Warum „Charlie Hebdo“ nicht gerettet werden kann

Die Überlebenden des Attentats auf das Satiremagazin sind zerstritten. Es geht um Geld und angebliche Fehlzeiten einer Mitarbeiterin. Ein berühmter Zeichner nimmt deswegen seinen Hut. Von Martina Meister, Paris

Es ist nicht einfach, Charlie zu sein. Vor allem nicht für die kleine Mannschaft derjenigen, die seit dem Attentat vom 7. Januar „Charlie Hebdo“ am Leben erhalten und weitergemacht haben. Sie sind allesamt traumatisiert, erschöpft, im Innersten verletzt, manche körperlich für immer versehrt. Sie sind am Ende ihrer Kräfte und untereinander teilweise zerstritten. Sie sind überdies öffentlich entweder aufs Schlimmste beleidigt oder auf sagenhafte Weise überhöht worden.

Traumatisiert, erschöpft, im Innersten verletzt

Sie sind gegen ihren Willen weltweite Ikonen geworden, Symbole für den Kampf um Meinungsfreiheit und das Recht auf Blasphemie. Niemand hat sie gefragt, ob sie sich dieser Rolle gewachsen fühlten, ob sie nach dem Trauma stark genug dafür waren. Auf ihren Schultern liegt eine Last, die lähmt. Es lasten Erwartungen, Ansprüche, die geballte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ihrem kleinen Blatt, das vorher eine winzige, anarchistische, trotzkistische, antiklerikale Nische war, für die sich nur eine Handvoll Leser interessiert hat.

„Charlie Hebdo“ ist jetzt weltbekannt. Aber es gibt keine Klarheit darüber, wie die Zukunft des Blattes aussehen soll, keine Entscheidung über seine journalistische Neuerfindung, nur die Sicherheit, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Die Redaktion ist durch den Mord an Charb, Cabu, Wolinksi, Tignous um starke Kräfte und ihre künstlerische Handschrift gebracht worden.

Durch eigene Hierarchien blockiert

Den Überlebenden ist klar, dass sie nicht ersetzbar sind. Insgesamt 15 Mitglieder der Redaktion, also die überwältigende Mehrheit derjenigen, die das Blatt jetzt machen, fordern von den Herausgebern eine strukturelle Neuordnung von „Charlie Hebdo“, das heißt: Mitbestimmung und eine finanzielle Neuaufstellung. Aber die Hierarchie reagiert, wie das typisch für Hierarchien ist: Sie blockiert. Sie ist beleidigt. Sie hält die anderen für Leichenfledderer.

Karikaturist Luz (Photo by Franck Prevel/Getty Images)
Winzige anarchistische Nische: Karikaturist Luz im Jahr 2011 (Photo by Franck Prevel/Getty Images)

Das größte Problem ist das Geld

So absurd es klingen mag: Das größte Problem ist das Geld. Es wirkt wie ein langsames Gift. „Charlie Hebdo“ wurde mit Geld überschüttet in dem Augenblick, da sich eigentlich niemand mehr zur Arbeit richtig imstande sah. Das Geld sollte helfen, aber hat die Sache noch schlimmer gemacht. Es war schließlich vor allem ein Zankapfel, keine reelle Hilfe. Außer den Anteilseignern bekommen alle weiter dasselbe bescheidene Gehalt wie vorher – und manche noch eine Abmahnung dazu.

Arbeit als Droge hilft auch nur kurz. Denn wie weitermachen, wenn man unter Polizeischutz arbeiten muss? Wie sich hinter ein Thema klemmen, wenn einem auf ein Mal alles banal erscheint? Der Zeichner Luz sagt: „Die Grünen wollen in die Regierung? Das geht mir so am Arsch vorbei.“ Viele Außenstehende hätten ihn zum Weitermachen motivieren wollen, aber was, wenn die Inspiration ausbleibt und man sich nur noch wiederholt?

Was den Terroristen nicht gelungen ist, erledigt jetzt die Redaktionsleitung

Selbst Laurent Léger, der einzige Investigativjournalist des Blattes, gibt zu, dass ihm alle Themen seltsam leer und unbedeutend vorkämen. Es sind die ganz normalen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, wenn alles seinen Geschmack verloren hat und sich die Normalität einfach nicht einstellen will. Für einen Künstler und auch einen Journalisten ist das fatal.

