Vom Spaß in schweren Zeiten
Hat hier einer Emo gesagt? Tatsächlich stehen My Chemical Romance für eine Renaissance des Bombast-Rock und Hair-Metal.
Albert Hammond hat gelogen: Auch in Kalifornien regnet es bisweilen und ist sogar kalt. Der Herr neben uns verbirgt sein Gesicht trotzdem unter einer großen Sonnenbrille. Eine vergebliche Maßnahme: Die Stimme dieses Mannes würde ihn noch im dichtesten Schneesturm verraten. Kehlig rasselnd, im Sprachmodus leicht asthmatisch, zugleich aber auch verrucht und irgendwie, nun ja, sexy – eine archetypische Rock-Stimme, die in diesem Moment in ein Mobiltelefon spricht.
Wir stehen vor dem Sunset Marquis in Hollywood, und der Mann neben uns ist: Steven Tyler. Dass der Aerosmith-Sänger und American-Idol-Jury-Teilnehmer hier auf sein Auto wartet, ist nicht erstaunlich: Das Hotel ist bei Rockstars und Show-Größen jeglicher Provenienz überaus beliebt. An guten Tagen können Paparazzi hier auf einen Schlag einen Gutteil der US-Show-Elite ablichten.
Wir sind zwar nicht wegen Tyler gekommen, aber sein plötzliches Auftauchen passt zu gut, als dass es ein Zufall sein könnte: Beinahe unbemerkt findet in den letzten Jahren – und damit zwei Dekaden, nachdem Nirvana der großangelegten Rockmusik den Garaus gemacht haben – eine Renaissance des theatralischen Schmock- und Bombast-Rock statt. Die Band, die hauptsächlich dafür verantwortlich ist, entstammt mit Emo ausgerechnet einem comicartigen Sub-Genre, das man lange für einen schlechten Teenagerscherz gehalten hatte – My Chemical Romance.
Mit ihrem letzten Album, „The Black Parade“, hat die Truppe aus New Jersey mit ähnlichen Konzepten wie die Hair-Metal- und Hardrock-Bands der Achtziger ein ganz großes Publikum erreicht. Die Insignien des Emo waren auf diesem Werk nur noch eine – von den Fans freilich mit heiligem Ernst goutierte – Kulisse. Die Musik auf „The Black Parade“ war hingegen überwiegend Queen und ähnliche Bands zitierender Stadion-Rock, auf den sich ein breites Publikum einigen konnte. Das Album hievte My Chem, wie man in Fankreisen sagt, aus dem Genre-Ghetto auf den Rock-Olymp, führte sie in zweieinhalb Jahren um die ganze Welt und brachte sie an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung. Aus einer lokalen Szene-Band aus New Jersey, die das erste Album auf dem Minilabel eines Bekannten veröffentlicht hatte, war binnen weniger Jahre ein Mega-Act von Green-Day-Dimensionen geworden.
Danach war alles schwer: „Bevor wir wieder ins Studio gingen, spielten wir ein paar Konzerte in Japan“, sagt Gerard Way, der Sänger, ach was: Alleinherrscher der Band. „Ich musste mir vorher die alten Texte noch mal angucken, und auf einmal bekam ich es mit der Angst zu tun. Diese Band, die wir zur Zeit von ‚The Black Parade‘ waren, klang so mutig. Wie sollen wir uns bloß wieder in diesen Zustand versetzen?“ Wir gehen auf verwinkelten Wegen durch den abgeschirmten Bungalow-Park des Sunset Marquis. Wie seine Mitmusiker – Bruder Mikey, Frank lero und Ray Toro, Schlagzeuger Bob Bryar hat die Band verlassen – ist Way eine dürre Gestalt mit beängstigend ungesunder Hautfarbe, die in krassem Kontrast zu seinen neuerdings grellrot gefärbten Haaren steht.
Vor dem Hotel warten zwei schwarze Limousinen, die uns zum Radiosender KROQ-FM bringen sollen. Der zu Punk- und New-Wave-Zeiten legendäre und mutige Sender ist längst zur Modern-Rock-Formatstation degeneriert, als eine solche aber enorm wichtig. Hier findet heute mit einigem Brimborium die USA-Premiere der neuen My-Chemical-Romance-Single „Na Na Na“ statt. Die mächtige Hymne, die so klingt, wie sie heißt, war eigentlich als letzter Beitrag für den „Black Parade“-Nachfolger geplant, doch dann kam alles ganz anders. Als Way den fertigen Song zum ersten Mal hörte, entschied er sich, in dieser Richtung weiterzuarbeiten und eine komplett neue Platte aufzunehmen. Also wurde ein bereits fertig gestelltes Detroit-Sleaze-Rock-Album bis auf drei Songs in die Tonne gekloppt und die Band machte sich erneut ans Werk. Acht Monate später haben My Chem nun in einer gewaltigen Materialschlacht mit Produzent Rob Cavallo (Green Day) „Danger Days: The True Lives Of The Fabulous Killjoys“ aufgenommen. Eine Art tuntiges Mad-Max-Endzeittheater mit grellen Laser-Kanonenblitzen, dem eine Schnurre über eine Radioshow in einer postapokalyptischen Welt des Jahres 2019 als grober Rahmen dient.
