Vom Privileg, Depeche Mode zu sein

Dave Gahan legt erst mal die Füße hoch. „„Das stört dich doch nicht, oder?“, fragt er freundlich. Nicht nur wegen der gemütlichen Sitzposition sieht der Sänger – mal wieder perfekt frisiert und figurbetont gekleidet – entspannt aus. Er grinst viel und raucht wenig. Nur ein Zigarillo liegt im Aschenbecher. Beim Kollegen Martin Gore, der hier in Berlin ein paar Hotel-Suiten weiter Hofhält, wird zwar gar nicht geraucht, dafür hätte man vielleicht die Heizung aufdre- hen sollen. Der Songschreiber sitzt mit verschränkten Armen am äußersten Couch-Rand, als fröstelte er inwendig. Eine große Mütze verdeckt das krau‘ se Haupthaar, die schwarz lackierten Fingernägel trommeln auf den Tisch. Ein leicht gequältes Lächeln verdeckt nicht die offensichtliche Tatsache, dass Gore keine allzu große Lust hat, sein Seelenleben zu offenbaren. Er tut das mit fast masochistischer Lust in seinen Songs, aber äußerst ungern in Interviews.

Da sitzen sie also, die beiden Köpfe von Depeche Mode, und könnten wieder einmal nicht unterschiedlicher wirken. Doch als sie vor fast vier Jahren über das letzte Album „Playing The Angel“ sprachen, kamen erstaunliche Parallelen zutage: Manchmal glichen sich die Aussagen aufs Wort. Also warum den zweien nicht gleich genau dieselben Fragen stellen zu den Themen, die ihnen ähnlich -wichtig sein dürften: das neue Werk „Sounds Of The Universe“, das am 17. April erscheint – und die Vergangenheit und Zukunft ihrer Band? Das Problem daran ist: Die durchschnittliche Antwort-Länge von Gahan liegt bei zwei bis drei Minuten, Gore braucht kaum mehr als 30 Sekunden.

Außerdem steht Gahan noch unter dem Schock der „Echo“-Verleihung am Tag zuvor. Dort präsentierten Depeche Mode zum ersten Mal ihre neue Single „Wrong“. Vorher mussten sie leider stundenlang mitansehen, wie Bruce Darnell die Schlager-Prinzessin Helene Fischer in Grund und Boden redete, Oliver Pocher fade Witze riss, und mit etwas Pech liefen sie vielleicht auch noch Jenny Elvers-Elbertshagen, Bushido oder Florian Silbereisen über den Weg. Dann setzte sich Barbara Schönberger neben die Band und erkundigte sich, ob sie denn ihretwegen gekommen seien. „Nur für dich, Barbara!“ antwortete Martin Gore in einwandfreiem Deutsch. Alle drei guckten, als wären sie auf dem Mars gelandet und müssten sich jetzt freundlich-unscheinbar verhalten, um nicht gemeuchelt zu werden.

Gahan lacht bei der Erinnerung an den Abend. „Lass es mich so sagen: Es ist eine ziemlich ungewöhnliche Show! Gar nicht wie die Grammys oder so, viel — na ja, vielseitiger. Wir saßen vier Stunden herum, bis wir auftreten durften. Da baut sich eine Menge Nervosität auf, und wir hatten Angst, dass das Publikum inzwischen eingeschlafen war. Die müssen sich ja zu Tode gelangweilt haben.“ Immerhin wurde ordentlich Lärm gemacht, als Depeche Mode auf die Bühne kamen – „und dann war nach drei Minuten schon alles vorbei“. Another day in life’s great adventure, wie Bob Geldof einst sang.

So viel Schwung wie bei „Wrong“ hatten Depeche Mode recht lange nicht mehr. Da gab es überraschte Gesichter.

Gahan: Gut so, die Leute sollten sich ein bisschen darüber wundern. Der Rhythmus ist ja für uns eher ungewöhnlich – er ist wahrscheinlich so sehr R&B, wie wir eben R&B sein können. Also nicht sehr! (lacht) Es ist auch ein gewaltiger Wortschwall – not a rap, it’s a rant. Sehr amüsant. Als würde ein 13-Jähriger mit dem Fuß aufstapfen und sich beschweren, weil die Eltern so nerven. In dem Alter ist ja alles, was man macht, verkehrt- zumindest sagen einem die Eltern das dauernd. Ich mache bei meinen Kindern genau dasselbe! Widerlich. Wer will schon dauernd gesagt bekommen, was er tun soll? Am Ende hat man sowieso keine Kontrolle darüber. Das ist die große Lektion des Lebens: Man kann nichts wirklich beeinflussen.

