VERGESST 68!
Als der berühmte brasilianische Fußballer, Arzt und Politaktivist Dr. Socrates sagen soll, welche drei Menschen ihn politisch am meisten beeinflusst haben, nennt er: „John Lennon, Che Guevara – und Daniel Cohn-Bendit.“
Cohn-Bendit lächelt, als er das erzählt. Einerseits hat er überhaupt keine Lust, schon komplett historisiert zu werden. Andererseits freut es ihn natürlich doch -und wenn auch nur heimlich -, dass er angemessen gewürdigt wird. Okay, über die Reihenfolge ließe sich natürlich streiten.
Er kommt aus Paris und ist auf dem Weg nach London. Oder umgekehrt. Wir sitzen im „Einstein“. Unter den Linden. Berlins Politiker-Kantine. Nicht im hinteren Bereich, wo man unter sich tuschelt. Sondern in der Nähe des Eingangs, wo man die Leute sehen kann. Und die Leute einen.
„Dany“, rufen sie. „Hallo, wie geht’s?“, sagt er. Nicht immer ist klar, ob er sein Gegenüber auch erkannt hat.
Cohn-Bendit gehört zu den wenigen Menschen, die größer sind als ihre hierarchisch maximale Funktion. Man merkt es, wenn man ihn als Gast bei einer Veranstaltung hat und ankündigen soll. Was sagt man da? Er ist nicht allein Frankreichs einstiger Staatsfeind Nr.1 und heutiger Held der Revolte von 1968. Nicht nur der langjährige Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament. Nicht nur Europas bekanntester und damit wichtigster Grüner. Er ist Daniel Cohn-Bendit.
1945 in Frankreich geboren als Sohn jüdischer Eltern, die aus Deutschland fliehen mussten. In Folge der 68er-Unruhen von de Gaulle aus Frankreich ausgewiesen. Er nennt sich „staatenlos“, aber das trifft es nicht. Er ist ein wirklicher Europäer. Ganz toll. Und gleichzeitig ein wirklicher Frankfurter. Ganz schlimm. Mit Eintracht-Deformation und allem.
Es ist mit ihm ein bißchen wie mit dem Ich-Erzähler in Jagger/Richards‘ „Sympathy For The Devil“. Was immer passierte in den vergangenen 45 Jahren: Er war offenbar dabei.
Zum Beispiel: Als Jean-Paul Sartre das Gefängnis von Stammheim verlässt, in dem er soeben den RAF-Anführer Andreas Baader getroffen hat, sagt er zu seinem Dolmetscher: „Dieser Baader – was für ein Arschloch!“
Der Dolmetscher ist Daniel Cohn-Bendit.
Als Jean-Luc Godard an seinem berühmtesten Film verzweifelt, sagt er:“Weißt du, was ich mir wünschen würde?“
„Was?“
„Dass es keine einzige Kopie mehr von ,Außer Atem‘ gäbe“.
„Aber das kannst du doch nicht sagen, Jean-Luc“, seufzt Daniel Cohn-Bendit.
So was erzählt er ganz gern. Aber wie er in Paris 1968 als „anarchistischer Marxist“ mit dem Kose-und Kampfnamen „Dany le Rouge“ die revoltierenden Studierenden anführte beziehungsweise eben nicht, denn die Revolte wollte die Chefs ja abschaffen: Darüber mag er schon länger nicht mehr reden, auch wenn er weiß, dass sich sein Ruhm zumindest in Frankreich auf ein ikonografisches Bild aus der Zeit gründet.
„Vergiss 1968“, sagt er regelmäßig auf entsprechende Gesprächsversuche.
Es scheint ihn zu langweilen.
Altbürgerliche verunsichert seine Biografie noch heute: Wie konnte es so weit kommen mit der Welt, dass ein ehemaliger „Pflastersteinwerfer“ zum europäischen Vorbild wird? Vielleicht genau deshalb. Weil er kontinentale Nachkriegsgeschichte mit all ihren Brüchen personifiziert wie kaum einer. Und weil er nicht apathisch oder zufrieden zugeschaut, sondern sie zu einem Teil mitgestaltet hat.
Altlinke verunsichert er genauso. Sie halten seine Häutungen nicht für geistige Entwicklung, sondern für Verrat, speziell seine Abkehr von der Friedensbewegung und sein Engagement für „humanitäre Interventionen“ also Kriegseinsätze.
Leute, die ihn zum ersten Mal live sehen, sagen: „Den hätte ich mir größer vorgestellt.“ Anfangs ist man auch versucht, sein Lächeln unter das Klischee „jungenhaft“ einzusortieren. Irgendwann spürt man, dass er so lächelt, wie er lächelt, weil er sich offenbar mit sich selbst wohlfühlt. Immer noch.
