Wanderjahre eines Zauderers
Bartleby hatte sicher auch sein Päckchen zu tragen. Aber er war immerhin schon einen Schritt weiter. „Ich möchte lieber nicht“, entgegnete Herman Melvilles Romanfigur allen Bittstellern, Vorgesetzen und Lästigkeiten des Alltags, und man mag sich leicht vorstellen, welche Schwierigkeiten einem das Leben aufbürden mag, wenn man sich einmal endgültig für ein universales Fuck-it-all entschieden hat. Noch schwieriger wird es nur, wenn man sich nicht für ein abschließendes Nein entscheiden kann. Oder, das ginge auch, für ein grundsätzliches Ja. Wenn man also so unentschlossen durch das Leben tändelt, wie es Dwight B. Wilmerding tut, der Eventuell-Held von Benjamin Kunkels „Unentschlossen“. Ein Verzögerer, Hmhm-Sager und „ich möchte lieber nicht – oder, äh, vielleicht doch“-Druckser.
Dabei gäbe es so viel in Dwights Leben, das etwas beherzten Hauruck-Spirit benötigte: Job weg. Freundin so gut wie weg. Dazu ein eher schrottiges Apartment, nicht eben Vorabendserien taugliche Familienverhältnisse und als eine Art Judgement Day das zehnjährige Klassentreffen, das immer näher rückt und bei dem er bislang nur wird vorweisen können, immerhin noch keine Glatze bekommen zu haben.
Dwight dümpelt durchs Leben, gelähmt von zu viel vielleicht, tendenziell eher slackerhaft-lethargisch, aber zu schwächlich für konsequente Verweigerung. Schuld ist vorgeblich die Krankheit Abulia, eine pathologische Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Doch dann offeriert ihm sein Mitbewohner das Wundermedikament Abulinix, das zwar noch nicht zugelassen, dafür aber ausgesprochen wirksam sein soll: Regelmäßig eingenommen, verwandelt es den Zauderer in einen energischen Entscheider.
Sogleich entwickelt Dwight für seine Verhältnisse fast so etwas wie blinden Aktionismus: Er reist nach Ecuador, um seinen Schulschwarm wiederzusehen ein großer Schritt für jemanden, der bei einem Thanksgiving-Dinner einmal wie paralysiert am Tisch saß, die Gabel in der Luft, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er als nächstes lieber Truthahn, Cranberry-Soße oder Truthahnfüllung verzehren sollte, bis ihm sein Vater unter „Iss! Iss!“-Gebrüll die Entscheidung abnahm. Dwight B. Wilmerding klingt nicht zufällig wie Dwight Bewildering: Wunderlich genug ist er. Doch Benjamin Kunkel führt seinen Helden bei aller Exzentrik nicht vor, veranstaltet keine Schrullenschau. Man hegt sofort tiefste Sympathie für Dwight und seine nonchalanten Schilderungen aus der Ich-Perspektive. Verdächtige „Manhattan Uberhipness“ will die „Times“ zwischen den Zeilen herausgelesen haben und unkte, mit Kunkel würde einfach nur der nächste angezauste Pullunderboy durchs Literaturdorf getrieben werden: „h is bright as Luder and so hip that it hurte“. Doch Benjamin Kunkel, der 2004 die bei linken New Yorker Schlauköpfen hochbeliebte Indie-Kulturzeitschritt „n+i“ mitbegründete (Themen der letzten Ausgaben: „The Reader as Hero“, „The Trouble with being German“, „Happiness: An Introduktion“ und Rubriken wie „Desperate Living“ und „TIic intellectual Situation“) ist keine popironische Knalltüte.
1973 wurde er in Eagle, Colorado, geboren und kehrte im Herbst 2001 dorthin zurück, um in einer Hütte im Wald die Arbeit an seinem Roman zu beginnen. Er besuchte ein Internat in New Hampshire und verbrachte vor dem Studium in Harvard und an der Columbia University zwei Jahre auf der Ranch des exklusiven Deep Springs College in der kalifornischen Wüste. Das Liberal Arts College wird von 27 Studenten selbst verwalte – für Kunkel eine Erfahrung sozialer Verantwortung und gesellschaftlichen Engagements, deren Ausbildung er in „Unentschlossen“‚ zum Thema macht.
Denn Dwight verharrt nicht lange in seiner Slackerexistenz aus Mcjob, Mc-Beziehung und McZukunft. Zwar jobbt er seit einiger Zeit für den Technical Support des Pharmakonzern Pfizer, hat aber schließlich doch Philosophie studiert. Nach seiner Kündigung widmet er sich verstärkt den Lehren seines Lieblingsbuchs, „Der Gebrauch der Freiheit“ des deutschen Philosophen Otto Knittel. „Das Hinauszögern ist unser Ersatz für die Unsterblichkeit. Wir verhalten uns, als mangele es uns nicht an Zeit“, erklärt Knittel dort die Freuden der Prokrastmation. Doch Abulinix lässt Dwight die Dinge schließlich in die Hand nehmen – und die Anti-Globalisierungs-Aktivistin Brigid, mit der Dwight in Ecuador einen ausgedehnten Dschungeltreck unternimmt, nachdem ihn sein Schwärm Natasha überraschend im fremden Land sitzen ließ. „,Unentschlossen“ scheint mit einem Bausatz gebastelt zu sein, der alle Bestandteile des modernen amerikanischen Bildungsromans enthält — alle fein säuberlich ausgebreitet und gebrauchsfertig, um nach sorgfältiger Überlegung eingepasst zu werden“, schreibt Romancier Jay McInerney über das Buch. „Es steht klar in der Tradition von Romanen, in denen der junge Amerikaner sein Land verlassen muss, um in der Fremde sowohl sein politisches Bewusstsein als auch ein Gespür für das eigene Ich zu entdecken — von Henry James über Saul Bellow bis Dave Eggers (Aussichtsloser Job? Jawohl. Wanderjahr? Vorhanden. In einem Bademantel exzentrisch auf der Straße herumspazieren? Auch das.).
