Verführung in Serie
Die Geschichten werden bizarrer, Starregisseure drehen Episoden, Superstars kämpfen um Hauptrollen. Löst die Fernsehserie tatsächlich den Kinofilm als Maß aller Dinge ab? Zwar ist das Ritual des Gemeinsam-Schauens obsolet, doch dem Reiz der Serie verfallen immer mehr Menschen: Sie machen uns süchtig mit ihren komplexen Spannungsbögen, Rätseln und Verzögerungstaktiken. Seriengucker sind Einzelkämpfer, Trüffelschweine in der Bilder-Bonanza
Früher war nicht alles besser, aber einfacher war es schon. Eine Fernsehserie lief einmal in der Woche, zu einem festen Zeitpunkt, im selben Programm, und die Handlung war meist so schlicht wie der Sendeplatz: Es gab harmlose Vorabendserien und etwas härtere Krimis für die Nacht, Familienepen und Seifenopern. Heute fallen die Sehgewohnheiten immer mehr auseinander. Der eine bleibt beim guten alten TV und freut sich auf die wöchentliche Dosis „Pastewka“ oder „Grey’s Anatomy“. Der andere guckt nur noch auf DVD, weil man so ein Dutzend Episoden am Stück, ohne Werbung schauen kann – ein Erlebnis, das manche Digitalsender nachahmen wollen, indem sie komplette Staffeln an einem Wochenende zeigen. Das gemeinschaftsstiftende Element geht bei all diesen unterschiedlichen Sendeformen und Formaten mehr und mehr verloren, weil selbst Leute, die dieselbe Serie lieben, immer erst mal fragen müssen: „Wo bist du gerade?“ – und oft hören: „Verrate bloß nichts!“
Die ritualisierte Regelmäßigkeit verschwindet, aber das Schönste an Serien ist natürlich immer noch die Gewohnheit: Man kennt sich. Jede Woche sieht man sich wieder, und der Mensch mag bekanntermaßen Wiederholungen, er schätzt auch eine gewisse Vorhersehbarkeit. „House“ wird den Fall lösen, „Sherlock“ ebenso. Allerdings gleichen die Spannungskurven moderner Serien eher einer Achterbahn. Expertin Karin Hüttenhofer, deren Programmvideothek „Traumathek“ in Köln neben Filmen längst auch ein großes Sortiment an Serien verleiht, schätzt das „komplexe Erzählen“: „Serien wie, The Wire‘ oder, Lost‘ sind als Puzzle angelegt, die mit alternativen Realitäten, sich überschneidenden Handlungssträngen, Flashbacks und Zeitreisen aufwarten. Durch Ellipsen und Verzögerungen wird der Zuschauer lange im Dunkeln gelassen“ – und muss diszipliniert und konzentriert bei jeder Folge dabei sein, um nicht den Faden zu verlieren. Zudem gibt es bei solchen Ensemble-Serien längst nicht mehr nur ein paar Hauptfiguren, sondern mindestens ein Dutzend, gern sterben auch Sympathieträger plötzlich weg – oder es wird einfach mal die Perspektive gewechselt. Nichts ist sicher.