Gore: Wir haben uns für“Wrong“ als erste Single entschieden, eben weil es ziemlich anders als unsere üblichen Sachen ist. Ich habe öfter den Begriff „future retro sound“ gehört, der gefällt mir ganz gut. Viele der neuen Songs haben so einen Sixties-Space-Age-Pop-Sound. Nicht gerade wie Martin Denny oder Esquivel, aber so was in der Art. Ich habe ja immer gesagt, dass ich ein traditioneller Songschreiber bin, so wie ich Akkorde, Melodien und Worte zusammensetze. Nur die Instrumentierung, für die sich die Band dann entscheidet, ist eben etwas anders. Aber für mich gehen Elektronik und Emotionen gut zusammen, das ist kein Widerspruch. Uns ist es immer gelungen, Emotionen aus der Elektronik herauszuholen.

Das Album dauert fast eine Stunde. Länger, als Ihr es eigentlich gern habt?

Gahan: Stimmt. Wir hatten Angst, dass es zu lang ist. Ben Hillier, der Produzent, und ich wollten es noch mehr zusammenstauchen, aber irgendwann war die Grenze erreicht. Wir hatten diesmal viel zu viele Songs – ein Problem, das wir noch nie hatten! Deshalb hat es ewig gedauert, alles richtig anzuordnen. Das war wie bei den Setlists, die sind auch jedes Mal ein Riesen-Aufwand. Manch toller Song passt dann einfach nicht hinein. Was schade ist, aber unvermeidbar.

Gore: Wir kommen ja aus den Old-School-Vinyl-Tagen, damals passten nur 44 Minuten auf eine Platte, und diese 44 Minuten bevorzugen wir heute noch. Diesmal hatten wir allerdings die Qual der Wahl, es gab so viele Songs, 11, wenn ich mich recht erinnere – selbst 13 auszuwählen, war kompliziert. Jetzt haben wir fünf Extra-Tracks, die auf das Box-Set (es wird „Sounds Of The Universe“ enthalten, eine CD mit Remixen und Bonus-Tracks, eine mit exklusiven Demos von alten und neuen Stücken sowie eine DVD kommen werden. Aber auch gut genug für das Haupt-Album sind. Da hätte man viel hin- und herschieben können. Am Ende denkt man sowieso immer, dass man es doch nicht ganz richtig gemacht hat. Irgendwann sprach Ben Hillier sogar davon, ein konzises Zehn-Track-Album zu machen. Aber da musste ich doch widersprechen, es war so schon hart genug.

Zwischenfrage an Martin Gore, der ja als Faulpelz bekannt ist und normalerweise nie mehr Songs schreibt, als unbedingt nötig sind: Warum gab es überhaupt so viele Songs? Er muss nicht lange überlegen: „Es gibt viele Gründe, und der wichtigste war wohl, dass ich das Trinken aufgegeben habe! Ich trinke seit drei Jahren nichts mehr, und das hat mir geholten, fokussierter zu arbeiten und mich mehr dem Songschreiben zu widmen. Ich hatte einfach mehr Zeit!“ Zudem entschied Gahan 2007, ein zweites Soloalbum aufzunehmen, so dass klar war: Gore würde ein Jahr Zeit haben, um Songs zu schreiben, ohne dass irgendwer drängelt. Befreit vom Druck von außen häuften sich schnell viele Demos an, für die er gar nicht erst ins Studio ging. Er fabrizierte sie einfach auf dem Laptop, „alles virtuell, außer den Gitarren und dem Gesang“. Und während er so mit den Songs und mit seiner Familie beschäftigt war, fiel es ihm erstaunlicherweise gar nicht schwer, die Finger vom Alkohol zu lassen.

Bisher waren sich die Herren recht einig. Da dies nun bereits das zweite Album ist, bei dem Gore nicht mehr allein Songs schreibt, sondern Gahan mitmachen lässt, kann man das Ergebnis jetzt ja noch besser diskutieren als beim ersten Gemeinschafts-Werk. Also weiter im Vergleich.

