Von mies bis groß: Alle U2-Alben im Ranking
Die 14 Studioalben, von „Boy“ bis „Songs Of Experience“, in der richtigen Reihenfolge.
14. „No Line On The Horizon“ (2009)
„Mehr Experimente!“, forderte Larry Mullen Jr., und die Band versuchte sich an Schleiertanz-Mystik („FEZ – Being Born“). Bono schrieb in „Cedars Of Lebanon“ aus der Sicht eines Kriegsreporters, unterstützt von einem Brian-Eno-Sample, „Choose your enemies carefully cos they will define you / Make them interesting cos in some ways they will mind you / They’re not there in the beginning but when your story ends / Gonna last with you longer than your friend“. Das zwölfte Studioalbum war wieder ein Reise-Album, nicht mehr nur Amerika war das Ziel, sondern die ganze Welt. Und Bono brachte Trauer und Skepsis aus der Ferne mit.
Nur waren viele der Songs einfach nicht gut; einige der besseren Orientalismen („Soon“) kamen nicht auf die Platte. Dabei hatte die Band fünf Jahre Zeit gehabt, ihr längster Studio-Anlauf. Stücke wie „Unknown Caller“ oder „I’ll Go Crazy If I Don’t Go Crazy Tonight“ wirken wie aneinandergereihte Stadionchöre – die Band dachte bei den Aufnahmen vielleicht schon an ihre „360-Grad-Tour“, ihre größte (die mit der Kraken-Bühne). Die erste Konzertreise, bei der Design und Image des Live-Aufbaus gar nichts mit der Platte zu tun haben würden, sondern nur auf Giga getrimmt war.
Zerknirscht räumten U2 später ein, dass „Get On Your Boots“, ein „Vertigo“ für Arme, die falsche Wahl für eine Vorabsingle war. Von „Desire“ bis „Vertigo“, also von 1988 bis 2004, ging jede Vorabsingle im UK auf die Eins. Hier deutete sich an, dass sogar die Zeit der sicheren Top-Ten-Auskopplungen vorüber sein würde.
13. „Songs Of Innocence“ (2014)
Das erklärte Kindheits- und Jugendalbum von U2. Idole, erste Küsse, IRA, Tod der Mutter. „The Miracle (Of Joey Ramone)“ hat den Supertitel, ist aber die zweite schlechte Vorabsingle in Folge – ein Stadionchor-Monster als Arcade-Fire-Kopie („Wake Up“).
„Every Breaking Wave“, von der Band selbst mit Vorschusslorbeeren ausgestattet, ist ein Schlager. Es gibt auch Höhepunkte: „Cedarwood Road“ hat die gewünschte Danger-Mouse-Härte, das am Postpunk angelehnte „This Is Where You Can Reach Me Now“, erstaunlicherweise nicht in der Toursetlist, ragt hervor. „Volcano“ klingt wie fiebriges „Zooropa“-Material.
Die Albumsongs stellten U2 auf ihrer „Innocence + Experience“-Tour vor, die, wenn auch nicht ihre allerbeste, doch sicherlich emotionalste Konzertreise wurde.
12. Songs Of Experience (2017)
Es geht um den Tod, diesmal Bonos eigenen: „I shouldn’t be here/ ’Cause I should be dead“ und „I can’t believe my existence/ I see myself from a distance/ I can’t get back inside“. Was ihm widerfuhr, verrät er nicht. Aber der „Songs Of Innocence“-Nachfolger dokumentiert, nach Bonos Nahtod-Erfahrung, einen ungeplant großen Zeitsprung. Behandelte„Innocence“ die Kindheit im Terror-erschütterten Dublin, auch die erste Liebe, erste Lieder, folgt nun das Endspiel. Klopfen an der Himmelspforte: „Jesus, if I’m still your friend, what the hell you got for me?“ Dass Bono noch häufiger über Liebe singt, zeigt seinen Überlebenswillen.
„Experience“ ist „Innocence“ überlegen, weil „Innocence“ Identifikation erschwerte. Bonos Kindheit im IRA-Irland war hart, aber letzten Endes sang davon einer der heute bekanntesten Rockstars. Es war Zeugnis einer einzigartigen Aufstiegsgeschichte. Der Tod in „Experience“ aber ist das Thema, das jeden angeht. Und auch wenn das plötzliche Wissen um Sterblichkeit Akzente der Platte verschob – es bleibt Raum für Politik, etwa Treffer gegen Trumps Amerika, das sich Einwanderern verschließt. „American Soul“, das wie andere Stücke Melodien von „Innocence“ zitiert, betont Gründungsideale der USA, die der Präsident verrät: „It’s not a place/ This country is for me/ A thought that offers grace.“ Etwas zu poetisch vielleicht geht Bono die Flüchtlingskrise an: „So many lost in sea last night …“ („Red Flag Day“).