Damit das so bleibt, lässt Daniel Cohn-Bendit seine derzeitige Inkarnation hinter sich. Das ist die eines partei-und parlamentgebundenen Europapolitikers. Zur Wahl im Juni nächsten Jahres tritt er nach zwei Jahrzehnten in Brüssel nicht mehr an. Seinen 68. Geburtstag am 4. April nimmt er zum Anlass, sich noch mal neu zu erfinden. Jedenfalls will er das versuchen. Man hat ihn nicht gezwungen. Im Gegenteil. Er hätte – nachdem er in Deutschland und in Frankreich jew zweimal gewählt wurde -womöglich sogar in Griechenland antreten können. Ein großer Coup, eine maximale Geste, aber es wäre letztlich auf das alte Leben hinausgelaufen.
Er will ein neues Leben. Als 68er. Mit 68. So was findet er witzig.
Zum einen war da der Tag im Sommer 2011, als ihn im Urlaub in Südfrankreich sein Arzt anrief. Krebsknoten in der Schilddrüse. Operation.
„Wenn man sich einen Krebs aussuchen könnte, dann diesen“, sagt er. Alles wieder gut. Aber trotzdem: „Das hat mir meine Verwundbarkeit gezeigt“. Zum anderen hat er einfach genug. Von Wahlkämpfen, von Brüssel und letztlich wohl auch von den Grünen oder zumindest vom Funktionieren innerhalb eines Partei-Apparates.
Aus Sicht von Parteikollegen hat er allerdings nie funktioniert, ist permanent ausgeschert und hat sein Ding durchgezogen. Während sein kleinbürgerlicher Freund Joschka Fischer, Weggefährte seit den frühen 70ern beim „Revolutionären Kampf“, die Grünen auf einem langen und harten Weg regierungsfähig machte und so bis ins Außenministerium aufstieg, blieb Cohn-Bendit lieber draußen, zumindest mit einem Bein. Er wusste, dass das nichts für ihn war. Anders gesagt: Er hatte keine Lust.
Mal den Laden aufmischen, das ja. Wie 2009, als er im Wahlkampf die Brisanz der ökologischen Frage in der französischen Gesellschaft etablierte: 16,3 Prozent bei der Europawahl! Die linksliberale „Libération“ nahm ihn daraufhin drei Tage in Folge auf den Titel und flehte ihn geradezu an, gegen Nicolas Sarkozy für die Präsidentschaft zu kandidieren. Einerseits schmeichelhaft, andererseits sagte er auch: „Ich will nicht Präsident werden.“ Das sei doch „kein Leben“.
„Ach, der Dany“, rufen Grüne rituell, wenn er es sich mal wieder erlaubt, selbst zu denken. Manchmal klingt dieses „Ach, der Dany“ belustigt, manchmal angepisst, manchmal resigniert. Es schwingt mit: alles besser wissen, aber andere die Arbeit machen lassen. Es schwingt auch mit: Was will man machen? Sie konnten ihm nichts mehr, seit es der derzeitigen Parteivorsitzenden Claudia Roth 1994 nicht gelungen war, seine Europa-Kandidatur zu verhindern. Und nun können sie ihm erst recht nichts mehr.
Wer als Journalist einen Satz hören will, den er sich selbst schon vor dem Anruf notieren kann, ruft Cem Özdemir an. Wer sich überraschen lassen will, Cohn-Bendit. Aus seiner Sicht hat er sich trotzdem weitgehend in das Korsett der Dos and Don’ts eines Parteipolitikers gefügt. Wenn er nun mit dem Büchlein „Pour supprimer les partis politiques!?“ daherkommt, also der Frage, ob man die politischen Parteien abschaffen soll, dann ist das keine Abrechnung mit den Grünen, sondern die sehr ernst gemeinte Bitte um eine Diskussion der Frage, wie aus einem normierten politischen Betrieb das Personal und die Konzepte kommen sollten, die es zur Überwindung der Krisen des 21. Jahrhunderts bräuchte.
Die Vorstellung langweilt ihn, auf einen perspektivlosen Bundestagswahlkampf zu zu schleichen, in dem sich die Grünen an die SPD binden und bei dem am Ende eine Große Koalition rauskommt. Er will über die Möglichkeit einer rot-grünen Minderheitsregierung sprechen, die von der Linkspartei toleriert wird. Mit Fokus auf Gerechtigkeit und bei Bereitschaft der Linken, sich aus anderen Bereichen (Außenpolitik, Europa) rauszuhalten. Er will, dass man gefälligst die Möglichkeit zentraler inhaltlicher Projekte wie Energiewende, Europa und Mindestlohn diskutiert, bevor man eine Koalition mit der Merkel-Union abhakt.
Ach, der Dany. Jeder weiß doch, dass der Grünen-Wähler und vor allem die Parteilinken sauer werden, wenn das Wort „Schwarz-Grün“ auch nur erwähnt wird.
„Klar, die Traditionellen sagen, dass man die Wähler nicht überfordern darf“, sagt er. Gibt ja genug Beispiele aus der Vergangenheit, wo das so war. Die gesellschaftliche Stimmung ist auch nicht gerade experimentell, eher im Gegenteil. Dennoch denkt er, dass die Zeit reif ist, sich gemeinsam mit den Wählern „an die Unklarheit ranzutasten“.
