Vivienne Westwood und Punk: Retro-Rebellin mit Hass auf Hippies
Zum Tod der großen britischen Modeschöpferin geht ROLLING STONE auf Spurensuche nach ihren Punk-Anfängen.
Wer es ins ARD-Online-Format „Tagesschau in 100 Sekunden“ schafft, muss wirklich wichtig sein.
Schließlich bleibt in dieser Mini-Sendung keine Zeit für Nebenpfade zwischen Politik. Krieg und Wetterkarte. Aktuell hat sich zudem auch die brasilianische Fußball-Legende Pelé für immer verabschiedet. Da ist dann schon eine große Verneigung von Seiten der Nachrichtenprofis, wenn eine 81-jährige Londoner Modedesignerin einige Augenblicke lang gewürdigt wird.
Damit die Bild-Text-Schere nicht zu groß wird, wählte die Tagesschau-Redaktion neben einigen älteren Herren mit Gel-gestärkten Strubbelhaaren und schrillbunten Pullovern auch einen Portraitschuss auf Vivienne Westwoods markante Frisur. Sonorer Kommentar dazu: “Ihr Markenzeichen waren ihre orange-rot gefärbten Haare“. Das bleibt dann auch in Bad Hersfeld hängen. Eine voll wilde Person, diese „Fashionikone“ (Pro 7).
Reiner Anachronismus
Wer etwas zu den Wurzeln der im nordenglischen Tintwistle geborenen OBE-Ordensträgerin wissen möchte, schlägt am besten im Standwerk „England´s Dreaming“ von Jon Savage nach. Das 1991 veröffentlichte Sachbuch trägt den Untertitel „Sex Pistols and Punk Rock“ und die junge Miss Westwood kommt im UK-Original (auf deutsch bei Edition Tiamat) bereits auf Seite acht vor:
„On his way to an open market near the corner of Edith Grove McLaren was accosted by a man who was struck by his lurex trousers: these had been made for McLaren by his friend Vivienne Westwood”, heißt es dort. Von Punk war noch nicht mal im Ansatz die Rede. Schließlich beginnt Jon Savages Saga bereits in den Jahren 1970/71, als sich Prog und Glam Rock die Klinke in die Hand gaben. Doch bereits damals wird Westwood mit ungewöhnlichen Klamotten in Verbindung gebracht. Lurex-Hosen! Das erinnert an die Strumpfhosen-Spielfilme wie „Ivanhoe“, als sich Schwertkämpfertypen mit Mireille-Mattheu-Frisuren auf mittelalterlichen Ritterturnieren herumdrückten.
Autor Savage macht unmissverständlich klar: Beide, also Westwood und der spätere Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren, „hassten Hippies“.
Daraus entwickelte das zeitweilige Liebespaar ein konsequentes Faible für den Style der fünfziger Jahre, der auch in Großbritannien mit Schmalzlocken („Grease“) und Elvis-Hemden verbunden war. Während ringsumher wallende Indienröcke und formlose Batik-T-Shirts regierten, setzte die 1941 mitten im Zweiten Weltkrieg geborene Westwood auf den schneidigen Schmiss der Biker, Teddy Boys und Rockabilly-Verehrer.
„Mit ihren wasserstoffblonden Frisuren, den großen Brüsten und Leopardenkleidern waren diese Evas oder Audreys der reine Anachronismus“ schreibt Savage über die retrorebellischen Deko-Entwürfe der ersten Westwood/McLaren Projekte auf der Kings Road in Chelsea.
„Ich habe eine angeborene Perversität“
Vivienne Westwood stand also knietief in der musikalischen Subkultur und schöpfte daraus Inspiration für (fast) alle weiteren Karriereschritte. „Ich habe eine angeborene Perversität. Eine Art eingebaute Uhr, die immer gegen alles Orthodoxe reagiert..:“ wird Westwood in „England´s Dreaming“ zitiert.
Die 1962 in den Ehestand getretene Westwood traf Punk-Zampano McLaren pikanterweise in einem der Nachtclubs ihres damaligen Noch-Ehemanns. „She was running away from her husband“, heißt es in der Geschichtsschreibung bei Savage. 1967 wurde der gemeinsame Sohn Joseph geboren. 1974 eröffneten die beiden in der legendären Laden-Adresse Kings Road 430, wo seit den 1960er Jahren unter verschiedenen Shop-Namen Musik- und Subkultur-Style verkauft wurde, ihren erstes gemeinsames Modeprojekt. Schlichter Titel: SEX.
Zwischen transparenten BHs und SS-Hemden
Neben den Modeschlenkern der musikorientierten Subkulturen war die damals noch weit skandalträchtigere Orientierung zu Fetisch und „Kink“ eine Triebfeder für die späteren Eigenkreationen von Vivienne Westwood. Die berüchtigten Reißverschluss-Hosen im schottischen Tartanmuster war mit „Bondage“-Strippen verziert. Sicherheitsnadeln, Gaffer-Tape auf weiblichen Brustwarzen unter transparenten Oberteilen, aufreizende Unterwäsche wie aus den Schmudel-Porno-Shops in Soho.
All das gehörte zur Grundausstattung der frühen Punk-Afficionados 1976/77. Etwa das „Bromley Contigent“ aus den ausufernden „Suburbs“ von London. Ein steil gestylter Sex-Pistols-Fanclub, zu dem auch die spätere Punksirene Siouxsie Sioux gehörte. Es mag in der woken Gegenwart schwer verständlich sein. Aber auch Hakenkreuz-Armbinden und schwarze SS-Hemden gehören seinerzeit zum Arsenal der Bürgerschocker.
Die ewig innovative Vivienne Westwood blieb zwar dem Krawall-Charakter von Punk über die Jahre eng verbunden. Sie erkannte aber ebenso wie ein Geschäftspartner McLaren frühzeitig, dass alles nur ein „Great Rock`n`Roll Swindle“ war. Und die Schock-Ausstattung der Anfangsjahre gab es dann irgendwann auch bei Karstadt. Oder wurden bei deutschen Provinzsternchen wie Nena oder Extrabreit („Komm nach Hagen, werde Popstar“) auf Zahnpasta-Streifen-Hosen-Level herunter gekühlt.
Die spätestens ab den 1980er auch in internationalen Modezirkeln durchstartende Vivienne Westwood kombinierte ihr Faible für die traditionellen Roben des Adels mit der Aura der Punk-Explosion. Und galt damit auch bei Pariser und Mailänder Haute-Cotoure-Adressen als wegweisend. „Wir sind alle Freaks“ sagte ihr Bewunderer Jean-Paul Gaultier über seine elf Jahre ältere Kollegin vom Planeten Punk.