Wie unterscheiden sich Gahans Lieder von Gores?

Gahan: Ich denke, meine Songs fallen schon auf, die Persönlichkeit ist anders. Etwas wilder vielleicht? Trotzdem passen sie diesmal sehr gut ins Konzept, fügen sich schön zwischen denen von Martin ein. Auf „Playing The Angel“ hat das nicht so gut funktioniert. „Nothing’s Impossible“ ging zum Beispiel einfach in eine falsche Richtung. Auf dem Box-Set wird man die Demo-Version hören können, das ist toll. So kann ich sagen: Das war meine Vorstellung davon, und mir gefällt die immer noch besser! (lacht) Diesmal bin ich sehr zufrieden. Martin hat meinen Songs sehr geholfen, er hat sich so viel Zeit genommen und viel ausprobiert. Manchmal musste ich das aus ihm rauspressen, aber dann hat er etwa bei „Come Back“ diese wunderbaren Backing-Vocals hinzugefügt. Zuerst sagt er immer, er hätte keine Idee und wüsste nicht recht. Man muss ihn einfach zwingen.

Gore: Alle Songschreiber unterscheiden sich doch irgendwie. Ich weiß nicht. Dave schreibt offensichtlich ganz anders als ich, denn er arbeitet mit anderen Leuten zusammen. Soweit ich weiß, beschäftigt er sich eher nur mit den Worten und Gesangslinien. Soweit ich weiß! Allerdings gehen die Stücke im Studio dann sowieso durch den Depeche Mode-Prozess, alle arbeiten daran. Danach ist es, glaube ich, schwer zu erkennen, welche Songs von wem sind.

Ist die Zusammenarbeit jetzt einfacher, habt Ihr Euch an die Arbeitsteilung gewöhnt?

Gahan: Mir kommt sie sehr natürlich vor. Martin sagte neulich sogar, man könne unsere Songs kaum noch auseinanderhalten. Wenn sowas von ihm kommt, ist das natürlich ein Kompliment. Manche haben auch bereits falsch geraten. Fletch ist es ja immer ausgesprochen wichtig, alles festzuzurren: „Das ist Daves! Und das ist Martins!“ Er kann das gar nicht genug betonen. Aber wenn wir im Studio sind, sollten die Songs eigentlich immer zu Depeche Mode-Songs werden, egal wer sie anbringt. Sonst ist das ja alles sinnlos, und wir können weiter Solo-Alben machen, Martin und ich. Die Kombination ist der Schlüssel.

Gore: Ich glaube schon. Dave hat jetzt zwei Soloalben veröffentlicht, und ganz offensichtlich fühlt er sich als Bandmitglied jetzt viel erfüllter, da er etwas mehr beitragen kann. Das macht die Atmosphäre zwischen uns viel besser. Wir verstehen uns jetzt viel besser. Ach, wir scheinen das jedes Mal zu sagen, aber es stimmt auch wirklich – es wird immer besser.

Würdest du Depeche Mode 200g als Demokratie bezeichnen?

Gahan: Naja, das sagen wir jedenfalls immer! (lacht) Schau her- bis jetzt hat immer Martin die Songs geschrieben, all die Jahre, und was für fantastische Songs. Also würde ich sagen: Es gibt jetzt neue Regierungsmitglieder. Es war aber immer so, dass alle mit entschieden haben, in welche Richtung es gehen und wie das Resultat aussehen soll. Die Kunst ist, zuzuhören, auch wenn man anderer Meinung ist. Das gilt nicht nur für Martin und mich, oft genug ist auch Fletch anderer Meinung. Und manchmal hat er sogar recht! (lacht) Fletch spielt zwar kaum auf den Alben, aber er hat oft gute Ratschläge parat. Bei uns hat jeder seinen Platz.

Gore: Wir waren immer eine Demokratie. Ich glaube, das wurde alles falsch ausgelegt. Ich habe die Songs geschrieben, weil einer es tun musste, als Vince (Clarke) die Band verließ. Dave und Andy haben sich nicht drum gerissen. Als Alan dazukam, schrieb er zwei Stücke auf „Construction Time Again“ und ein oder zwei auf „Some Great Reward“, und das war’s dann.

