Verwende deine Jugend
Was taugen eigentlich die jungen Klassik-Pianisten, von denen immer alle reden?
Ob Stadtfeld, Tokarev, Lang oder Blechacz – das Heer der jungen Pianisten wird immer unübersichtlicher. Jedes Quartal feiern Fernsehen und Feuilleton ein neues Jahrhundertgenie. Zeit, etwas Klarheit ins Klavierspiel zu bringen. Denn nur von den wenigsten kann man wirklich Großes erwarten.
Dass Pianisten das Zeug zum Popstar haben, wusste man spätestens seit Glenn Gould. Als Klassik-James-Dean vermarktete man den wunderlichen Kanadier bereits Mitte der Fünfziger. Verträumt blickte er von seinen Plattencovern, sein jugendlicher Elan, seine präzises Spiel und seine musikalisch unerhörten Frechheiten machten ihn zunächst zum dankbaren Werbeträger. Schrullig war er obendrein. Vor Aufnahmen badete Gould seine Hände minutenlang in Wasser, die Temperatur im Studio musste exakt abgestimmt sein, und an seinem Klavierhocker (er benutzte zeitlebens nur einen) schraubte und bastelte er bis zum Exzess. Der ohnehin für seinen Jähzorn gefürchtete Dirigent George Szell schrie einmal bei einer gemeinsamen Probe: „Entweder Mr. Gould hört sofort auf, an seinem Stuhl zu drehen, oder ich ramme ihm ein Stuhlbein in den Arsch.“ Das waren noch Zeiten!
Heute muss sich der Klassik-Betrieb schon mit Spekulationen über Anna Netrebkos Gewicht zufrieden geben, die Wagner-Fehden in Bayreuth verfolgen oder vom Skandal sprechen, wenn der ehemalige Berliner-Philharmoniker-Chef Claudio Abbado seinem Nachfolger Simon Rattle die Umarmung verwehrt.
Den öffentlichen Zirkus hat der geniale Gould allerdings nicht lange mitgespielt. Ab 1964 gab er keine Konzerte mehr und nahm fortan lediglich Platten auf- mit denen man seinerzeit freilich noch richtig Geld verdienen konnte.
Kaum ein Monat vergeht mittlerweile, in dem nicht ein „neuer Gould“ durch Zeitungsseiten und Kulturmagazine getrieben wird. Nachhaltig agieren die wenigsten von ihnen, und Goulds Umsatzzahlen erreicht ohnehin keiner. Verkauft ein Klassik-Künstler heute fünfstellig, gilt er bereits als Superstar.
Martin Stadtfeld, 29, ist so einer und obendrein der einzige Jungspund aus Deutschland, dem man eine gewisse Breitenwirkung attestieren kann. 2002 gewann er den nicht zu unterschätzenden Bach-Wettbewerb in Leipzig, und für sein Debüt wählte er Bachs „Goldbergvariationen“ (4), die er frei, verführerisch und vor allem sehr erfolgreich interpretierte. Dass Stadtfeld sich damit in einen Ring mit Gould begab, dem das gleiche Werk zu seinem Durchbruch verhalf, war ihm „damals nicht so richtig klar“, wie er immer wieder beteuert. Sicher ist, dass Stadtfeld seither die Kritiker spaltet und ihn viele zu ihrem Lieblingsfeind erkoren haben. Das habe ihn jahrelang beschäftigt, sagt Stadtfeld heute. Doch jetzt könne er sogar wieder entspannt Zeitung lesen und fühle sich in der Rolle des Polarisierers gar nicht so unwohl.
Stadtfelds Konzerte sind — von außen betrachtet – effektlose Veranstaltungen. Entrückt wirkt der junge Pianist da, manchmal abwesend. Optische Kinkerlitzchen finden nicht statt. Stadtfeld spielt für sich und erst dann für das Publikum – ganz im Gegensatz zu seinen Talkshow-Auftritten, wo er den smarten Schwiegersohn gibt.
Dennoch überzeugen seine jüngsten Hinterlassenschaften auf CD vor allem wegen ihrer Fixierung aufs Musikalische. Die „Schubert Sonaten“ (3,5) hören sich akkurat an, und das „Wohltemperierte Klavier“ (4) interpretiert Stadtfeld überschwänglich und einfallsreich — wie man das bei Bach von ihm gewohnt ist. Da verzeiht man gerne mal den verbesserungsfähigen Aufnahmeklang und seine eher marginalen Mozart-Versuche. Auch wenn er bestimmt keine neuer Gould ist, wird man auf den reifenden Stadtfeld zählen können.
Bei seinem Label-Kollegen Nikolai Tokarev muss man mit Prognosen vorsichtiger sein. Zwar wird der 25-Jährige mit Vorliebe in den öffentlich-rechtlichen Spätkultursendungen rumgereicht, doch unendlich Erhellendes hat weder sein Gemischtwaren-Debüt „Nr. 1“ (u. a. mit Liszt, Chopin und Schubert, 2,5) noch sein „French Album“ (2,5) gebracht. Von der Dynamik, die auf Fotos seine Chucks ausstrahlen sollen, ist Tokarev noch ein gutes Stück entfernt. Zu unentschlossen wirkt vieles bei ihm, so schüchtern wie der nette Russe spricht, so spielt er gelegentlich auch. Vor kurzem ist er nach Manchester gezogen und zeigte sich angetan vom örtlichen Fußball. Etwas mehr Dreck und Grätsche könnten Tokarevs Spiel gut tun. Solange aber ziert er erst mal Hochglanzzeitschriften. Sein Konterfei taugt dazu prima. Immerhin.
