Verdammt zur Freiheit
Der US-Autor Jonathan Franzen hat nach neun Jahren Arbeit den Nachfolger seines Welterfolgs „Die Korrekturen“ vorgelegt. Von Peter Henning
Irrwitzige neun Jahre hielt der Roman ihn in Atem, begleitet von schweren Krisen, längeren unfreiwilligen Auszeiten und der langsam schwindenden Hoffnung auf die erlösende Eingebung. Doch im vorletzten Jahr schließlich fand er die ersehnte Abzweigung ins Glück und binnen zwölf Monaten stieß er siegesgewiss und wie im Rausch 700 Seiten hervor, an deren Ende ein Triumph stehen sollte: Der Triumph des Künstlers über die finstre Macht des Selbstzweifels – und über die inneren Dämonen in Form eines Romans, der es – ähnlich wie dereinst Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ – „mit der Welt aufnehmen will!“
Wo befreundete Kollegen wie der frühverstorbene Meta-Fiktionalist David Foster Wallace ihre Texte fröhlich durch den Schredder jagten, um neue Sinnzusammenhänge zu stiften, vertraute der Neotraditionalist Franzen – wie schon beim Vorgänger „Die Korrekturen“ von 2001, dessen Niederschrift ebenfalls neun Jahre beanspruchte – unbeirrbar auf die Macht des klassischen Romans. Trotz der vielen Abbrüche und Neuanläufe, die es brauchte, bis er endlich das Gesicht und die Stimme Patty Berglunds vor Augen hatte – und der Weg frei war.
„Denn wirkliche Schriftsteller sind da wie Vögel, die man beim Nestbau stört“, bekennt der passionierte Ornithologe Franzen heute, knapp zwei Jahre nach dem kreativen Durchbruch, gutgelaunt. „Wie oft man sie auch stört – sie fangen immer wieder von vorne an!“ Das Resultat ist sein jetzt vorliegender vierter Roman „Freedom“ – ein Monster von einem Buch: in der deutschen Übersetzung („Freiheit“, Rowohlt, 24,95 Euro) 731 Seiten lang, bildmächtig und überbordend, hyperrealistisch und kunstvoll verzahnt – ein reißender Strom aus Bildern, Sequenzen und analytisch kühlen Reflexionen, der den Leser dahinträgt über eine ganze Dekade. Eine kühne, unerschrockene literarische Tiefenbohrung ins dunkle Innerste der amerikanischen Seele während der Bush-Jahre, genauer: ins Herz der amerikanischen Familie.
Bereits sein ziegelsteindicker zweiter Roman „Schweres Beben“ von 1992 drehte sich um die Familie. Und dann war da natürlich noch die bitter-grotesk der Wirklichkeit abgelauschte Welt der Lamberts aus „Die Korrekturen“, deren kleine und mittelschwere Katastrophen der 1959 in Western Springs,Illinois geborene und in einem Vorort von St. Louis aufgewachsene Autor seinerzeit auf 528 Seiten wie mit dem Skalpell sezierte. Damals schuf er große, paritätisch nebeneinander stehende Sprachtableaus, in denen er das Treiben einer Handvoll Menschen im Amerika der späten 90er-Jahre illustrierte, die – malträtiert von Parkinson, Ängsten, verdeckten Obsessionen und nicht losgelassenen Dämonen – allesamt um eine Korrektur ihres in Schieflage geratenen Lebens bemüht waren. Und nicht wenige glaubten, Franzen, der Schwergewichtler wie Tolstoi, Flaubert oder Dickens zu seinen literarischen Hausgöttern zählt, habe mit diesem Roman das Thema Familie für sich erschöpfend behandelt.
Doch mit geradezu pflanzenhafter Demut kehrte er 2002 zu den Ursprüngen seines Erzählens zurück: einem geduldigen, bis an den Rand der Selbstzerfleischung führenden Nachdenken darüber, „weshalb Familie als solche Segen und Fluch zugleich sein kann“.
In „Freiheit“ entrollt der 51-Jährige in weitausholenden Erzählschleifen das irrwitzige Treiben der Berglunds aus St. Paul, einer ebenfalls sogenannten „dysfunktionalen“ Familie, in deren Innerstes Franzen seine Sätze wie Messer treibt. Dieser Roman scheint nun den endgültigen Schlusspunkt in Franzens schreibendem Nachdenken über diese Keimzelle der Gesellschaft zu markieren: Ein Buch, dem es mit konservativer Sprachgenauigkeit, klassischem Formbewusstsein und einem zumindest scheinbar konventionell entworfenen Plot gelingt, den Anschluss an die großen realistischen Romane des 19. Jahrhunderts herzustellen.
Patty Berglund mutet an wie eine moderne Verwandte von Emma Bovary oder Effi Briest; allesamt von dem Unglücksklima ihrer Ehen zunächst in den Seitensprung, später in die Depression und schließlich sogar in den Selbstmord getriebene Einzelkämpferinnen, denen Franzen mit seiner Figur huldigt.