Der Sound? Wenig Experimente, eher guter Geradeaus-Rock. Nur einen Fehler machen U2, den ersten dieser Art nach 41 Jahren: Sie wollen auch mal wie die Jungen klingen. Nutzen Vocoder, sogar Auto-Tune, lassen „Get Out Of Your Own Way“ in R&B-Harmonien swingen. Die Band sollte ihren Stärken vertrauen. Brian Eno verstand es, U2 immer aufs Neueste in U2 zu entdecken. Produzent Ryan Tedder klopft sie gelegentlich zu weich.
U2 sind nach den Stones die größte Band der Welt. In diesem Bewusstsein hätte die Gitarre von The Edge häufiger dazwischengrätschen dürfen.
11. All That You Can’t Leave Behind (2000)
Die Rückkehr zum „klassischen U2-Sound“, Delays, große Chöre, Rocksongs. Der Preis dafür war hoch: Viele der Lieder auf „All That You Can’t Leave Behind“, die komplette zweite Seite des Albums, waren vorhersehbar. Man kann über Frieden singen und sich ihn wünschen. Einen Song aber „Peace On Earth“ zu nennen? Sso klang er dann auch. „When I Look At The World“ beschreibt zwar weniger gottgleiche Perspektiven (in dem Lied geht es um Verständnis für den Partner), dafür klingt die Brian-Eno-Produktion wie ein gemütliches, breit gesessenes Outtake von „Achtung Baby“.
Die Stärke des Albums liegt in den Songs der ersten Hälfte: „Beautiful Day“ war zu Recht ihre große Comeback-Single, Bono und The Edge sind mit ihrem Chorgesang auf der Höhe, Larry spielte die Bassdrum – entgegen des Rates von Eno – in kürzeren Abständen durch. Auch „Stuck In A Moment You Can’t Get Out Of“ enthielt starke Anleihen; hier war es Curtis Mayfield mit „People Get Ready“, der Pate stand. Dieser Gospel-Song von U2 ist bis heute für viele Menschen Motivation, klassisches Stehauf-Männchen-Material.
U2 bewarben sich, wie Bono sagte, nach dem zwiespältig aufgenommenen Vorgänger „Pop“, wieder um die Stelle als beste Rockband der Welt. Experimente würde es fortan nicht mehr geben.
10. How To Dismantle An Atomic Bomb (2004)
„All That You Can’t Leave Behind“ nicht unähnlich, und dank ihrer – letzten großen – Vorabsingle „Vertigo“ (eine Weiterentwicklung des kursierenden Bootleg-Stücks „Native Son“) ein Stück giftiger. Der Song nahm die in „Songs Of Innocence“ vollzogene Rückbesinnung auf die Anfänge vorweg – auf der Bühne positionierten die Musiker sich bei diesem Stück extra dicht zueinander, was Proberaum-Feeling hervorrufen sollte.
Wer U2 Böses wollte, dachte beim Rot-Schwarz-Design von „Vertigo“ vor allem an die iPod-Edition, heute ein begehrtes Sammlerstück. Aus Marketingsicht war der Deal zwischen u2 und Apple genial, die MP3-Player mit Clickwheel waren sowieso nie beliebter als 2004 (es war noch die Zeit vor dem iPhone).
Es gibt Songs, die beim ersten Hören schon irrelevant erschienen („A Man and a Woman“), live nicht aufgegriffen wurden („Crumbs From Your Table“) oder Bono dazu animierten, auf der Bühne mit Stirnband herumzulaufen („Love and Peace Or Else“).
Aber die „Atomic Bomb“ hat auch „One Step Closer“ und das bewegende „Sometimes You Can’t Make It On Your Own“ (ihre letzte UK-Nummer-Eins), in denen der Sänger sich von seinem verstorbenen Vater verabschiedet. Und natürlich „City Of Blinding Lights“.
09. October (1981)
Von ihren frühen Platten schätzen U2 dieses am wenigsten. Angeblich habe man sogar überlegt, die Musikkarriere an den Nagel zu hängen. Es soll auch Glaubenskrisen gegeben haben. Zwar fällt diese Platte hinter dem starken Debüt „Boy“, gerade mal ein Jahr zuvor erschienen, tatsächlich etwas zurück – aber „October“ ist kein schlechtes Album.
