Warum elektronische Musik Babys ruhigstellt – und ob man die neue Teen-Schwemme ignorieren darf

In den 60er Jahren, ab Computer noch so groß waren wie Garagen, produzierte der amerikanische Komponist Raymond Scott in einem Heimstudio, das den gesamten Keller seines Hauses in New Jersey einnahm, elektronische Musik – ein Genre, das es damals außerhalb von E-Musik, Radio-Werbespots und Novelty-Aufhahmen gar nicht gab. 1963 veröffentlichte der ehemalige Big-Band-Leader, der schon in den 30er Jahren mit hysterischem Effekt-Jazz (unter anderem für Trickfilme) aufgefallen war, drei LPs mit Plucker-Rhythmen und Summ-Schleifen:

„Soothing Sounds For Baby“.

Die Reihe, die tatsächlich, wie der Titel suggeriert, für die Ruhigstellung von bis zu 18 Monate alten Frischlingen eingesetzt werden sollte, ist gerade wiederveröflentlicht worden. Angesichts der an aktuelle Ambient-Musik erinnernden Tracks wäre es einfach (aber der harmonisch-struktureller Unterschiede wegen falsch), über die heutige Elektro-Szene zu witzeln. Interessanter ist die Frage: Warum wurde ausgerechnet Musik für Babys elektronisch eingespielt?

Eine mögliche Antwort: der Klarheit des Klangs wegen. Babys brauchen bekanntlich Sicherheit durch Einfachheit und Offensichtlichkeit. Deshalb sind traditionelle Schlaflieder harmonisch simpel und werden von einzelnen, klaren Stimmen gesungen: Das äußerst minderjährige Publikum kann komplexere Strukturen (komplizierte Arrangements oder Kompositionen) nicht verarbeiten. Kein Klang aber ist sauberer als das von allen Unscharfen bereinigte, modulierte Brummen der Schaltkreise. Die musikalischen Komplementärfarben des reinen Klangs reiner Elektronik waren, ähnlich wie knallbunte Bilderbücher, das Abbild einer vereinfachten Welt für Babys, die die Vielfalt der Wirklichkeit noch nicht verstehen können. Zumindest 1963. Heute bestimmt dieser Klang die Charts.

Britney Spears, Backstreet Boys, Echt, all die Elektropop/Trashfloor-Interpreten, die gerade hoch in den Hitparaden stehen, bald auf der neuen „Bravo“-Charthits-CD verramscht und danach vergessen werden, all die fragmentarischen Minimalmelodien zu simpler Rhythmik, sind in Struktur, Komposition und Sound Kinderlieder. Was an sich völlig in Ordnung ist: Außer Kindern muß ja niemand diese CDs kaufen. Und wenn es die Lütten für ein paar Tage happy macht – prima!

Doch dies ist nur die halbe Geschichte. Denn was in den Charts steht, ist in den Medien, und von da ist es nicht weit bis ins allgemeine Bewußtsein. War in den 70er Jahren ein Hit der Bay City Rollers noch ein Spaß für Kids, den kein Erwachsener kannte, kennt heute jeder die Songs von Take That, den Backstreet Boys oder eben Britney Spears. In Radio, TV und Print sind die Barbie-Interpreten so lange präsent, bis sogar Volljährige, im Dauerfeuer weichgekocht, die soothing sounds for teenies für relevant halten. Die Halbwertszeit der schließlich im Taumel von Infantilität und Trendgehechel gekauften Alben beträgt zwar in der Regel nur ein paar Wochen, doch die musikalische Verblödung kennt keine Saison, das Kinderkarussell dreht sich weiter: In den Medien wird täglich mehr Kinder-Unterhaltung präsentiert, während das, was über 25jährige interessiert, verschwindet. Und in den Läden gibt es Guano Apes, aber nix von King Crimson. Doch das ist nicht alles.

Denn das Zeichnen mit simplen musikalischen Grundfarben funktioniert auch auf höherem Niveau. Zum Beispiel Jewel: Das zweite Album der in ihrer Heimat supererfolgreichen Amerikanerin hat soviel mit Songwriting zu tun, wie das in den 70er Jahren beliebte Malen-nach-Zahlen mit Kunst Und die „Ich bin okay, du bist okay“-Texte sind poetisch wie gereimte Reklame. Ahnliche kinder-kompatible Simulation von Erwachsenenmusik gibt es im Rock (Hootie & The Blowfish) oder HipHop (Will Smith). Man kann eben auch auf der E-Gitarre Lieder spielen, für die niemand die musikalische Prä-Pubertät verlassen muß „Schlaf, Kindchen, schlaf (und halt’s Maul)“ im neuen Sound.

Im Kino ist die Lage ähnlich, und so hat man aus dieser „Marktsituation“ in Hollywood eine Schlußfolgerung gezogen: Drehbücher werden von Kids gegengelesen. Sind sie zu kompliziert, wird umgeschrieben. 12jährige aus Wisconsin bestimmen fortan, was uns im Kino zugemutet wird. Die volle Kasse wird es rechtfertigen, denn: Wenn es hinterher alle gekauft haben, werden es vorher wohl auch alle gewollt haben. Und richtig: Der erwachsene Konsument entscheidet selbst, ob er „Das Leben ist schön“ oder „Godzilla“ sieht, Joni Mitchell hört oder Jewel.

Aber vielleicht ist es einfach an der Zeit, all dies, was uns mit Getöse als Jugendkultur um die Ohren gehauen wird (aber nur Jugendprodukt ist), konsequent zu ignorieren. Robert Wyatt erklärte unlängst in einem Interview: „Ich müßte pädophil sein, um mich für Jugendkultur zu interessieren. Ich bin erwachsen. Und höre Erwachsenenmusik.“ Ein schönes Motto für eine neue Subkultur: der Untergrund der Erwachsenen. Nie wieder VIVA oder MTV, keine Chart-Hits oder Hollywood-Blockbuster. Trau keinem unter dreißig, und wenn Minderjährige etwas mögen, finden wir es Scheiße – und kaufen nur das, was die Kids uncool finden. Bald gäbe es eine neue Zielgruppe und dann den Trend 2000, unverkäuflich und supercool: die erwachsene Reife. Geil, Alter!

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