Möglicherweise hat er erkannt, dass er’s nicht so gut kann.

Gore: He-he. Aber ich habe nie jemanden abgehalten.

Und wenn Dave jetzt plötzlich keine Songs mehr schreiben wollte?

Gore: Da wäre ich schockiert. Aber das wird nicht passieren. Der hat so viel Spaß daran, das wird sicher noch Jahre so weitergehen. Momentan sehe ich jedenfalls keinen Grund, warum nicht. Das Erschreckende ist: Ich kann mir inzwischen tatsächlich vorstellen, dass wir das noch machen, bis wir richtig alt sind.

Wird man mit den Jahren milder und kann Kritik leichter ertragen?

Gahan: Es ist immer schwer, mit Kritik umzugehen. Und noch häufiger wünscht man sich, man hätte gewisse Dinge nicht gesagt. Aber als Band so lange so eng zusammenzuarbeiten – das ist ja irgendwie auch eine unnatürliche Geschichte, oder? Nach fast 30 Jahren kommt es einem noch komischer vor als am Anfang. Wenn Fletch gefragt wird, was die Band zusammenhält, sagt er immer: die Songs. Das ist natürlich offensichtlich. Aber es gibt noch viele, viele andere Dinge, die Depeche Mode ausmachen.

Ich würde sagen, wir sind eher wie Brüder als Freunde. Wenn unsere Tour zu Ende geht, reden wir nur sehr wenig miteinander. Wir telefonieren hin und wieder oder e-mailen, aber das hält sich sehr in Grenzen. Fletch und Martin haben mehr Kontakt, sie sind ja auch alte Schulfreunde. Aber wir brauchen auch etwas Distanz. Die ersten zehn Jahre haben wir fast jeden Tag miteinander verbracht, das ist ja nicht normal. Das kann man nicht ewig durchhalten, vor allem wenn man mal Familien hat. Dann verschieben sich zu Recht die Prioritäten. Ich finde es mindestens so inspirierend, ein guter Vater und Ehemann zu sein, wie ein Sänger. Es ist auch genauso erfüllend.

Gore: Das ist wirklich eine lange Zeit, 29 Jahre. Was sicher hilft: Wir sind jetzt wahrscheinlich erfolgreicher, als wir es je waren. Die ganze Musikindustrie hat sich natürlich verändert. Egal, wie gut dieses Album läuft, es wird nie so viel verkaufen wie „Violator“ (lacht). Aber wir gehen bald auf Tournee, und es ist unsere erste Stadion-Tour – das hätten wir während der großen Zeit von „Violator“ oder „Songs Of Faith And Devotion“ nicht machen können. Und das Gute daran ist: Unser Publikum ist ganz gemischt, da sind auch Jüngere dabei, die die letzten Alben hören wollen, nicht nur Songs aus den 80er Jahren. Das wäre so langweilig… Man muss ja immer daran glauben, dass das neue neben den besten Alben besteht. Ein guter Test ist da die Setlist für kommende Konzerte: Wenn man merkt, dass man mindestens sechs oder sieben neue Songs spielen will, ist das ein gutes Zeichen.

Auffällig ist: Gahan nennt den Dritten im Bunde, den rothaarigen Mann im Hintergrund, stets beim verkürzten Nachnamen, und er spricht es fast aus, als wäre dieses „Fletch“ etwas Gefährliches. Gore dagegen sagt immer „Andy“, wie er das schon zu Schulzeiten in Basildon tat. Die Aufteilung war bis vor kurzem klar: Da der extrovierte Sänger mit der bewegten Vergangenheit, dort die beiden Freunde, die immer noch gern zusammen über die Stränge schlagen.

Nun, da Gore nüchtern ist, könnte das bei der kommenden Tournee (der deutsche Teil beginnt am 2. Juni in Hamburg) anders werden.

