Von Erbrechen und Erotik
Die Engländerin Jessie ware verbindet elektronisches und traditionelles Instrumentarium zum betörendsten Soul-Pop
Glauben Sie es ruhig: Jessie Ware ist die tollste Debütantin des Jahres; eine Soul-Sängerin von atemberaubender Schönheit und kühler Noblesse. Ihr Albumdebüt „Devotion“ verbindet flott verfrickelte Post-Dubstep-Rhythmen mit radiotauglich dramatischem Pop; dazu singt Jessie Ware so elegant, unnahbar und stilvoll wie kaum eine andere Frau in der aktuellen Pop-Szenerie. Zum Niederknien!
Bei ihrem ersten Deutschland-Konzert im Bi Nuu, einem winzigen Club in einem S-Bahn-Pfeiler in Berlin-Kreuzberg, muss sie sich freilich fast erbrechen; eine knappe Stunde lang spielt sie sich tapfer, aber mit sichtlich wackelnden Knien durch ihr Song-Programm und ein paar Coverversionen. Am Morgen danach ist Jessie Ware immer noch ziemlich blass um die Nase, da hilft auch das energisch aufgetragene Make-up nicht viel. Bis kurz vor ihrem Auftritt, sagt sie, lag sie mit einem Magen-Darm-Virus nieder. „Ich sah mich schon in Berlin auf der Bühne stehen – und brechen! Ein Albtraum! Oder andererseits, vielleicht wäre das ja auch gerade ein großer YouTube-Erfolg geworden?, Jessie Ware kotzt beim Konzert.‘ Wie Lady Gaga oder Justin Bieber! Eine Million Klicks! Virales Marketing!“
In dieser Hinsicht ging dann doch alles gut, der Mageninhalt von Jessie Ware blieb, wo er hingehörte. Leider lausig war hingegen der Sound: Der Mann am Mischpult hielt es für eine gute Idee, Jessie Wares Stimme so weit in den Hintergrund zu drehen, dass man sie kaum noch hörte. „Ich kam vorher gerade aus Polen“, sagt sie am nächsten Morgen, „und ob du es glaubst oder nicht: In Polen bin ich ein Star! Da habe ich gerade eine Goldene Schallplatte bekommen und ein paar Konzerte in großen Hallen gespielt. Ständig scharwenzelten Leute um mich herum, die Tontechniker haben mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Und in Berlin? Ich hab den Typen beim Soundcheck gefragt, ob er mich lauter drehen kann, weniger Höhen, den Klang weicher machen … Er hat nur mit den Achseln gezuckt. Das war’s.“
Ersatzweise erhielt man an diesem Abend einen überaus plastischen Eindruck vom präzisen Spiel der Rhythmussektion. Was seinen eigenen Reiz besaß: Denn auch wenn Jessie Ware auf der Konzertbühne mit klassischem Instrumentarium – Gitarre, Bass, Schlagzeug – antritt, so streben ihre Mitmusiker und sie doch danach, das elektronisch geprägte Klangbild der Studioproduktion wiederzugeben und zu variieren. Zwischen ihren Gesangseinsätzen erzeugt sie auf einem Touchpad anmutig stolpernde Rhythmen, und der Drummer, sagt sie, „benutzt genau die elektronischen Beats, die wir für die Album-Aufnahmen programmiert haben“.
So ist es bei Jessie Ware durchweg: Clubmusik und Mainstream-Pop, elektronische Produktionsweisen und klassisches Band-Zusammenspiel durchdringen sich in ihrer Musik virtuos. Das unterscheidet sie vom sonstigen Soul-Pop der vergangenen Jahre, der ja wesentlich von Retroseligkeit und Vintage-Instrumentierungen geprägt gewesen ist. „Ich liebe Amy Winehouse„, sagt sie, „wenn ich an ihr erstes Album denke, läuft mir noch immer eine Gänsehaut herunter. Und ich liebe Adele! Aber bei meiner Musik will ich, dass sie nach Gegenwart und nach Zukunft klingt; und ich mag es, wenn man unter den klassischen Melodien immer noch irgendeinen futuristischen elektronischen Sound hören kann.“
Ihre Karriere hat sie in Brixton als Background-Sängerin für Jack Penate – „einen alten Schulfreund“ – begonnen. Der Dubstep-Produzent SBTRKT lud sie daraufhin zur Zusammenarbeit ein; auf seinem fabelhaften Albumdebüt „SBTRKT“ aus dem Jahr 2011 ist Jessie Ware als Vokalistin zu hören. Dadurch, sagt sie, sei sie plötzlich zum Liebling der Londoner Dubstep-Szene geworden und von den dazugehörigen Underground-Radios wie etwa Rinse FM. „Immer mehr Produzenten boten mir an, auf ihren Tracks mitzusingen; und ich begann mir schon eine Karriere als Dancefloor-Vokalistin auszumalen! Das macht wirklich verdammt viel Spaß, mit diesen Typen und ihren irren Klangideen und gebrochenen Beats im Studio zu tüfteln!“
Auf „Devotion“ haben sich irres Getüftel und schöner Gesang nun aber zu klassischen Songformaten verbunden – was wesentlich auch den drei Komponisten zu verdanken ist, mit denen die Platte entstand. Julio Bashomore arbeitet ansonsten als House-Produzent; der Songwriter Kid Harpoon hat beispielsweise für Florence And The Machine geschrieben; und Dave Okumu von der Band The Invisibles, sagt Jessie Ware, „hat für die komplexen Rhythmen und Basslinien gesorgt“. Niedergeschwind dahinklickernde Balladen wie das Titelstück hat sie mit den dreien ebenso virtuos arrangiert wie das schwelgende „Night Light“ oder das in dramatischen Loops sich emporschwingende „No To Love“.
Die Kühlheit der Elektronik und die Wärme des Soul sind dabei kein Widerspruch mehr, weder in den Arrangements und den Sounds noch in Jessie Wares Stimme: Selbst in den dramatischsten Passagen, den romantischsten Momenten wirkt sie zurückhaltend und unterkühlt; eine Distanz, die sie gleichwohl nur umso erotischer erscheinen lässt. „Ich will niemanden mit meiner Stimme bedrängen“, sagt sie. „Ich will, dass die Menschen sich in meiner Musik verlieren können.“
Im kommenden Frühjahr geht die Sängerin auf eine längere Deutschlandtournee, ihr zweites Berlin-Konzert wird sie dann wahrscheinlich im Diskotheken-Bunker Berghain spielen. Die Qualität der dortigen Sound-Anlage ist legendär: Für den nächsten Auftritt von Jessie Ware besteht also Hoffnung darauf, dass nicht nur die Herzen schmelzen, sondern auch die Ohren etwas hören.