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Die ganze Welt wollte „Charlie Hebdo“ retten, aber die bittere Wahrheit ist, dass das nicht funktionieren konnte. „Charlie Hebdo“ ist tot. Vielleicht muss man genauer sagen, dass „Charlie Hebdo“ im Sterben liegt. Agonie nennt man das. Was den Terroristen mit ihrem Gemetzel nicht gelungen ist, erledigt jetzt die Redaktionsleitung, erledigen einzelne Mitglieder, die das sinkende Schiff verlassen. Letzteren kann man es nicht verübeln, schon gar nicht vorwerfen. Es ist mehr als menschlich.

Unter ständigem Polizeischutz

Luz will gehen. Das hat er angekündigt. Die frankomarokkanische Journalistin und Soziologin Zineb El Rhazoui soll gegangen werden. Auf sehr unschöne Weise. Die französische Öffentlichkeit reagierte empört. Inzwischen hat die Leitung die Androhung ihrer Kündigung zurückgenommen. Man warf ihr tatsächlich vor, nicht oft genug in der Redaktion gewesen und mehrfach zu spät gekommen zu sein.

El Rhazoui, über die eine Fatwa verhängt wurde und die unter ständigem Polizeischutz steht, ist fassungslos: „Wenn es wirklich das ist, was man mir vorwirft, dann sollte man bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich immer sechs Polizisten um mich herum habe und fast jeden Abend woanders übernachte. Termine zu machen und Reportagen zu schreiben, ist in der Tat für mich nicht mehr ganz einfach.“

Zineb El Rhazoui (M.) auf der Beerdigung des ermordeten Stephane "Charb" Charbonnier im Januar 2015    (Photo credit should read MARTIN BUREAU/AFP/Getty Images)
Zineb El Rhazoui (M.) auf der Beerdigung des ermordeten Stephane „Charb“ Charbonnier im Januar 2015 (Photo credit should read MARTIN BUREAU/AFP/Getty Images)

Das Gift der Millionen spaltet Redaktion und Direktion, weil sich Letztere hartnäckig gegen eine Umverteilung sträubt. Riss, der Herausgeber, hält 40 Prozent der Anteile, 20 Prozent gehören dem Finanzdirektor Éric Portheault, die restlichen 40 den Erben von Charb. Vor dem Attentat war das kein Problem. Da hätte man darüber lachen können. Es waren bestenfalls Schulden.

Heute stehen die Anteile für Millionen. Und es wirkt alles wie ein hässliches Déjà-vu: 2007 waren durch den Abdruck der dänischen Mohammed-Karikaturen 500.000 Exemplare von „Charlie Hebdo“ verkauft und 600.000 Euro in die Kassen gespült worden, die sich damals zwei Personen, der damalige Chefredakteur Philippe Val und der Zeichner Cabu, geteilt haben.

Spenden in Millionenhöhe

Auch dieses Mal gibt es Kriegsgewinnler. Und sie wollen einfach nicht teilen. Bis Anfang der Woche war nicht einmal klar, um wie viel Geld es sich eigentlich handelt, das durch den Verkauf der acht Millionen Exemplare der Nummer der Überlebenden, durch Abonnenten und Spenden aus aller Welt zusammengekommen ist. Von 30 Millionen war in der französischen Presse zu lesen. Anfragen bei der Pressesprecherin, diese Zahl zu bestätigen, blieben über eine Woche unbeantwortet.

Schließlich kam eine allererste, offizielle Pressemitteilung: Die Spenden belaufen sich auf 4,3 Millionen Euro. Die Justizministerin wird demnächst einen Rat der Weisen benennen, der das Geld an die Familien der Opfer verteilen soll. Auf zwölf Millionen werden indes die Einnahmen seit Januar geschätzt, vor Abzug der Steuer. Riss wie auch Portheault sind gegen eine Redaktionsgesellschaft, an der alle gleichermaßen beteiligt wären. Sie müssten dann schließlich mehrere Millionen teilen. Das wäre der Preis, um „Charlie Hebdo“ zu retten. Er ist ihnen offensichtlich zu hoch. Sie lassen lieber ihre Ideale sterben.

 

Dieser Text von unseren Kollegen der WELT erscheint mit deren freundlicher Genehmigung auf rollingstone.de.

fp/cfh
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