Er hat gut reden. Er scheint zu den Wenigen zu gehören, die mental und kulturell nicht mehr im 20. Jahrhundert feststecken, sondern neugierig sind, was als Nächstes kommt.
Im komplizierten Europaparlament hat er schon lange gelernt, dass er mit dem guten alten Denken in Links-Rechts-Gegensätzen nicht mehr weiterkommt. Daran festzuhalten ist für ihn Denkfaulheit.
Im Grunde könne er rechtslinks nur noch in der sozialen Frage denken. Ansonsten sei dieses Denken passé.
„In der Frage der Freiheit ist die grün-liberale Begriffsdefinition nicht mehr unter rechts-links zu subsumieren. Die Europa-Frage ist zwischen Nationalsouveränen und Europasouveränen und nicht mehr rechts-links zu sehen. Und in der ökologischen Frage ist rechtslinks sowieso nicht darstellbar. Es gibt Linke, die für Atomenergie sind. Dagegen sind Heiner Geißler oder der ehemalige Umweltminister Röttgen näher an den Grünen als mancher SPD-Gewerkschafter, der Kohle vertritt.“
Woraus folgt? Parteien und Gesellschaft brauchten ein „Medium“, das in der Lage sei, kommunikative Zusammenhänge herzustellen, in denen nicht nur die alten Positionen bis zur Besinnungslosigkeit beibehalten werden, sondern in denen sich Gedanken entwickeln. Und, klar, dieses Medium könnte er sein – eine Art grüner überparteilicher Europäer. Gerade hat Cohn-Bendit in den französischen Nachrichten en passant gesagt, dass er sich vorstellen könne, eine neue Talkshow zu moderieren, in der so etwas passiert. Als er zehn Minuten später aus dem Studio kam, hatten vier Sender bei ihm angerufen. Die wird er treffen und dann etwas entwickeln. Außerdem dreht er einen Film über die Fußball-WM in Brasilien. Dann noch dies. Und das.
Wenn man sich mit Cohn-Bendits Leben beschäftigt, kann man nicht übersehen, dass er seit der Geburtsstunde der 68er-Revolte an der Universität Nanterre die Medien zu nutzen wusste. Und sie ihn. Auch die neuen Medien sind ihm zugeflogen. YouTube hat den sommersprossigen 68er im vergangenen Jahr auch in Griechenland und Ungarn populär gemacht. Mit Parlamentsreden! Man muss sich mal den Clip anschauen, wie er im EU-Parlament den französischen Präsidenten Hollande duzt, wie er „François“ ruft, wie er wedelt und schreit. Unerhört. Aber Hollande sagte hinterher:“Dany darf das.“
Das ist nicht nur großes Kino und nicht nur Show. Die Clips dokumentieren auch eine existenzielle Emphase in der Politik, die im Merkel-Zeitalter weitgehend verschwunden ist. Was als Fortschritt interpretiert wird, weil man es einem anachronistischen Basta-Macho-Politikertypus zurechnet. Wenn Cohn-Bendit sich bei Marietta Slomka im „heutejournal“ fürchterlich aufregt, wirkt das auf manche mittlerweile fast verstörend. Geht es nicht auch ruhiger?
Dabei ist die Botschaft, dass es viel zu ruhig geworden ist. Dass es in der Politik um etwas geht. Dass man um Fortschritt streiten muss, und zwar richtig. Und dass er, Daniel Cohn-Bendit, nach wie vor keinem Streit aus dem Weg geht.
Das wäre ja noch schöner. Allerdings legt er sich ungern mit Schwächeren an. Lieber auf Augenhöhe. Also mindestens Sarkozy, Hollande, Merkel, Barroso. Oder Franz Beckenbauer, den er einst als UEFA-Präsident verhindern half – mit einer „Allianz gegen Franz“. Ironischerweise hat er selbst ein bisschen was von Beckenbauer, den man ja nie auf sein Geschwätz von gestern festnageln kann.
Am Ende steht Cohn-Bendit vor dem „Einstein“ und wartet brav an einer roten Fußgänger-Ampel. Er ist auf dem Weg zu einem Abendtermin am Brandenburger Tor, wo er seine Vision von einem föderalen Staat Europa präsentiert. Danach Basel, Stuttgart, Frankfurt, Brüssel, Köln, wieder Paris, Erfurt, Leipzig, Lausanne. Dazwischen Brüssel und Straßburg.
„Ganz schön was los bei dir.“
„Deshalb will ich ja aufhören.“
Aber er will nur das Eine aufhören, um das Andere zu machen.
Es ist wie eine Neverending-Tour, bei der er möglichst jeden Abend etwas Neues aufführt. Manchmal weiß er erst hinterher, was es ist. Und genau das treibt ihn weiter.