Gore ist sich noch nicht sicher. „Die letzte Tour war zweigeteilt: Bei der ersten Hälfte trank ich noch, also ging ich jede Nacht nach der Show in Bars und Clubs mit Andy, Peter (Gordeno, Keyboarder) oder Christian (Eigner, Schlagzeuger). Wir hingen zusammen rum, hatten Spaß. Dann hörte ich auf zu trinken, und weil das alles so neu für mich war, bin ich nach der Show direkt zurück ins Hotel gegangen, wie Dave das auch tut.“ Er guckt ein bisschen ratlos. „Ich möchte gern glauben, dass ich jetzt stark genug bin, mit den anderen auszugehen, ohne zu trinken. Es sind ja drei Jahre vergangen. Aber ich will nicht über-optimistisch sein, ich muss mich nicht jeden Abend der Versuchung aussetzen because at some point I might crack. Es wird interessant werden, das auszuloten.“

Früher trank er schon vor der Show „immer ein paar Gläser Wein“, doch zu seiner eigenen Überraschung war es gar nicht so schwer, nüchtern auf die Bühne zu gehen. Vielleicht ist der Mann doch nicht so schüchtern, wie man denkt. Er redet nur eben nicht so gern über sich selbst. Deshalb kommt jetzt der harte Teil: etwas über die neuen Songs heraufinden.

Das neue Album heißt „Sounds Of The Universe“. Da stellt sich die Frage: Wie universell sind die Songs denn – oder wie persönlich?

Gahan: Sie sind beides! Ein Grund, warum wir schon so lange so erfolgreich sind, ist sicher, dass unsere Songs vom Leben handein, von Dingen, mit denen sich viele identifizieren können. Martin hat im Grunde drei Themen: Glauben oder das Fehlen desselben, Beziehungen und wie man sie hält oder verliert – und der Wunsch, Teil dieses Universums zu sein. Ein kleiner Teil dieser Kraft zu sein, dieses großen Ganzen, das man nie so ganz verstehen kann. Jahrhundertelang versuchen schon Philosophen, Theologen und andere Gelehrte herauszufinden, was das alles hier soll. Jeder sucht nach dem Sinn – und nach innerem Frieden.

Gore: (seufzt) Ich denke nicht so gern über die Songs nach. Ich rede auch nicht gern über Texte oder deren Bedeutung, weil ich immer sehr persönliche Songs schreibe, die gleichzeitig, glaube ich, sehr universell sind. Jeder soll sich seinen eigenen Reim darauf machen, so viel Vorstellungskraft kann man erwarten. Es macht die Stücke so profan, wenn man sie ganz genau erklärt.

Im Song „Little Soul“ ist von Fußstapfen die Rede, die jeder hinterlässt. Welche würdet Ihr gern zurücklassen?

Gahan: Vor allem möchte ich, dass meine Kinder aufwachsen und stolz auf ihren Dad sind und das Gefühl haben, dass ich ihnen zugehört habe, für sie da war. Sie sind das Wertvollste. Mein Sohn Jack wird bald 22, Jimmy wird 17. Sie sind jetzt junge Männer, und ich meine manchmal, ich muss streng mit ihnen sein. Vielleicht bin ich zu streng, aber ich will ja nicht, dass sie dasselbe durchmachen müssen wie ich, ich will sie natürlich beschützen. Und meine Tochter—bei der will ich gar nicht, dass sie überhaupt je erwachsen -wird! Das muss wirklich nicht sein.

Gore: (lacht leise) Hm. Ich schätze, Musik! Kleine Fußabdrücke. Hoffentlich. So wie Schriftsteller in der Vergangenheit Bücher hinterlassen haben, würde ich gern ein kleines Stück Musik für kommende Generationen hinterlassen. In der Annahme, dass es kommende Generationen geben wird und wir die Welt nicht vorher zerstören.

Ist das bisherige ‚Vermächtnis von Depeche Mode schon mal ein Grund, stolz zu sein?

Gahan: Zumindest ein Grund, sehr dankbar zu sein – dafür, dass ich Teil einer Sache bin, die viele Menschen berührt und vielleicht sogar ihr Leben verändert hat. Das bedeutet mir viel, weil andere Musiker mich ja genauso beeinflusst haben. Aber ich spüre jetzt kein Verantwortungsbewusstsein mehr deshalb. Früher war das anders. Ich finde schon, dass ich in einer privilegierten Position bin, die ich noch längst nicht aufgeben will. Selbst wenn ich manchmal die Nase voll habe, will ich immer noch mehr erreichen. Ich habe ein gewisses Pflichtbewusstsein, das aus der Dankbarkeit für alles erwächst. Und ich empfinde eine große Zufriedenheit. Eins habe ich gelernt: Wenn man das Gefühl hat, man steckt fest, dann muss man selbst etwas verändern. Das ist immer möglich. Im Zugzwang sind nie die anderen, sondern immer man selbst.

