video kills radio
Ja, doch: Das war wirklich mal ein Videoclipsender. Damals, als die Buggles zum Start am 1. August 1981 „Video Killed The Radio-Star“ sangen und in all ihrer vom Vocoder unterlegten Grimassenschneiderei nicht wußten, wie recht sie hatten. Seither ist nur über MTV hergezogen worden: Zuerst machte es das Radio kaputt (sic!), dann die Phantasie und die künstlerische Freiheit. Danach die Gleichberechtigung (Cher im G-String zwischen gierigen US-Marines!) sowie die Sehfahigkeit von Jugendlichen (netzhautgefahrdende Schnipsel-Sequenzen!). Seit ein paar Monaten aber geht es an die Substanz: Es fehlen die Clips. Die Clips! Bei MTV!
Denn längst hat sich der Sender von der Abspielstation zum Vollprogramm entwickelt: Mit Singleshows, Endlosserien aus der vermeintlich realen Welt und einem wirren, von Beavis und Butt-head regierten Comic-Universum. „Die Kids wollen nicht nur Clips sehen“, ist das Argument. Wirklich? „Let’s see how it flies“, lautet die Firmenphilosophie: Wenn es zu Bruch geht auch nicht schlimm. So hat MTV die Welt, wie wir sie kannten, verändert. Hat Duran Duran, Culture Club und eine ganze Generation musikalischer Abziehbilder verbrochen. Hat Kameraführung, Schnitt-Technik und Animation stärker beeinflußt als alle Filmhochschulen der Welt. MTV hat das Video zu der wichtigsten Kunstform der Achtziger erhoben. Und – noch wichtiger – zum Werbeträger für die CD.
Die Clips entwickelten sich via MTV (dessen Zuschauer sich allem in den USA zwischen 1981 und ’83 von 2J. auf 16,2 Millionen potenzierten) zur ultima ratio der PR-Abteilungen. Mußte man sich früher schon einige Wochen nach der Album-Veröffentlichung kostspielige Gedanken machen, wie man sein Produkt im Gespräch hielt, verlängern die Clips das Leben einer beliebig-durchschnittlichen Platte um ein Vielfaches: Solange die Clips auf MTV laufen, wird das Album verlangt. In der Prä-MTV-Ära waren zwei bis drei Single-Auskopplungen pro Album üblich – mehr hätte man aus Angst vor over-exposure nicht gewagt. Nun bestand auf einmal die Möglichkeit, ein Produkt wie Michael Jacksons „Thriller“ mittels sieben ausgekoppelter Songs (und den aufwendigen Clips Bob Giraldis) jahrelang in den Charts zu halten. Jackson schaffte so den Sprung in den Popstar-Olymp und verkaufte über 40 Millionen Einheiten. Fortan wurden Alben auch danach konzipiert, wie viele potentielle Singles sie hatten.
Hollywood nutzte ebenfalls das dreiminütige Marketingtool: Mit „Flashdance“ entstand der erste auf Kinolänge gezerrte Clip, für dessen Erfolg wiederum andere Clips (zum Beispiel Michael Sembellos „Maniac“) verantwortlich waren. Auch das mit Folgen: Seit „Flashdance“ wird kein Kinofilm mehr ohne entsprechenden Hit-Soundtrack produziert. Vor allem aber hat MTV dem Pop eine globale optische Plattform bis in den hintersten Weltwinkel verschafft und Stars samt ihrer in slomo kullernden Tränen greifbar gemacht. Und sie gleichzeitig entrückt, da sie selbst auf 50X30 so unantastbar schön wirken. MTV machte heiß auf mehr, immer mehr, mehr Madonna-Bauchnäbel, mehr Janet Jackson-Brüste, mehr verschwitzte Models unter weißen Laken. MTV: Die ewige Simulation. Ein Fick ohne Höhepunkt.
Notfalls auch ohne Strom. Noch so ein MTV-Trend: Musiker auf eine kerzenbeleuchtete Bühne, Stecker raus, Kameras an. Zuerst zierte man sich; als Clapton dann „Layla“ klampfte, wollte plötzlich jeder. Springsteen konnte es sich sogar erlauben, unplugged plugged aufzutreten. Und Nirvana spielten ihr Vermächtnis ein.
Und heute? In Deutschland hat VIVA längst MTV Rang und Werbekunden abgenommen; in London wirbt die Mutter aller Videoclipsender mit dem Verkauf von MTV-Leercassetten (!); und in den USA befinden sich die bedeutsamen Nielsen-Ratings auf einer Talfahrt Richtung Erdmagma: 20 Prozent weniger Zuschauer als 1996, zwei Drittel weniger als Mitte der Achtziger – und der Marktanteil liegt nur noch bei 0,4 Prozent. „Video killed the Radio-Star“? Sicher, damals, 1981. Doch im Hintergrund warteten schon Super Mario und die 64-Bit-Konsole.