Letztere Eigenschaft kann auch die einzige junge Pianistenhoffnung der EMI, David Fray, 27, für sich einnehmen. Überdies hat er clevererweise in die Familie des italienischen Stardirigenten Claudio Abbado eingeheiratet, was der Karriere sicher nicht abträglich sein wird. Sein Erstlingswerk mit „Bachs Klavierkonzerten“ (2) ist bei aller Brillanz allerdings zu träge und zu schwer geworden, um Eindruck zu hinterlassen.
Beim Superseller Lang Lang erwartet das ohnehin keiner. Als Klavierzampano blödelt er seit Jahren durch die Welt, wirklich Essenzielles hat er auf CD bisher nicht veröffentlicht. Sicher kann man bei seinem Rachmaninow die flinken Finger bestaunen, aber die Lang-Langweiligkeit, die er Beethovens Klavierkonzerten einflößte, ist unerreicht. Mit einem „Ich hab keine Zeit, Kritiken zu lesen“ wischt er alle hilfreichen Kommentare vom Tisch. Da ließ es ihn auch kalt, als ihm der letzte Kritiker-Guru Joachim Kaiser seine Mozart-Darbietungen um die Ohren haute. Einem lustigen Chinesen mag man halt nicht recht abnehmen, dass er sich in die entrückten Leidenswelten Schumanns und Beethovens hineinversetzen kann.
Vielleicht ist Lang das Geschreibe über ihn doch nicht so egal. Seine vergangenes Jahr erschienene Autobiografie mutete wie ein Kampf um Credibility an. Hier erfuhr der verdutzte Leser, dass der Clown eine schwierige Kindheit hatte, dass man ihn massiv unter Erfolgsdruck setzte und dass ihm sein Vater eindringlich vorschlug, sich wegen Nichtsnutzigkeit umzubringen. Fenstersprung und Tabletten standen zur Auswahl. Lang wählte weder das eine noch das andere, sondern übte noch mehr und schwang sich zum erfolgreichsten Instrumentalisten des frühen 21. Jahrhunderts auf. Mit seinem Vater habe er Frieden geschlossen, schreibt er. So muss es wohl sein. Schließlich begleitet Längs Vater seinen Sohn auf allen Tourneen. Selbst in den edelsten Hotel-Suiten ist in der Ecke noch eine kleine Liege aufgebaut, auf der Vater Lang sich langmachen kann.
Wenn Lang redet, bekommt man meist Floskeln zu hören, mit denen sich eben auch bei „Wetten, dass…“ gut auftreten lässt. Obwohl: Längs jüngste CD mit Chopins Klavierkonzerten (3) war gar nicht so übel. Für seine Verhältnisse. Seine Naivität könnte ihn vor dem Weg ins Exil der vollkommenen Entrücktheit bewahren, den die beiden vergleichbaren Jungstars der Achtziger, Evgeny Kissin und Ivo Pogorelich, beschritten haben.
Auch Längs einst gefeiertem Landsmann Yundi Li, 26, wird nachgesagt, die Bahnen unserer Gedankenwelten bereits zu verlassen. Wahrscheinlich hatte alles zu gut angefangen. Als Li 2000 den alle fünf Jahre stattfindenden Chopin-Wettbewerb (eine Art Olympische Spiele für Pianisten) gewann, war er der jüngste Gewinner aller Zeiten. Wenig später war der Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon unterschrieben, die Zukunft schien rosig. Doch viel ist seitdem nicht passiert. Was Li für das Edel-Label aufnahm, war weder spektakulär noch bemerkenswert erfolgreich. Obendrein gilt sein Gebaren in der Branche als „zunehmend schwierig“. So überraschte die Meldung nur wenig, dass die Deutsche Grammophon und Li fortan getrennte Wege gehen.
Wesentlich größere Hoffnungen setzt die Grammophon in den Chopin-Wettbewerb-Gewinner von 2005, RafalBlechacz, 23, der die Veranstaltung wie noch keiner vor ihm dominierte. Tatsächlich gab sein Debüt mit „Chopin: Präludien op. 28“ (4,5) Anlass zu schönsten Hoffnungen. Blechacz versteht die Kunst, einerseits durchsichtig und mit edlem Ton zu musizieren, und zugleich Chopins überschwänglichem Charakter Rechnung zu tragen. Das Niveau hat er auch beim Nachfolger, einer Sammlung früher Sonaten von Haydn, Mozart und Beethoven (4) mühelos gehalten. Blechacz tastet sich behutsam ans große Repertoire. Damit fährt er gut. Er ist der Stillste aller hier Aufgereihten, aber gleichzeitig auch der Talentierteste.
Wer also den großen Pianisten des 21. Jahrhunderts sucht, sollte ihn auf der Liste haben. Und die Gefahr, dass Blechacz plötzlich keine Konzerte mehr gibt, ist dankenswerterweise sehr gering. Einen besseren Antipoden zu Gould kann man sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich ist das Blechaczs große Chance.