Gore: Wenn ich weit zurückgehe, finde ich natürlich auch Lieder, die ich nicht mehr so toll finde. Viele der alten Sachen habe ich ewig nicht mehr angehört. Aber ich bin sicher, dass es auf „A Broken Frame“ Lieder gibt, die ich nicht mehr mag. Damals hatte Vince beschlossen, die Band zu verlassen, und ich habe mir im Studio Songs ausgedacht, während wir schon aufnahmen. Dave und Andy haben nichts geschrieben, aber wir mussten ein Album fertigstellen. Also musste einer ran, und das war dummerweise ich.

Hast du zu Stücken wie „People Are People“ noch einen Bezug?

Gore: Gott, das ist so lange her – 1984 oder so. Ich erinnere mich gar nicht, was mir damals durch den Kopf ging. Der ganze Prozess ist mir schleierhaft. Aber es war schon irgendwie gut, dass wir diesen Song aufgenommen haben, denn er hat uns auf eine neue, größere Ebene katapultiert. Es war unser erster großer Hit in Amerika und auch hier in Deutschland. Oder unsere erste Nummer eins, glaube ich. Ich schätze den Song heute zwar nicht mehr sehr, aber ohne ihn wären wir als Band jetzt vielleicht gar nicht hier.

Inzwischen lebt Gahan seit gut einer Dekade in New York. Gore ebenso lang in Santa Barbara. Nur Fletcher blieb in London. Wie amerikanisch ist die urbritische Band Depeche Mode denn im Laufe dieser Jahre geworden?

Gahan: Manche Leute zu Hause ziehen mich auf: Hey, du bist jetzt ein New Yorker! Nach zehn Jahren ist es nämlich so weit – dann darf man sich so nennen. Ich liebe es leidenschaftlich, in New York zu leben, und manchmal hasse ich es. Es ist einfach mein Zuhause, und während dieser Wahl war ich oft überrascht, wie patriotisch ich bin. Ich kam mir wirklich wie ein Teil davon vor, das war aufregend. Zum ersten Mal dachte ich: Okay, das ist eine Demokratie! Und jeder kann dazu beitragen! Wurde ja auch höchste Zeit. Ich hatte schon Angst, dass ich mit meiner Familie doch noch nach Amsterdam oder Kanada umziehen muss.

Gore: Ich möchte meinen: überhaupt nicht! Ich könnte mich jetzt um die US-Staatsbürgerschaft bewerben, aber das will ich gar nicht. Ich versuche, mir meinen englischen Akzent zu bewahren, und ich hoffe, das ist mir gelungen. Ich könnte aber nicht mehr Vollzeit in England leben, nein. Momentan stellt sich die Frage ohnehin nicht, weil ich jede zweite Woche die Kinder habe, ich wechsle mich mit meiner Ex-Frau ab.

Sein Sohn muss um acht Uhr morgens in der Schule sein, da fällt es Martin Gore manchmal ganz schön schwer, danach noch einen Tag im Studio durchzuhalten. „Dann muss ich schon um viertel vor sieben aufstehen“, sagt er vorwurfsvoll, als wäre das eine unzumutbare Unverschämtheit. Depeche Mode wissen, welch privilegiertes Leben sie führen, sie haben hart dafür gearbeitet. Im Laufe von 29 Jahren haben sie Kollegen aufgenommen und wieder verabschiedet, ungefähr zwei Dutzend Trends überlebt, sich trotz aller Differenzen immer wieder zusammengerauft – und es nebenbei geschafft, sich keinen einzigen kommerziellen Flop zu leisten. Wenn Gore sich demnächst in einem Stadion in Athen, Berlin oder Atlanta umschaut, wird er daran denken und sich ein bisschen freuen. Dann trotzdem bescheiden bleiben, weil das seine Art ist, und die Art von Depeche Mode. Auf die Frage, ob seine Kinder ihn jemals als Star begreifen, antwortet er: „Ich glaube, dass ich in einer Band bin, schätzen sie vor allem, weil ich für gewöhnlich Tickets für andere Bands bekomme, selbst wenn deren Konzert ausverkauft ist.“

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