Vivat König Scarface!
Erinnert sich eigentlich noch irgendwer an Massiv? An den Koloss von Pirmasens, den man an seinen 120 Kilo Gewicht erkennt? Massiv war dieser komische Rapper, der eine Zeit lang ständig im Fernsehen kam vorher war er mit den libanesischen Eltern nach Berlin gezogen, hatte Fakten über seine Zeit als Drogendealer gestreut, eine Leibgarde angeheuert, um überhaupt irgendwas tun zu können im Wedding, und zum Schluss unterschrieb er für 250 000 Euro bei der Sony BMG. Den Titel seiner ersten Platte ließ er sich auf den Arm tätowieren, was freilich keine allzu gute Idee war. Weil er jetzt schon morgens beim Duschen daran erinnert wird, dass „Blutgegen Blut“ am Ende nur Platz 55 in den Charts schaffte.
Im HipHop gelten so schlechte Zahlen ja auch als Zeichen von künstlerischem Bedeutungsverlust. Weder in den USA noch in Deutschland stand zuletzt mehr als ein Rap-Album in den Top 30, und James Bernard, Mitbegründer der HipHop-Zeitschrift „The Source“, verfasste zur 200. Ausgabe ein Pamphlet, in dem er das gesamte HipHop-Projekt als schlicht gescheitert beschreibt: „Wir haben es nicht geschafft, die zentrale Herausforderung zu meistern: eine gesellschaftliche Kraft zu werden und nicht nur eine Kakofonie aus Promotion und T-Shirt-Verkauf.“ Dass man mit HipHop längst keine Dissidenz mehr ausdrücken kann, haben wir seufzend akzeptiert. Neu ist allerdings, dass die Angriffe und Ergebungsgesten plötzlich auch aus dem inneren Kreis kommen.
So meldete sich noch Russell Simmons, Mitgründer des Def Jam-Labels, mit der bizarren Initiative, die Ausdrücke „bitch“, „ho“ und „nigger“ künftig wie Schimpfwörter zu behandeln und im Radio zu überpiepsen. Kurz davor war der (weiße) Talk-Provokateur Don Imus von seiner Station gefeuert worden, weil er schwarze Basketballerinnen als Nutten bezeichnet hatte. Und das so rechtfertigte, dass schwarze Männer ihre Frauen in Rap-Songsja auch so nennen dürften.
Als nun der Berliner Achtel-Star G-Hot kürzlich ein irritierend dämliches Stück aufnahm, in dem er zum Totschlag an Homosexuellen aufrief, wartete seine Plattenfirma Aggro Berlin nicht mal, bis sich jemand aufregte (um dann, wie man es in solchen Fällen macht, preiswert auf die Kunstfreiheit zu verweisen), sondern kündigte G-Hot die Zusammenarbeit. Eine weitere Rapperin verklagte ihn sogar.
Im Fall B-Tight, der sich auf dem Cover seines Albums „Neger, Neger“ als schwarzgesichtiger, mordender Kannibale zeigte, tat Aggro zwar nichts (man verwies auf die Kunstfreiheit). Dafür distanzierte sich der Rapper-Verein Brothers Keepers von der latent rassistischen Platte und formulierte ähnlich wie die SPD-Arbeitsgruppe. Der Schlichterspruch kam überraschend: „Abstoßend und geschmacklos, kein Zweifel. Doch Aggro spielt genau mit solchen Reaktionen und hat, wie man weiß, darauf ein erfolgreiches Geschäftsmodell aufgebaut“, resümierte die Branchenzeitschrift „Musikwoche“, die das eklige B-Tight-Motiv ganzseitig gedruckt hatte.
Lustig: Diejenigen, die den HipHop früher am kreuzritterlichsten verteidigt haben – nennen wir sie mal: die HipHopper -, das sind die, die ihn heute aufs Kritischste kontrollieren und ablauschen. Während die Chef-Ankläger von früher die gebildeten Erwachsenen – auf einmal zu den Wenigen gehören, die große, kleine, unförmige Rapper noch herzlich in Schutz und vor allem sehr, sehr ernst nehmen.
Nur so konnte der rappende Schwachmat Massiv zum Helden einer großen Spätfernseh-Sozialgeschichte werden. Manchmal gibt ja auch einer anlässlich der Fast-Fertigstellung seiner Platte eine Poolparty und lässt die geladenen Medienleute dort sehr seriös an den Lippen der Entourage hängen, die ihnen diktiert, was in der Nachbarschaft wirklieh so abgeht. Oder es ist Feierstunde im Tupac-Mausoleum. Oder der legendäre Sonder-HipHop-Cop von L.A. erzählt mal wieder vom Dienst. Es sind nicht die skandalösen Geschichten, die die studierten, Straßen-untauglichen Redakteure so sehr faszinieren: HipHop muss ihnen viel mehr wie eine ganz großartige Welt erscheinen, in der alles immer am richtigen Platz bleibt. Ein System mit diskutablen, aber soliden Werten, das sich von selbst reguliert, wie die Imperien von Tony Soprano oder Scarface Montana. Die Mafia ist ja auch so wahnsinnig beliebt bei den Älteren.
Matthias Matussek, Kulturchef des „Spiegel“, hätte 50 Cent sicher gern gefragt, ob das Ghetto-Dasein im Oedipus’schen Sinne tragisch ist oder wie es sich mit dem Selbstverständnis der Unterschicht in den USA verhält. Hätte Fifty alles eh nicht gewusst. Zum Glück brachte Matussek seinen 13-jährigen Sohn zum Interview mit, der sich den Rapper auf Augenhöhe zur Brust nahm, ihn völlig verdient für ein Duett mit Robbie Williams verhöhnte und unverblümt fragte, was eigentlich mit der Frau aus dem Film gelaufen sei.
Der kleine Matussek könnte ein toller HipHop-Erwachsener werden. Aber spätestens in drei Jahren interessiert er sich eh nicht mehr für den Quark.