Für die großen deutschen Sender ist diese neue Komplexität eine Herausforderung. Jörg Graf, RTL-Bereichsleiter für Produktionsmanagement und Programmeinkauf, sieht das ganz realistisch: „Für einen Sender wie RTL darf das Programm nicht zu speziell sein, muss also eher den Mainstream bedienen und universell erzählt sein wie das, CSI‘-Franchise oder, Monk‘. Abgeschlossene Serien funktionieren grundsätzlich besser als eine serielle Erzählweise à la, Lost‘.“ So wartet man manchmal Jahre, bis eine Serie wie „Sons Of Anarchy“ anläuft. Erst muss synchronisiert, dann der richtige Programmplatz gefunden werden – was auch bei einer preisgekrönten, aber extrem harten Serie wie „Homeland“ gar nicht leicht ist. Manche hochwertige Produktion sei der Mehrheit der Zuschauer nicht zumutbar – und wird in Spartenkanäle oder Internetportale wie MyVideo verschoben. Neuerdings lernen die Sender allerdings dazu: Mit der Ungeduld der nicht-amerikanischen Serienfreaks ist ordentlich Geld zu machen! Die jüngsten Staffeln von „True Blood“ und „Sons Of Anarchy“ konnte man sich schon am Tag nach der US-Erstausstrahlung auf iTunes kaufen. Zudem ist HBO jetzt auch in Deutschland angekommen. Seit einigen Monaten kooperiert der Pay-TV-Sender Sky mit seinem US-Pendant und wird alle neuen HBO-Serien zeigen: „Veep“ mit Julia Louis-Dreyfus, „Generation Kill“ mit Alexander Skarsgård, auch die dritte Staffel von „Boardwalk Empire“. Mit Sky Go und Sky Anytime löst sich der Sender nebenbei immer mehr von der üblichen „linearen Ausstrahlung“, wie Marcus Ammon, Deputy Senior Vice President Programming bei Sky, es nennt. Alles ist auf Abruf verfügbar, man kann gar nichts mehr verpassen. Auch die relativ neue Variante, eine komplette Staffel an einem Wochenende zu zeigen, wird gern genutzt. „Gerade Serien mit komplexen Erzählweisen möchte der Zuschauer am Stück sehen, um sich auf die Geschichte einlassen zu können“, sagt Ammon.
Gewalt und Sex? Bei Pay-TV-Kanälen kein Problem. „Dexter“ oder „Die Sopranos“, aber auch „Californication“ haben es hier leichter, weil der Jugendschutz via PIN-Code gewährleistet wird und die Folgen nicht in die späte Nacht geschoben und geschnitten werden müssen. Mit riesigen Budgets werden inzwischen auch Hollywood-Stars wie Dustin Hoffman, Nick Nolte oder Steve Buscemi angelockt – oder Regisseure wie Martin Scorsese und Michael Mann. Noch nicht ausgereizt sind dagegen die Sujets – zu oft werden die gleichen bemüht. Zwar gibt es inzwischen Serien, die in allen erdenklichen Epochen spielen („Downton Abbey“, „Boardwalk Empire“), auch Fantasy („Game Of Thrones“, „Once Upon A Time“) und Apokalypse („The Walking Dead“, „Falling Skies“) sorgen für Abwechslung. Doch wie viele Krimiserien können nach „CSI“, „CIS“, „NCIS“, „Criminal Intent“ und so weiter noch kommen? Tom Sellecks „Blue Bloods“ setzte Kabel eins nach zwölf Folgen ab, „Person Of Interest“ wurde bei RTL auf einen späteren Sendeplatz verschoben, nur die leichtfüßige Variante „White Collar“ hat sich bewährt.
Vielleicht sollte man sich auch neue Kulissen suchen. Es gibt viele Krankenhaus- und Büro-Serien, Anwaltspraxen und Kneipen laufen stets gut. Aber warum funktionieren Flughäfen nicht? Vor einigen Jahren scheiterte „LAX“ mit Heather Locklear, auch „Pan Am“ mit Christina Ricci brachte es nur auf 14 Episoden, die im Frühjahr bei Sixx gezeigt werden. Und was ist mit dem Gastgewerbe los? Seit „Fawlty Towers“ und „Hotel“ hat es nur die BBC mit „Hotel Babylon“ versucht – eine tolle Serie, die hier auf FOX und Comedy Central versendet wurde, während das ZDF lieber die Ralf-Bauer-Schmonzette „Fünf Sterne“ zeigte. Bei deutschen Serien mag das Suchtpotenzial ähnlich hoch sein, aber die so treuen wie uncoolen Stammseher von Dauerwürsten wie „Lindenstraße“ und geriatrischen Ladenhütern wie „Ein Fall für zwei“ haben in den Medien keine Stimme, und formal wirken sie rührend überkommen – das Pleistozän des Serienwesens.
Denn die Serie ist inzwischen die Avantgarde des Erzählens – sogar wenn die Geschichten in der Steinzeit spielen.