Von Mexas nach Texiko – Die Armutsgrenze
In der blauen Stunde, wenn die Sonne hinter den Chisos-Bergen versinkt und der Wind zum ersten Mal seit Sonnenaufgang nicht mehr die Wirkung eines 1000-Watt-Haarfbns hat, kommen die Wüstenbewohner von beiden Seiten des Flusses zum Bier nach Lajitas. Zur „Trading Post“ auf die Veranda. Die Gringos in uralten Lastwagen oder auf schweren Harleys, die Mexikaner auf Pferden oder mit einer kleinen Fähre, je nach Wasserstand. Natürlich verbietet das amerikanische Gesetz die Einreise zum Zwecke des Dosenbiertrinkens, aber nach Lajitas verirrt sich die Border Patrol nur alle Schaltjahre einmal. Ein kleiner Mexikaner mit einem Zapata-Bart schnallt ein Akkordeon vom Rücken und singt mit knarziger Stimme. „El Puente Roto“, „La Pistola Y El Corazon“, und dann, unvermittelt: „There’s a Und, so I’ve been told, every street is paved with gold, and it’s just across the borderline“. Drinnen gibt es eisgekühltes Bier und Tequila. An der Kasse klebt ein handgeschriebenes Pappschild: „Wenn Ihr unbedingt hinaus in die Wüste müßt, tragt wenigstens eine Namensplakette.“ Darunter ein ironischer Aufkleber: „Welcome to Mexas. Bienvenido a Texiko“. Für so eine Bemerkung würde man einen in Brownsville wahrscheinlich lynchen. Brownsville, am Ende der Strecke und neben El Paso die zweite große Stadt am Grenzfluß Rio Grande, hat mit den mexikanischen Nachbarn drüben in Matamoros nämlich noch eine Rechnung offen. Dazu muß man wissen, daß diesem Matamoros ein besonders schlimmes Grenzstadt-Schicksal ereilte: Weil die Surfstrände der Atlantikküste nur ein paar Meilen entfernt sind, fielen alljährlich zum Springbreak Zehntausende College-Studenten in Matamoros ein, aufgegeilt durch Wet-T-Shirt-Contests und auf der Suche nach dem ersten Vollrausch und dem anschließenden Verlust der Jungfräulichkeit. Obwohl die regelmäßige Invasion der pubertierenden Baseballkappen, Pearl Jam-T-Shirts und Trekking-Sandalen der Kneipen- und Barszene in Matamoros einen nicht unerheblichen Wohlstand bescherte, waren gewisse Leute genervt. An einem Abend, an dem die Tex-Mex-Kapelle im „El Sol“ von Gästen ausgepfiffen wurde, die statt Tejano Conjunto lieber Green Day hören wollten, schnappte sich eine dubiose Sekte einen der gröhlenden Springbreaker, opferte ihn den Mächten der mexikanischen Finsternis und warf die ziemlich zugerichtete Leiche anschließend in den Fluß. Seitdem ist Matamoros die Stadt am Rio Grande, die am mexikanischsten ist. Der Nachbar Brownsvüle dagegen ist ein fieser Anschlag aufs Wohlbefinden. Dunkelgraue Wolkenberge drücken die Schwüle hinunter in restlos verstopfte, schmuddelige Straßen. Unaufhörlich hupende Autos, laufende Dieselmotoren und schreiende Händler fabrizieren eine nervenaufreibende Geräuschkulisse. Die Luft kocht, es stinkt nach Müll, Urin und abgekochten Hühnchen, und die Brownsville Girls, die laut Bob Dylan allesamt „teeth like pearls“ haben sollten, sehen aus wie entlaufene Mutanten aus Laboratorien für Schwemmstoffforschung. Unten am Fluß, einem mäandernden Bach, der vor lauter Dreck kaum noch fließen kann, läuft das übliche Katz-und-Maus-Spiel: Mexikos Kinder planschen in der Brühe, die Border Patrol parkt am stacheldrahtbewehrten Rand der Böschung gegenüber, den Feldstecher vor den Augen. 300 Meter weiter stürzen auf einmal vier Männer aus dem Uferdickicht in den Fluß. Motoren heulen auf, Blaulichter flackern, aufgeregte Megaphon-Stimmen überschlagen sich. Der plötzlich auftauchende Hubschrauber fliegt so tief, daß seine Rotorblätter das Wasser aufpeitschen. Zwei Wochen zuvor auf dem Friedhof von El Paso: Das Grab von John Wesley Harding, geschmückt mit frischen Blumen. Die Sonne knallt, die Luft flirrt, und plötzlich steht der Mexikaner da. Erstarrt für eine Sekunde, die stahlblauen Augen vor Schreck weit aufgerissen, den Müllsack mit den gekauften T-Shirts auf dem Rücken. Als er statt der Polizeimarke nur ein Lächeln sieht, winkt er und bekreuzigt sich anschließend. Sekunden später ist er zwischen den Grabsteinen verschwunden, durch das Reich der Schweigenden hinüber in die sichere Heimat. Ich bin noch einen Moment geblieben und dann aber auch gegangen. Draußen wartete der Highway, die tote Schlange.