Literaturfexe finden in Kunkels Debüt ohne große Umstände Motive aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ wie aus „Der Fänger im Roggen“: Erkennen Sie die Bourgeoise?
Doch in diesem veritablen Bildungsroman stecken zusätzlich viele kleine, geschickt verwebte Handlungsaspekte. Dwights nicht immer ganz appetitliche Liebe zu seiner Schwester, die komplizierten Beziehungen innerhalb der Familie Wilmerdings und schließlich das Ereignis, ohne das im modernen amerikanischen Roman gerade nicht so sehr viel geht— 9/11. Ein hübsches Kabinettstückchen ist die Umkehr einer moralischen Konvention: Drogen und Ekstase führen Dwight nicht geradewegs ins Lotterleben, sondern helfen ihm ein gutes Stück des Weges zu einem sozial bewussten Menschen.
Nicht nur datierbare Ereignisse wie dem. September verorten,.Unentschlossen“ ganz klar in den Nullerjahren, ohne sich dem Zeitgeist zu sehr anzubiedern. „Ich glaube, es gibt kulturelle Beobachtungen, die nur jene machen können, die gerade dem verheerenden Reich der Adoleszenz entronnen sind, ebenso wie nur sie literarischen Traditionen einen neuen Twist geben können, während ältere Autoren sie längst als feste Form verinnerlicht haben“, schreibt Jay McInerney über Kunkel und seine Altersgenossen: „Junge Ohren können gewisse Zeitgeist-Frequenzen besser empfangen.“ Und die Jungen erleben am eigenen Leib, dass die Pubertät heute später aufzuhören scheint als früher – und dass man die Lebensphase, in der man wesentliche Entscheidungen treffen sollte, beinahe endlos vor sich herschieben kann. „Einerseits verschafft einem das natürlich größere Freiheit“, sagt Kunkel, „aber oft geht mit dieser Freiheit kein Wachstum an Verständnis oder Weisheit einher.“ Nicht umsonst ist diese Freiheit in „Unentschlossen“ nicht als unbeschwerte Heiterkeit ohne jeden Verantwortungszwang, sondern eher als paralysiertes Dazwischenhängen übersetzt. Die leidige Wahl zwischen Truthahn und Cranberries eben.
Doch der Roman ist kein eindimensionales Lob des zupackenden, der wohligen Unmündigkeit entwachsenen Endzwanzigers. Brigid, die belgische Anthropologin, verbrachte vor ihrem Zusammentreffen mit Dwight längere Zeit forschend bei einem Stamm im Amazonas-Dschungel, bevor sie schließlich bemerkte, dass ein anderer Anthropologe längst hier gewesen war und dieselben Fragen gestellt hatte, um dieselbe Doktorarbeit zu schreiben. Welchen Wert hat es also, Entscheidungen zu treffen und Erfahrungen zu machen – ist es nicht lähmend, zu wissen, dass alle Entscheidungen und Erfahrungen bereits gemacht wurden? Muss man die Chance nicht auch als Gefahr begreifen? „Ich glaube, Dwight ist für uns unverzichtbar“, so Kunkel, „weil die Fragen, die er sich stellt, zeigen, dass einem die Erfahrungen anderer nicht erlauben, den eigenen aus dem Weg zu gehen.“
Und damit nicht genug der großen Fragen in „Unentschlossen“, das trotz vieler bedenkenswerter Themenkomplexe ein leicht daher schwänzelndes, über weite Strecken ausgesprochen witziges und mit großer Neigung zum fiun erzähltes Buch geblieben ist. Wie führt man ein soziales Leben und bleibt sich selbst dabei treu? Welche Gefahren bergen medizinische Möglichkeiten, grundlegend in menschliche Gefühlswelten eingreifen zu können? Und warum ist der entschlossene Dwight, der sich in der zweiten Hälfte des Buches langsam aus seinem Tändel-Kokon schält, doch instinktiv deutlich unsympathischer als das unentschlossene Träumerle davor? Für McInerney liegt der wahre Leser-Nutzen eines Bildungsromans nicht etwa in einem möglichen Zugewinn an Lebensweisheit, sondern in einer stilvollen Verwirrung. Tatsächlich lässt einen das vermeintliche Happy End überraschend ratlos zurück. Subjektives Empfinden oder doch die versteckte Botschaft, dass es eventuell doch nicht unbedingt nötig ist, sich tatsächlich zu entscheiden? Könnte sein. Vielleicht aber auch doch nicht.