„Gloria“ ist vielleicht wirklich der einzige Pop-Hit, in dem auch Lateinisch gesungen wird (man müsste natürlich den Backkatalog von Enigma durchforsten). Das Titelstück war der erste U2-Song, in der ein Klavier prominent im Vordergrund stand. „Rejoice“ verdient längst seine Wiederauferstehung, es klingt, als griffen The Edge und Larry sich gegenseitig mit ihren Instrumenten an.
„Is That All?“, vielleicht der aufwühlendste Schluss-Song eines U2-Werks, wurde als Intro von „Electric Co.“ auf dem Live-Album „Under a Blood Red Sky“ berühmt (in seiner Frühfassung „Cry“).
08. Rattle and Hum (1988)
Keine Idee, wie es nach vorne gehen sollte, aber auch im Rückwärtsgang kam man ins Stottern: „Rattle and Hum“, zur Hälfte ein Live-Album, zur Hälfte neues Material. Nach „The Joshua Tree“ fragten U2 sich, wie und ob sie ihren Stil nach ihrem Sensationserfolg weiter entwickeln sollten. Das Ergebnis wirkte unentschlossen, ziellos, verschämt. Zum einen gab es Hits wie „Pride (In The Name Of Love)“ – was wie der versteckte Versuch aussah, ein Best-Of-Album Live-Dokument zu verkleiden. Dazu noch Snippets, etwa von Liedern, die ein Straßenmusikant spielt; außerdem immerhin neun neue Songs.
Doch mit den eigenen Stücken fing die Unzufriedenheit innerhalb der Band erst an. Auf der Suche nach ihren musikalischen Wurzeln im Allgemeinen, und auf der Suche nach der Wurzel der Rockmusik im Besonderen durchquerten U2 die USA, entdeckten Folk und Blues und nahmen Songs mit Dylan und B.B. King auf. Auch einem anderen fundamentalen amerikanischen Thema widmet sich die Band auf dem Album – dem Ende aller schönen Hippie-Träume. Ihre Coverversion des Beatles-Songs „Helter Skelter“, der Charles Manson zu seinen Auftragsmorden inspiriert haben soll, leitet Bono mit den Worten ein: „This is a song Charles Manson stole from The Beatles. We’re stealing it back.“
Unfreiwillig parodistisch auch die Single „Angel Of Harlem“, in dem der Bono aus Dublin in New York landet, nach Harlem fährt und dort natürlich auf die gute Seele, den „Angel“ trifft. Dabei hat „Rattle and Hum““einige sehr gute Songs, man muss sie nur aus dem Wust herausziehen. „All I Want Is You“, co-arrangiert mit Van Dyke Parks, ist bis heute ihr dramatischstes Liebeslied; „Desire“, Bono besingt darin wie so oft danach die Verlockungen von Amüsiermeilen, ihr pointiertester Rocksong.
„God Part II“ schließlich, Song Nummer 14, wies den Ausweg. Das Stück klingt blechern, dreckig, böse und sehr tanzbar. Es sollte Vorlage werden für die größte Erfolgsstrecke von U2, die drei Jahre später begann und die Band vor der Trennung bewahrte.
07. War (1983)
Der Junge vom „Boy“-Cover war wieder da, nur inzwischen etwas älter, und sein Gesicht zierten Schrammen. Das dritte Studioalbum manifestierte U2 endgültig als politische Band, es enthielt mit „Sunday Bloody Sunday“ und „New Year’s Day“ zwei sehr frühe und zwei sehr große Hits – zwei Adam/Larry-Songs, jeder erkennt bis heute sofort den Bass, jeder erkennt bis heute das Schlagzeug.
„40“ entwickelte sich zum beliebtesten Abschluss-Song auf Konzerten. Bei der „Innocence and Experience“-Tour hofften alle Zuschauer, am Set-Ende dessen „How Long To Sing This Song“ singen zu können, anstelle des damit abwechselnd eingestreuten „One“.
Die Remixe von „Two Hearts Beat As One“ demonstrierten, dass U2 ausloteten, ob New Wave auf der Tanzfläche auch für sie eine Option darstellt.
06. The Unforgettable Fire (1984)
„The Joshua Tree“ gilt als USA-Album, aber dieses hier war genauso Amerika: die Weite, die Flächen, die Träume. „MLK“ und „Pride“ widmeten sich dem Idol Martin Luther King, „Bad“ der Wiederauferstehung. Gemeinsam mit Brian Eno schufen U2 jenen Cinemascope-Sound, der die Band bis heute auszeichnet. „Elvis Presley and America“ war vielleicht etwas zu offensichtlich, aber Stücke wie „4th Of July“, in ihrer Kürze wie Struktur fast schon Ambient, boten den Stoff für innere Reisen.