Bitte haben Sie an dieser Stelle Verständnis dafür, dass wir dieses Konzept nicht weiter erläutern wollen. Interessanter ist ohnehin folgendes: Auch diese zweite Platte ist in gewisser Weise eine Referenz an den Rock’n’Roll der Stadt Detroit geworden, an einer Stelle singt Way sogar die Zeile „Kick out the jams“. „Dies ist die Platte, auf die Iggy stolz wäre“, behauptet Way. Zusammen mit Pop hat Way kürzlich dem „Spin“-Magazin ein Interview gegeben, in dem der Sänger unter anderem gesagt hat, von Iggy habe er den Ehrgeiz, auf der Bühne nicht die Mädchen umgarnen zu wollen, sondern heterosexuelle Männer – „I want the straight guys to fuck me.“
Und das ist jetzt der große Unterschied zu den Stadionbands vergangener Dekaden: My Chemical Romance sind null macho. Sie verbinden die Weinerlichkeit des Grunge mit dem plastic-feel des Hair-Metal und – das wichtigste! – der Androgynität des Glam-Rock. Insofern ist eine Detroit-Hommage ein absolut passendes Konzept für diese Band.
Das Besondere an den großen Detroit-Bands von den Stooges bis zu Kiss ist ja, dass sie zwei Bereiche spielerisch zusammenbrachten, die sonst im Rock hermetisch voneinander getrennt sind: Authentizität und artifizielle Doppeldeutigkeit. „Darum geht es in unserem neuen Song ‚The Last Attempt'“, sagt Way, und stellt eine rhetorische Frage: „Warum gibt es ausgerechnet im Rock so viele verdammte Regeln, wo es doch eigentlich gar keine geben dürfte? Unsere Musik soll eine Cruise Missile sein, die den heutigen Rock’n’Roll zerstört und unter ursprünglichen Bedingungen wieder auferstehen lässt.“
Sie haben es vielleicht schon bemerkt: Gerard Way ist ein Freund markiger Sprüche. Außerdem: ein an Theatralik schwer zu übertreffender ultraprofessioneller Interview-Partner, der es schafft, einem die ganze Zeit über das Gefühl zu geben, dies sei gerade das aufregendste und inspirierendste Gespräch seines Lebens. Dass Androgynität in der Rockmusik ein bisschen aus der Mode gekommen ist, lässt sich allerdings nicht von der Hand weisen. Doch Way steht in gutem Kontakt zu seiner weiblichen Seite: „Diese Unsicherheit, das Spiel mit den Geschlechterrollen war es doch auch, was den Reiz von Bowie ausgemacht hat. Dass man nicht so genau wusste, ob er ein Mädchen oder ein Typ ist. Sexuelle Herausforderung ist für mich Rock’n’Roll.“
Aktuell ist Detroit freilich in ganz anderer Weise von Bedeutung: Die erste amerikanische Geisterstadt ist wie keine andere zum Symbol für den Niedergang der US-Wirtschaft geworden. Die verwaisten Prachtalleen und leerstehenden Wolkenkratzer wirken wie ein anklagendes Mahnmal gegen Maßlosigkeit und Arroganz. Ein Umstand, dem My Chem mit ihrem etwas pubertären Album-Konzept indirekt Tribut zollen. „Neun Jahre nach 9/11 steht die gesamte Welt vor einer großen wirtschaftlichen Herausforderung“, hat Way erkannt. „Bis letztes Jahr haben wir in den USA diesen Umstand ignoriert und einfach so weitergemacht wie immer. Nun aber habe ich das Gefühl, dass ein Umdenken stattfindet.“
Am Ende des Albums ertönt zwar eine disharmonische Version der amerikanischen Hymne, aber der Beitrag der Band My Chemical Romance ist insgesamt doch eher ein hedonistischer: „Es geht nicht unbedingt darum, vor etwas zu warnen. Die Botschaft ist vielmehr, dass man auch in schwierigen Zeiten noch Spaß haben kann.“ Klingt profan, scheint aber eine revolutionäre Erkenntnis für den Vorstand dieser leiderprobten und Leid propagierenden Goth-Truppe zu sein.
Es gibt einen Song mit dem Titel „Bulletproof Heart“ auf der neuen Platte, der auf ein Zitat aus dem Comic „V For Vendetta“ von Alan Moore und David Lloyd zurückgeht. „Als am Ende auf V geschossen wird, sagt er sinngemäß ‚He can’t kill me ‚cause I’m an idea, and ideas are bulletproof.‘ Als ich das mit 16 gelesen habe, war es wie eine Erleuchtung für mich“, erklärt Way. Auch der Sänger musste Wege finden, bulletproof zu werden. Way war lange Alkoholiker und nahm viele Drogen, heute lebt er abstinent. Seine lebensrettende „Idee“ ist – neben der Band – seine Familie, mit der er seit einiger Zeit am Rande von − wo sonst? − L.A. lebt. „Wir haben das Dunkle ja lange genug zelebriert, aber durch die Geburt meiner Tochter habe ich erkannt: Du hast ein tolles Leben, eine tolles Kind. Das hat einen Wert, auch wenn der Rest mal nicht stimmt.“ Übrig geblieben von den Süchten des Sängers sind nur die Zigaretten, die er unablässig raucht.
Solchermaßen konditioniert hat sich Way, dessen zweiter Comic-Band eben auf Deutsch erschienen ist, vor einiger Zeit einen Kindheitstraum erfüllt: My Chem nahmen für den Abspann der Verfilmung der Graphic Novel „The Watchmen“ Bob Dylans „Desolation Row“ in einer Punk-Version auf. „Die meisten Leute wurden in ihrer Jugend von irgendwelchen Bands oder Büchern geprägt – für mich waren die ‚Watchmen‘ der wichtigste Einfluss“, bekennt Way − und fügt Erstaunliches hinzu: „Dylan hat unsere Version gehört, und sie hat ihm gefallen.“
Dass Dylan auch der neue Song „The Only Truth For Me Is You“ gefällt, ist indes eher unwahrscheinlich. Wir hingegen nehmen ihn gerne als weiteren Beleg für die Eingangsthese: Ja, auch die verschwunden geglaubte Power-Ballade feiert fröhliche Urständ bei My Chemical Romance. Steven Tyler hätte seine helle Freude.