Wandelgermanen und Gefühlsmenschen
Es gab eine Zeit, in der ich mein täglich Brot als Musikjournalist verdiente. Auf dem Parkplatz fuhr ich mit Sonic Youth vor; während der Büroarbeit schmetterten die Melvins ihr „Houdini“. Doch kaum fuhr ich vom Parkplatz runter, bumperte Snoop Dogg aus meinem alten Renault. Erledigte ich daheim den Papierkram, schlich Mick Hucknall von Simply Red aus der Tiefe des Zimmers herbei und massierte mir den Nacken. Meine geheimen Vorlieben verrate ich in meinen Romanen. Ich schreibe sie Figuren zu, die so verschroben sind, dass niemand sie mit Oliver Uschmann gleichsetzen würde. Ich erfinde Situationen, in denen der Leser Ironie vermutet, weil er sich keine Welt vorzustellen vermag, in der die gezeigten Szenen schlicht sind, was sie sind. Da lobpreisen naturromantische „Wandelgermanen“ im Unterholz ergriffen Mutter Natur und die heidnischen Götter und hören dabei das beschwörende Gebrumm der finnischen Dark-Folk-Esoteriker Tenhi. Da treiben sich verkorkste junge Männer aus bestem Hause, die in Wirklichkeit „nicht weit vom Stamm“ sind, in die Selbstzerstörung hinein und hören dabei Dr. Dre und 50 Cent. Da glaubt sich ein paranoider Teenager in seinem Hoc**auszimmer vom Dach gegenüber beobachtet, weil er selber die Fenster der anderen täglich mit dem Fernglas abtastet, und muss sich Hohn und Spott gefallen lassen, da sich „Spring nicht“ von Tokio Hotel auf seinem iPod befindet. In der virtuellen Wohngemeinschaft meiner erfolgreichsten Romanfiguren gibt es die Rubrik „Wannenunterhaltung“. Hartmut ist Denker und Avantgardist, ein Kopf-Hörer. „Ich“ ist Gefühlsmensch und Traditionalist, er hat seine Ohren im Bauch. „Das rührt dich wirklich“, sagt Hartmut erstaunt wie ein Verhaltensforscher, als er seinen Freund von Jupiter Jones emotional zerrüttet neben der Wanne vorfindet. In einer Geschichte muss er mit der Nichte seiner Freundin ein Pur-Konzert besuchen und erwischt sich selbst mit Tränen, als sein Namensvetter zu einer alten Ballade ansetzt. So sehr ich den „alternativen Kanon“, mit dem ich mich als Journalist befasse, auch liebe: Wer den Soundtrack meines Lebens erfassen will, der muss meine Romane lesen. Und unser Hauskater, der heißt übrigens Tenhi.
Uschmanns aktueller Roman heißt „Nicht weit vom Stamm“ (script5, 14,95 Euro).