Walk On The Wilde Side
Queerer Pop hat in New York eine lange Tradition
Zunächst das Wichtigste: Ohne schwule Camp-Einflüsse wäre Popmusik vermutlich nur das: populär. Unterhaltung mit Massen-Appeal, good clean fun. Doch seit den frühen Sechzigern entwickelte sich, nicht zuletzt in der Gay-Community des Sündenbabels New York, ein raffiniertes System der sexuellen Zeichen, Codierungen und Doppeldeutigkeiten. Der Glamour, den Hollywood am Fließband produzierte, wurde hier ironisch gebrochen und liebevoll durch den Dreck gezogen. Eins der schönsten Beispiele war Tiny Tim, ein baumlanger Kerl mit öligen Locken und einer gewaltigen Hakennase. Meist sang er in einer hohen Fistelstimme und begleitete sich dabei auf einer winzigen Ukulele. „Tiptoe Through The Tulips“ war selbst in Deutschland ein Novelty-Hit. Der bisexuelle Sänger tat bereits früh, was schwule Popmusiker bis heute auszeichnet: Er spielte auf eigenwillige Weise mit Glamour und Emotionen, die viele als kitschig bezeichnen würden. Der seit Jahrzehnten virulente Hang zur Judy-Garland-Verklärung hat beides – den unbedingten Willen zum Stil und dessen persönliche Reflexion. Im Juni veranstaltete Rufus Wainwright in der New Yorker Carnegie Hall eine exakte „Cover-Version“ des legendären Garland-Auftritts von 1961: „Ich glaube nicht, dass jemand anderes als ein schwuler Mann dieses Konzert hätte spielen können“, behauptete Wainwright. In der Rockmusik haben homosexuelle New Yorker relativ wenig Spuren hinterlassen. Authentizität und Heterosexualität wurden hier allzu lange allzu ernst genommen. Der Auftritt der Camp-Ikonen und Hair-Metaller Twisted Sister, in dem Film „Pee-Wee’s Big Adventure“ zeigte allerdings, dass es auch anders geht: Wie eine läufige Hollywood Diva, in hautengen Klamotten und mit frisch ondulierten Korkenzieherlocken, räkelt sich Sänger Dee Snider auf der Haube einer sehr großen Limousine. Der von Morrissey und Neil Tennant verehrte Glam-Rocker Jobriath hatte ähnliche Qualitäten – seinen nackten Körper konnte man 1973 sogar auf New Yorker Bussen bewundern. Schwule Subkultur fand damals trotzdem eher in glitzernden Disco-Tempeln statt, gerne mit angeschlossenem Darkroom. So stellt man sich in Montana, Utah oder Texas das Paradies vor – zumindest wenn man jung, schwul und neugierig war. Niemand verkörperte die Lebenslust und den Spaß dieser unbeschwerten Ära vor AIDS besser als die Village People: schwule Kerle wie aus dem Bilderbuch, deren Disco-Schlager voller Inside-Jokes steckten und die trotzdem auch die Oma aus Omaha zum mitschunkeln brachten. New Wave drehte die Schraube noch weiter in Richtung schrille Selbstdarstellung – die Saat von Andy Warhols Factory trieb die schönsten Blüten. Filme wie „Liquid Sky“ und Künstler wie Klaus Nomi etablierten eine dekadente Künstlichkeit und grenzgängerische Experimentierfreude. Nomi, der in Deutschland als Opernsänger gescheitert war, konnte sich in New York als Hermaphrodit zwischen den Kulturen und Geschlechtern neu definieren. Doch bereits bevor er 1983 als einer der ersten an AIDS starb, umgab ihn eine seltsame Tragik. AIDS veränderte alles. Schwule DJs und Produzenten sorgten zwar weiterhin für hedonistische Club-Soundtracks, die dann als House und Electro um die Welt gingen, doch die große Party war vorüber.
Ende der 90er feierte der Torchsong seine Rückkehr. Neben dem schwelgerischen Opernfreund Rufus Wainwright ist Antony Hagerty der strahlende Star eines orchestralen Pop voll morbider Romantik. „All those beautiful boys/ Pimps and queens and criminal queers“, singt er in einem Song des Weird-Folk-Duos Coco Rosie. New York mag nüchterner und restriktiver geworden sein. Die schwule Musikszene hat sich dafür ein schwelgerisches Paralleluniversum geschaffen, irgendwo zwischen Judy Garland und Jean Genet.