Danach ging es dann wirklich Richtung Amerika, und U2 sammelten Kraft in ihrer bis dato längsten Studiopause.
05. Boy (1980)
New Wave prägte den Sound des U2-Debüts, das noch immer so frisch klingt, als wäre es gestern aufgenommen worden: „Out Of Control“ und „I Will Follow“ hießen die Spitzen-Singles, die die Band noch heute spielt: der fast schon transzendentale Übergang von „An Cat Dubh“ zu „Into The Heart“ ist U2-Kopfkino, wie er später noch viel größer werden würde. „Stories for Boys“ und „Another Time, Another Place“ spiegeln jene jugendliche Wut wider, die Bono sich bis heute bewahrt hat.
Das Album enthält keinen einzigen schlechten Song. Produzent Steve Lillywhite – der vorgesehene Martin Hannett sprang nach dem Suizid Ian Curtis’ ab – formte den frühen Postpunk-Sound der Band entschieden mit, vor allem den Gitarrenklang von The Edge.
Und es brauchte noch nicht mal „11 O’Clock Tick Tock“ zu enthalten!
04. Pop (1997)
U2 wollten parodieren, letztendlich wurden sie für viele selbst zur Parodie. Tatsächlich haben die Musiker ihr „Pop“-Album zerredet wie sonst kein anderes, nicht mal „October“ von 1981 kam so übel weg. Sechs der zwölf Songs würde die Band nach Veröffentlichung der Platte nochmal neu herausbringen, einige als Single-Remix („Staring At The Sun“) andere gar mit neuer (Gesangs-)Aufnahme, wie „Please“.
Sogar Nicht-Singles wie „Gone“ wurde eine erneute Bearbeitung zuteil. Das „Pop“-Konzept, elektronisch angehauchter Upbeat, ließ sich nicht verwirklichen. Im Gegenteil: Die gesamte zweite Seite der LP, also alles ab „Gone“, Song sieben, war eher mittelschnell, insgesamt gab es von den zwölf Liedern nur vier tanzbare.
Spötter könnten sagen: Nach „Last Night On Earth“, Lied sechs, ging U2 anscheinend die Luft aus. Bono sagte es so: Nach „Mofo“, Minute 15 des Albums, stellte sich laut Bono der Hangover ein.
Dabei sollte „Pop“ das bis heute letzte Album sein, in dem die Band auf Risiko ging. Einen verschleppten TripHop-Rhythmus wie in „Miami“ gönnten U2 sich danach nicht mehr. Und der aggressive Techno-Beat von „Mofo“, in dem der Sänger den frühen Tod seiner Mutter anging, dominierte gar die Melodie des Stücks.
Beides sind Beispiele für gelungene Songs – „Pop“ ist eine gute Platte. Die Band fügte sich ein in das Jahr des Big Beat, dem Jahr der Chemical Brothers und des Fatboy Slim. Und die zwei meistbeachteten britischen Rock-Werke von 1997, „Be Here Now“ von Oasis, sowie „OK Computer“ von Radiohead, waren lauter, bombastischer – gewagter waren sie nicht.
03. Zooropa (1993)
1993, inmitten ihrer Welttournee und nur zwei Jahre nach „Achtung Baby“, veröffentlichten die vier Musiker ihr „Zooropa”-Album. Aufgenommen haben sie die Platte auch in transportablen Studios, zum Teil vor und nach ihren Auftritten, und immer wieder ging es mit dem Flieger nach Dublin ins richtige Aufnahmezimmer. Man spürt das Zittern in den Liedern, die Geschwindigkeit, die Entwürfe, das Loslassenkönnen, die Lust anders zu singen.
„Zooropa” ist nicht das beste U2-Album geworden, aber es ist sicher ihr mutigstes, mutiger noch als das gleichermaßen düstere wie tanzbare „Achtung Baby”.„Zooropa” ist wie eine Patchwork-Familie, aber eine gut funktionierende Patchwork-Familie. In ihrer Sequenzierung passen die Lieder nicht gut zusammen, die Übergänge sind nicht harmonisch – und doch ist jeder Song ein kleiner Schatz für sich.
