoff zuführen, ihm, den Drachen, der mit seinen Songs Feuer speit.
Gibt es keine Lieder, die er vor den Aufnahmen zu „Space Heavy“ gehört, keine Filme, die er sich angesehen hat? „Ich höre viel Beatles. Aber sie haben mich für das Album nicht inspiriert.“ Marshall schaut auch viel fern. Er mag britisches Kino („‘The Banshees of Inisherin‘, oder wie auch immer der heißt!“), er mag asiatisches Kino, verweist auf Wong Kar-Wais Gesamtwerk sowie Takeshi Kitanos Thriller „Boiling Point“, der wohlgemerkt ohne Soundtrack auskommt. „Und Horrorfilme. Trilogien. Die ‚Conjuring‘-Trilogie etwa.“ Eine frühere King-Krule-Single heißt „Alone, Omen 3“, Marshall ist fasziniert davon, wie bösartige, ja teuflische Menschen höchste staatliche Institutionen durchlaufen, wie in der „Omen“-Reihe: „Satans Sohn will Präsident der Vereinigten Staaten werden. Das passt in unsere Zeit.“
„Ich mag dummes Zeug. Ich liebe Hamburger“
Man soll seine Lieder mit Humor nehmen können, auch wenn sich dieser Humor nicht von selbst erschließt. Hinter wuchtigen Titeln verbergen sich Insiderwitze, mit denen Marshall sich selbst auf die Schulter nimmt. Was ist eine „Tortoise of Independency“? „Die Schildkröte bin ich. Alle Menschen um mich herum bewegen sich schnell. Ich komme nicht mit. Will es auch nicht, ich bin unabhängig.“ Auch deshalb hat die Schildkröte einen Schutzpanzer – er hält Feinde aus, vor denen sie nicht wegrennen könnte. Ebenso macht Marshall sich lustig über die inflationäre Verwendung diagnostischer Begriffe, darunter solcher, mit denen er vielleicht schon etikettiert wurde. Phobiker etwa. Ein Stück heißt „Hamburgerphobia“, ist also ein Lied über den Ekel vor bestimmtem Fleisch – und die Fortsetzung des 2013er-Klassikers „Out Getting Ribs“? Keineswegs. „Ich mag dummes Zeug. Ich liebe Hamburger“, sagt er. Dann wird es gedankenschwer, und Marshall verzieht keine Miene: „Der Song handelt von der Unnatürlichkeit der Menschheit. Der Hamburger ist ein wahnwitzig zusammengestelltes Nahrungsmittel. Er benötigt etliche Ressourcen, um zubereitet zu werden.“ Kaum vorstellbar, dass jemand bei der aggressiven Post-Punk-Melodie von „Hamburgerphobia“ zu Prusten anfängt, aber auch dieses Lied ist ein Beispiel für die Gedankenwelt King Krules, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick wirkt.
Am Ende des Gesprächs muss Marshall doch einmal lachen. Weil man versucht, seine Kunst zu interpretieren. Das Albumcover von „Space Heavy“ zeigt eine außerirdische, rötliche Wüstenlandschaft, am Firmament ein lilafarbener Planet, und mitten im Sand ein riesiger, vom Himmel gefallener Amboss. Sinnbildliche Deutung: Der Erfolgsdruck als Amboss, eine schwere Last, die ihn, den Künstler, erdrückt. Damit ist man aber nur halb an der Wahrheit dran. Die ganze Wahrheit ist drolliger. „Ich habe mich an den Looney Tunes orientiert, Cartoons mit dem Road Runner und Wile E. Coyote“, sagt Marshall. Was man auf dem Bild nicht sehe: Der Amboss kam aus dem „Space“, ist „Heavy“, wurde abgeworfen, um jemanden zu zerschmettern. „Es gibt eine Albumcoverfassung, die wir nicht verwendeten“, sagt er. „Sie zeigt, wie Arme und Beine unter dem Amboss hervorlugen.“
Ob Marshall die Parallelen der Looney Tunes zu seinem eigenen Leben erkannt hat, gar mit diesen Parallelen spielt? Im Zeichentrick versucht der Kojote unergiebig und mit ausgeklügelten Fallen, den Rennvogel kaltzumachen. Und scheitert. Road Runner entkommt jedes Mal, bleibt unversehrt. Am Leben. Archy Marshall ist nicht der Drache, und er ist wohl auch nicht die langsame Schildkröte, selbst, wenn er das so sieht. Er ist der Road Runner, der weiß, was er tun muss, um der Gefahr zu entkommen – und immer weiterzumachen.
Sassan Niasseri