Vor Dr. Music ist nichts sicher. Sein schlichtes Heim wurde zum Wallfahrtsort für Jäger und Sammler
Plattensammler zu werden ist einfach: Du suchst Dir eine Band, deren Musik Du besonders gern hörst so gern, daß Du wirklich alle Songs dieser Band haben möchtest. Denkst Du jetzt an PJ Harvey oder Green Day, hast Du’s noch recht einfach. Hast Du aber Aerosmith, die Stones oder gar die Beatles im Sinn, wird’s spannend. Du ziehst los und kaufet Dir alle Alben und CDs, inklusive der Singles, versteht sich. Du bist glücklich. Doch plötzlich entdeckst Du noch eine Dance-Version, den Non-Album-Track, den Radio-Remix und den Japan-Import mit Bonus-Track. Und den Original Motion-Picture-Soundtrack eines Films, auf dem Deine Band mit unveröffentlichtem Material vertreten ist Und dieses Stück ist auch auf keinem der Bootlegs und limitierten CDs mit Klappcover drauf. Klar, auch dieses Teil wird gekauft. Bis hierher ist die Welt noch in Ordnung. Bis hierher ist das alles nichts anderes, als Happy Hippos aus Überraschungseiern zu sammeln. Doch jetzt bist Du plötzlich von der Idee besessen, etwas ganz Persönliches von Deiner Band haben zu wollen: ein T-Shirt des Sängers, eine Gitarrensaite oder ein Autogramm. Aber jetzt hast Du ein Problem: Du bist süchtig. Krank. Du brauchst einen Arzt Der Doktor, der solche Fälle zwar nicht heilen, aber auf jeden Fall lindern kann, wohnt in Moers. Dr. Rainer Rohbeck, Jahrgang ’52, ist Arbeitsmediziner und für die Bundesanstalt für Arbeit tätig. Er begutachtet Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen ihren Job nicht mehr ausüben können, beurteilt Reha-Maßnahmen und möchte dazu beitragen, daß Menschen am Arbeitsplatz weniger erkranken. Aber am liebsten kümmert sich der Arzt um seine Rock’n’Roll-Patienten. Menschen, die – wie er selbst vom Sammelvirus befallen wurden. Das Einfamilienhaus des Nichtrauchers erinnert eher an eine Rock’n’Roll-Intensivstation als an ein Heim, in dem ein Ehepaar mit zwei Kindern wohnt Aber eigentlich sind es ja drei Kinder, mit denen Frau Rohbeck, die für Schallplatten ziemlich wenig übrig hat, zusammen lebt Der Alteste ihrer Kids, Dr. Rainer Rohbeck, öffnet uns die Tür. Seine Diele ist zugekleistert mit Awards. Gold- und Platin-LPs funkeln von den Wänden, dazwischen signierte Plattencover und Fotos. Metnorabilia von Künstlern aus der ersten Liga: Beatles, Stones, Pink Floyd, Doors, Queen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer stolpern wir über Led Zeppelin, McCartney und Bowie. Die Lederjacke, die lässig auf dem Wohnzimmerstuhl liegt, gehörte einst Gapton, und der Liebesbrief auf dem Tisch wurde von Brian Jones an eine seiner Verehrerinnen geschrieben. Um die Stromrechung über 100 Pfund braucht sich Rohbeck auch keine Gedanken machen: Die ist über 30 Jahre alt und an John Lennon adressiert Die Kaffeetassen sind von Ikea. Gott sei Dank! „Ich sammle seit den Sechzigern“, schwärmt Rohbeck, Insidern auch als „Dr. Music“ bekannt „Zuerst sammelte ich ganz normal, Schwerpunkt Rolling Stones. Anfang der Siebziger habe ich auch noch mit den Beatles angefangen. Dann kamen die Raritäten: Radioshows, Promos usw. Vor gut fünf Jahren hat es mich richtig gepackt Bei einem Bekannten sah ich die erste Platin-LP – einen Stones-Award, den mein Bekannter aus den Staaten mitgebracht hatte. Seine Bezugsadresse wollte er mir nicht preisgeben, also habe ich selbst recherchiert Meine ersten Kontakte bezog ich über die Fachzeitungen ,Goldmine‘ und »Record Collector‘. Auf diesem Wege hab ich viele Leute kennengelernt“ Die ersten Kontakte allerdings erwiesen sich als Abzocker. Für seinen ersten Award zahlte Rohbeck 5.000 Mark. „Überhaupt habe ich meine ersten 20 bis 30 Gold- und Platinplatten zu völlig überteuerten Preisen eingekauft. Entsprechend teuer hab ich sie natürlich auch weiterverkauft Ich war eben neu in der Branehe. Und unwissend. Jetzt bewegen sich meine Preise eher an der untersten Grenze. Die Gewinnspanne liegt meist bei 10, 20 Prozent Ab und zu auch drunter.“ Awards und andere Raritäten zu besorgen ist für jeden machbar; man muß nur wissen, wo. Die ersten Adressen für ausgefallene Rock-Utensilien sind die Auktionshäuser in London und New York: „Sotheby’s“, „Christie’s“ und JBonhams“. Dazu kommen noch „Butterfield & Butterfield“ in San Francisco und „Tracks“, der UK-Spezialist in Sachen Beades-Raritäten. Doch die ersten Adressen haben dummerweise meist auch die höchsten Preise. Daher kauft Dr. Music nur noch selten in Auktionshäusern, sondern hat sich auf die kleineren Charity-Auktionen spezialisiert Besonders in den Vereinigten Staaten gibt es jährlich Hunderte dieser Wohltätigkeitsveranstaltungen. Darüberhinaus lernte er im Laufe der Jahre viele hilfsbereite Menschen diverser Plattenfinnen kennen, die ihn mit Awards und ähnlichen Schätzchen großzügig versorgen. „Ausschlaggebend für den Preis sind mehrere Faktoren. Awards, die dem Künstler selbst verliehen wurden, liegen im Preis natürlich am höchsten. Und dann kommt es darauf an, welcher Zeit die Trophäe entstammt“, erklärt Rohbeck. „Am wertvollsten sind Awards im sogenannten ,Old White Matte Style‘. Dabei handelt es sich um – in weißen Leinenhintergrund eingelassene – Gold-LPs, die zwischen 1964 bis 1974 verliehen wurden. Das sind regelrechte Geldanlagen. Daß diese goldenen Schallplatten nur 20 bis 24 Karat vergoldet sind, spielt natürlich überhaupt keine Rolle. Unlängst ist ein ,White Matte‘ für die Beatles in einem Auktionhaus für 20.000 Dollar unter den Hammer gekommen. Manchmal tut es mir richtig weh, wenn ich Awards abgeben muß. Besonders bei denen der Stones. Bis heute habe ich für mindestens 500.000 Mark Raritäten gekauft, vielleicht auch für viel mehr. Man muß abgeben können, sonst kann die Sache böse enden. Durch den Verkauf finanziere ich mein Hobby. Es fallen immer schöne Sachen für mich ab. Und dadurch ist für mich x-mal im Jahr Weihnachten.“ Sein größtes Fest feierte der Musikdoktor 1993. Nachdem er bereits für vier Stones- und Beades-Ausstellungen Memorabilia aus seiner Sammlung zur Verfügung stellte, führte er in einem Moerser Motel seine erste eigene Auktion durch. Über 400 Gäste, unter ihnen auch Konzertveranstalter Fritz Rau, waren anwesend. „Bei den Vorbereitungen wurde mir ganz schön schwindelig. Die Kosten für die Erstellung der Kataloge, Werbung, fersandkosten, Raumkosten, Auktionator usw. beliefen sich auf ca. 65.000 Mark. Im Endeffekt bin ich da plus/minus Null herausgegangen. Aber es war ein wunderschöner Tag. Ich habe viele nette Leute kennengelernt, die alle auf meiner Wellenlänge liegen. Bei dieser Auktion ist auch mein edelster Award versteigert worden: das ,White Album‘ in Gold. Hat 9.000 Mark gebracht Einen anderen, ,Talk Is Cheap‘, verliehen an Keith Richards, habe ich selbst zurückersteigert. Als ich ihn plötzlich so da stehen sah, dachte ich mir: »Nein Junge, den kannst Du nicht hergeben. Der gehört in Dein Arbeitszimmer‘.“ Dirk Winkelmann