Das Titelstück ist der Versuch, das „Zoo TV”- (aus „Achtung Baby”) und „Zooropa”-Konzept der Band innerhalb von sechs Minuten auf einen Nenner zu bringen: Anfang der Neunziger entstand neue U2-Musik unter dem Eindruck des Medienzeitalters. Satire im Allgemeinen, die schrillfarbige Berichterstattung zum ersten Golfkrieg, Krieg in Jugoslawien, islamistische Hetze gegen Salman Rushdie, all das beschäftigten Bono und Band, und es sollte irgendwie in die Musik einfließen.
https://www.youtube.com/watch?v=LZTNBdKNUek
„Zooropa” ist im Jahr 2017 leider etwas in Vergessenheit geraten. Der 20-Jahre-Jubiläumsbox von „Achtung Baby” war das Album zwar zusätzlich beigelegt; etwas lieblos aber lag es darin, wie ein Nebenprodukt, und die Platte erhielt auch im Gegensatz zum Vorgängerwerk kein eigenes Remastering und keine eigene Aufmachung. Bis auf „Stay” und eine „Zooropa“-Songhälfte würden U2 von 1993 bis heute auch kein Lied der Platte mehr regelmäßig live aufführen.
02. The Joshua Tree (1987)
Vor der Konzeption des Albums ging Bono hart mit sich ins Gericht, die auch im New Wave begründete Band-Vergangenheit lehnte er plötzlich ab. „U2 fehlt eine musikalische Tradition“, urteilte der Sänger. Er suchte Trost im Blues und bei Dylan; wie neuer Sprit im Tank war die Einspielung von „Silver and Gold“ 1985, später als B-Seite veröffentlicht, an der Keith Richards und Ron Wood beteiligt waren.
„Where The Streets Have No Name“ ist der einzige U2-Hit, der bei der „Joshua Tree“-Tour von 1987 fast immer, ab der „Zoo TV“-Tour von 1992 dann bei jedem regulären Tour-Konzert live dargeboten wurde. Kein Wunder: „Der Abend kann richtig schlecht verlaufen für uns“, sagte Bono einst, „aber sobald dieser Song kommt, haben alle das Gefühl, als wäre plötzlich Gott im Saal.“ Legendär ist das dazugehörige Video, eine Reminiszenz an das Rooftop Concert der Beatles. U2 stellen sich in Los Angeles aufs Dach und legen los, Tausende stehen unten, die Polizei dreht irgendwann den Strom ab.
„Bullet The Blue Sky“ gilt als das politischste Lied der Iren, seit 1987 wurde es auf jeder Tour gespielt. „Lass Deine Gitarre wie Krieg ertönen“, war Bonos Anweisung an The Edge. Dessen Instrument wurde zum Bombenflugzeug, Edge’ schrille Wah-Wah-Töne zur tödlich klingenden Ladung. Ursprünglich gedacht als Kritik an der Reagan-Regierung, die Krisen in Lateinamerika unterstützte, hält das Stück bis heute glaubhaft für alle Konflikte her, die Bono im Sprechgesang-Abschnitt des Songs abhandelt: Kosovo, Irak, auf der jüngsten Tournee Syrien.
Zuletzt thematisierte Bono darin auch selbstkritisch die eigene Vermessenheit – als Popstar zu glauben, man könne die Welt verändern.
01. Achtung Baby
Dunkelheit tritt an die Stelle des Lichts. Mit „Where The Streets Have No Name“ aus „The Joshua Tree“ begrüßten U2 den Sonnenaufgang. Mit dem „Achtung Baby”-Opener „Zoo Station“ ging die Band unter die Erde. In die U-Bahn, auf Reisen in das unbekannte Ostberlin der Nachwendezeit. The Edge spielte keine erhebenden Töne mehr, seine verzerrte Gitarre klang wie ein rasender Zug, manchmal sogar wie Krieg.
David Bowie als Inspiration und die Hansa-Studios als Aufnahmeraum. Bono sang erstmals mit verstellter Stimme. Er legte es darauf an missverstanden zu werden.
1991 schufen U2 ihr düsterstes Album, die Themen – Unschuldsverlust, Verrat, Abkehr von Gott, Allmachtsfantasien – haben 25 Jahre später ebenso wenig an Reiz verloren wie der Sound. Wer an „The Fly“ immer noch kritisiert, dass U2 damit der britischen Ravemusik den Todesstoß versetzt hätten, ignoriert, dass es keinen Song der Rave-Bewegung gab, der es mit „The Fly“ aufnehmen konnte.
„Mysterious Ways”? Ist die tanzbarste Hendrix-Variation. „Love Is Blindness“? Das traurigste, pessimistischste Lied, das je über Selbstmordattentäter und Terrorismus geschrieben wurde.
Ursprünglich wollte die Band ihr Werk „Man” nennen, als Anspielung auf die Weiterentwicklung nach dem Debüt „Boy” von 1980. Auch das hätte gepasst. Als Texter war Bono nie besser.