Von Gammlern und Rattenfängern
Der Protest am herrschenden System wurde von allen Seiten lauter. „Bei den Demonstrationen von Heißspornen in Universitäten und Biersälen gegen alles, was in unserem Staat und anderswo nicht zu gefallen vermag, spielen Männer eine besondere Rolle, die man Protestsänger – Problemsänger nennt”, erklärte der Moderator Claus Hinrich Casdorff 1967 im ARD-Magazin Monitor. „Vernachlässigt ist die Kleidung, laienhaft das Spiel auf der Gitarre, aber mutig und kompromisslos ist der Text ihrer Lieder.”
Die hier aufgegriffene Rhetorik fand sich zunächst in den Boulevardzeitungen, wo die postmaterialistischen Systemverweigerer und Gegner des bundesdeutschen Biedermeiertums und Konformismus als „Gammler”, „ausgewachsene Saubären”, „schlummernder Müll” und „das hässlichste 20. Jahrhundert” beschimpft wurden. Auch der Spiegel zeigte auf seinem Titelbild zu der Zeile „Gammler in Deutschland” einen in einem Kellerraum sitzenden langhaarigen jungen Mann mit akustischer Gitarre und studentisch-hippiesk anmutender Zuhörerschaft, und die Zeit erklärte ihren bürgerlichen Lesern: „Gammler sind Leute, so könnte man vorläufig definieren, die jung sind, wenig arbeiten, viel reisen und die Geselligkeit mit anderen Menschen über alles schätzen. Die meisten sind zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahre alt. Sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung: Kinder von Arbeitern, Söhne von Rechtsanwälten.”
Der Schlagersänger Freddy Quinn sah das weniger nüchtern und wetterte: „Ihr lungert herum in Parks und in Gassen. Wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen?” Und gab die Antwort gleich selbst: „Wir! Wir! Wir!”
„Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? Wir!
Und dankt noch denen, die uns geboren? Wir!
Doch wer will weiter nur protestieren,
bis nichts mehr da ist zum protestieren? Ihr! Ihr! Ihr!“
Hinter solchen Zeilen, die übrigens vom österreichischen Komponisten Fritz Rotter stammen, der als junger Mann noch voller Hoffnung und juveniler Schmetterlingsgefühle „Veronika, der Lenz ist da” und „Wenn der weiße Flieder wieder blüht” gedichtete hatte, stand vor allem die Furcht, dass die junge Generation all das in den Wirtschaftswunderjahren hart Erarbeitete nicht zu schätzen wusste und leichtfertig verspielte. Und das nur, weil sie den Bänkellieder singenden Rattenfängern folgte.
„Was sind das eigentlich für Leute … nun … die dieses Wagnis auf sich nehmen, von der Masse in die Nähe von Rummelplatzsängern gerückt zu werden?”, fragt Monitor-Moderator Casdorff schließlich. „Sind sie Fantasten oder wollen sie nur das magere Geschäft beleben oder sind sie wirklich politisch engagiert? Alexander von Kube hat sich mit einem der profiliertesten Bänkelsänger unserer Zeit unterhalten – mit Franz Josef Degenhardt.”
Dann sieht man klatschende junge Männer in Anzügen und eine keck in die Kamera blickende junge Frau mit modernem Kurzhaarschnitt, eine Rückansicht des dem ersten Anschein nach gar nicht verlotterten oder auch nur langhaarigen Künstlers auf der Bühne, einen alten Mann mit Brille im Publikum, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Theodor W. Adorno hat, und schließlich Degenhardt von vorn in Nahaufnahme mit Henriquatre-Bart in Jackett und hellem Rollkragenpullover, wie er eher in Manier eines Sozialkundelehrers als eines „Rummelplatzsängers” zu virtuos gezupften Saiten sein Lied „Für wen ich singe” vorträgt.
Zunächst erklärt er hier, für wen er nicht singt: etwa die Obrigkeitshörigen „die ihr euch noch in Fahnen wickelt, Hymnen singt, wenn euch der Strahlengürtel schnürt” oder die „High-Life-Spießer mit der Architektenideologie”. Auch singe er nicht, so Degenhardt weiter, für die „frankophilen Käselutscher”, „die ihr euch nicht schämt, den Biermann aufzulegen, weil der so herrlich revolutionär ist” oder die ewig gestrigen Patriarchen „die ihr eure Frauen so wie Steaks behandelt und vor Rührung schluchzt, wenn eure fetten Köter sterben”. Nicht mal für die Kinder der Gegenkultur, die „Tempelstufenhocker, ihr, die ihr nichts so liebt wie eure eigenen bemalten Bäuche, die ihr mit blöden Haschisch-Lächeln eure gesetzlosen Gesetze vor euch hin lallt” gehörten, wie viele Monitor-Zuschauer nach Casdorffs Anmoderation gedacht haben mochten, nach Selbstauskunft zur Zielgruppe dieses Liedermachers. Wer dann?
Der Bericht verrät es zunächst nicht, schneidet dem Sänger vielmehr das Wort und damit die letzten beiden Strophen des Liedes ab. „Beifall für Franz Josef Degenhardt”, heißt es stattdessen aus dem Off, während man sieht, wie der Sänger die Bühne verlässt. „Er kann singen, was er will, die Leute klatschen, trampeln mit den Füßen, verlangen Zugaben. Er kann die Gammler preisen und die Gastarbeiter, er kann den Staat verhöhnen, die Kirche, die Bundeswehr – er erntet nur Beifall.”