Von der Beatlemania zur Psychedelia: Zum 50-jährigen Jubiläum von „Rubber Soul“
John Lennon war auf dem Gipfelpunkt seiner Songwritingkunst angekommen und Paul McCartney hielt alle musikalischen Fäden zusammen: Mit "Rubber Soul" suchten die Beatles nach einem Weg aus dem Wahnsinn, der sie umgab.
Vor 50 Jahren erschien das erste Beatles-Album. Es hieß „Rubber Soul“. Moment. Da war doch was davor, oder? Natürlich, Langspielplatten, Liederkollektionen, Soundtracks. Aber das Albumformat, wie wir es kennen, gab es da noch nicht. Im Herbst 1965 hatten die Beatles zum ersten Mal in ihrer Karriere Zeit, eine Platte an einem Stück zu schreiben und aufzunehmen, ohne von Tourneen, Dreharbeiten oder anderen Verpflichtungen unterbrochen zu werden.
Gut, lang war die Zeit nicht: Zweieinhalb Monate, nachdem sie erschöpft von ihrer US-Sommertour zurückgekehrt waren, auf der sie unter anderem im Hollywood Bowl und im Shea Stadium den Höhepunkt der Beatlemania erlebten, war „Rubber Soul“ fertig. In den USA hatten sie das neue Bob-Dylan-Album „Highway 61 Revisited“ gehört, einen furiosen Ritt durch ein mythisches Amerika; ein geschlossenes, durchkonzipiertes Werk, das wiederum nicht möglich gewesen wäre, wenn der ehemalige Protestsänger nicht im Februar 1964 im Autoradio, irgendwo in der Nähe von Denver, zum ersten Mal „I Want To Hold Your Hand“ gehört hätte, das ihm den Notausgang aus der Folkszene Richtung Pop und Hedonismus gezeigt hatte.
Und als er John, Paul, George und Ringo ein halbes Jahr später in einem Hotel an der New Yorker Park Avenue traf, waren auch sie bereits auf der Suche nach einem Weg aus dem Wahnsinn, der sie umgab und dem Image, dem sie entsprechen mussten.
Neue Inspiration durch Drogen
Dylan zeigte ihnen diesen Weg. Mit einem Joint. Vor allem John Lennon sprach auf das Rauschmittel sehr positiv an. Hatte er seine eigenen Ängste und Traumata bis dahin noch mit dem Konsum von Amphetaminen und Alkohol verdrängt, schien die neue Droge ihn zu öffnen – erste Versuche in Innenschau und Melancholie wie „No Reply“, „I’m A Loser“ und „Babies In Black“. Bei den Dreharbeiten zu „Help!“ fand auch George Harrison eine Tür in sein Innerstes, lernte er doch in dieser Zeit die indische Musik und Spiritualität kennen.
Ursprünglich hatten die Beatles die Idee, Ende 1965 in alter britischer Tradition ein Comedy-Album aufzunehmen. Mit ihrem Produzenten George Martin, der bereits in den Fünfzigern unter anderem Platten mit Peter Sellers, Spike Milligan und ihrer „Goon Show“ gemacht hatte, hatten sie dafür einen echten Spezialisten an ihrer Seite. Aber es war schließlich nicht die durchaus vorhandene Komik, die viele der Lieder vereinte, die sie schließlich im Oktober, drei Tage, nachdem sie die Queen zu „Members of the British Empire“ gekürt hatte, ins Studio brachten, sondern ihr Thema: die Liebe.
Natürlich erst mal nichts Ungewöhnliches, schließlich hatten sie in keinem ihrer Songs bis dahin über etwas anderes gesungen, doch während sie in ihrem Hit „I Feel Fine“ Ende 1964 noch einmal das alte Spielchen vom „boy“ und seinem „little girl“, das ewige Treue schwört, gespielt hatten, handelten die neuen Lieder von Beziehungen, in denen die Machtverhältnisse weniger klar waren: „I once had a girl or should I say she once had me?“
Lennon war auf dem Gipfel seiner Songwritingkunst
Lennon und McCartney halfen sich weiterhin bei der Komposition ihrer Songs, doch ihre Persönlichkeiten zeigten sich immer deutlicher. Lennon geriet in seiner Marihuana-Melancholie in einen wahren Gefühlstaumel, zeigte sich nostalgisch („In My Life“) und verletzlich („Girl“, wenn auch das scharfe Pot-Head-Einatmen und die „Tit, tit, tit“-Chöre noch auf das Comedy-Konzept verweisen), in einem Moment voller Selbstzweifel („Nowhere Man“), im anderen cholerisch („Run For Your Life“). Lennon war auf dem Gipfel seiner Songwritingkunst und erweiterte die emotionale Palette der Beatles-Songs.
McCartney, dessen kriselnde Beziehung zu Jane Asher ihre Spuren in Songs wie „You Won’t See Me“ und „I’m Looking Through You“ hinterließ, trieb die Band hingegen musikalisch an – sein Bass ist vom ersten Ton seines Albumauftakts „Drive My Car“ wesentlich prominenter als zuvor, was – ebenso wie die Melodie, die er zu Lennons Poem „In My Life“ schrieb – seiner Liebe zu Motown-Produktionen zu verdanken ist. Er führte die Beatles an, als sie begannen, die Möglichkeiten des Studios zu entdecken.
Doch auch Harrison half bei der Evolution der Band beträchtlich mit, spielte in „Norwegian Wood (This Bird Has Flown)“ ein exotisches indisches Instrument – eine Sitar. Die hatte er sich erst kurz zuvor gekauft, nachdem er mit David Crosby in Los Angeles lange über indische Musik und den Sitar-Virtuosen Ravi Shankar unterhalten hatte. Auch das Spiel von Crosbys Bandkollegen Roger McGuinn, der sich seine Rickenbacker ja nur gekauft hatte, weil Harrison eine solche in „A Hard Day’s Night“ spielte, inspirierte ihn. Sein erster eigener großer Song, „If I Needed Someone“, klingt eher nach den Byrds als den Beatles.
„Rubber Soul“ war als Comedy-Album geplant
McCartney und Harrison begannen, aus seinem Schatten zu treten. Eine Entwicklung, die auf dem nächsten Album noch offensichtlicher werden sollte. Die Beatles wurden eine andere Band in dieser Zeit, ihre Lieder klangen voller, dynamischer und verspielter als zuvor. Der Fotograf Robert Freeman zeigte ihnen mögliche Covermotive für das neue Album, die er auf ein quadratisches Stück Pappe projizierte, das er senkrecht an die Lehne eines Stuhl gestellt hatte. Als es ein wenig nach vorn rutschte und die Bilder in die Länge zerrte, sahen die Künstler die von süßlichem Rauch erfüllte Gummiseele ihrer neuen Lieder getroffen. Mit „Rubber Soul“, das seinen Anfang als Comedy-Album nahm, machten die Beatles ernst. Dieses Album war ein Aufbruch – von der Beatlemania zur Psychedelia.