Patty, die Tochter einer „Berufsdemokratin“, verbringt ihre dröhnend leere Jugend als Basketballsternchen, macht sich eine kiffende Stalkerin zu ihrer besten Freundin – und verliebt sich heillos in den aufregenden und für seine zahlreichen Eskapaden berüchtigten Musiker Richard. Doch weil ihr Verlangen nach Sicherheit größer ist als ihr Mut, sich dem unkonventionellen Draufgänger in die Arme zu werfen, heiratet sie schließlich den zwar weniger aufregenden, dafür aber weit verlässlicheren Walter, bekommt zwei Kinder von ihm und endet – nachdem sie bis auf die Knochen frustriert irgendwann eine sinnlose Affäre mit Richard beginnt – als von Depressionen geschüttelte Alkoholikerin, die als Empfangsdame in einem Fitnesscenter ihr bescheidenes Auskommen hat.
Walter und die beiden Kinder Joey und Jessica suchen ihr Heil bald außerhalb des engen Familienverbandes. Joey – von Pattys bedrängender Liebe und aufgesetzter Kumpelhaftigkeit in die Flucht geschlagen – zieht kurzerhand ins Haus der reaktionären Nachbarn ein, mit deren Tochter er seit deren zwölften Lebensjahr Sex hat. Auf dem College sucht er in seinem Bestreben, die alten Spuren zu verwischen und sich dadurch zu befreien, Kontakt zu den rich kids, bis er irgendwann sein Geld mit korrupten Geschäften für einen Militärzulieferer der amerikanischen Truppen im Irak verdient. Und auch Walter, für den der Tod seines alkoholkranken Vaters wie eine Erlösung ist, strebt vehement nach Freiheit und glaubt irgendwann, diese dadurch zu erlangen, dass er den in seinem Lebensraum bedrohten Pappelwaldsänger, einen blau gefiederten kleinen Vogel, rettet.
Franzen porträtiert Menschen, denen es nicht gelingen will, ihre Freiheitsvorstellungen in die Tat umzusetzen. Patty, die es für eine Befreiung hält, ihre wahren Gefühle leben zu können – und am Ende mit Einsamkeit dafür bezahlt; Walter, der sich – längst zum Opfer seiner überkommenen, unrealistischen Ideale geworden – in obskuren, pseudo-ökologischen Machenschaften verliert. Oder Joey, der freies Denken für die wahre Freiheit hält und zum Schluss zum Kriegsgewinnler mutiert. Bis sie sich alle insgeheim nach jenem verlassenen Schutzraum namens Familie zurücksehen, in den es kein Zurück mehr für sie gibt. Denn das ist die eigentliche und ziemlich bittere Pointe des Romans: dass der Mensch – mit Camus gesprochen – dazu verurteilt ist, frei zu sein!
So gelingt es Franzen trotz der epischen Langsamkeit unsere immer schneller laufende Wirklichkeit abzubilden. Er zeigt in ihr Alltagsleben verstrickte Durchschnittamerikaner, die spüren, dass ihrer Weltanschauung seit 9/11 Grenzen gesetzt sind – und die doch und jeder auf seine Weise nach „Freiheit“ streben. „Er stirbt angeblich seit inzwischen mehr als einhundert Jahren einen nie ganz vollzogenen Tod auf Raten“, so Jonathan Franzen über den klassischen Roman, „auch wenn ich nicht ein wirkliches Indiz dafür ausmachen kann. Doch ich bin sicher: Solange sich Menschen für die Belange anderer Menschen interessieren, wird das Projekt Roman weitergehen. Ich jedenfalls arbeite unentwegt daran. Selbst wenn ich schlafe!“
In Franzens Heimat wurde „Freedom“ geradezu frenetisch gefeiert und trug ihm dort kürzlich die seltene Ehre ein, in Nachfolge von Größen wie John Cheever, John Updike oder Stephen King das Cover des altehrwürdigen „Time“-Magazins zieren zu dürfen. „Das Buch widmet sich der Untersuchung unserer westlichen Vorstellung von Familie“, so Franzen, „auch wenn ich mich dem Ganzen diesmal und anders als noch in den, Korrekturen‘ aus einer anderen Blickrichtung nähere. Doch es wäre gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich die, Korrekturen‘ diesbezüglich als eine Art Sprungbrett nutzen konnte.“
Tatsächlich erscheint „Freiheit“ wie der erwachsene Bruder seines Vorgängers: ausgereifter, lässiger und, was vor dem Hintergrund der Makellosigkeit der „Korrekturen“ kaum mehr vorstellbar schien, noch ambitionierter. „Natürlich hatte ich zu Beginn eine ziemliche Aversion gegen die Vorstellung, womöglich ein und dasselbe Buch zweimal zu schreiben“, sagt Franzen mit Blick auf seinen neuen Roman. „Doch im Nachhinein glaube ich aus der inzwischen zum Text entstandenen Distanz betrachtet nicht, dass die beiden Bücher sich im Innersten berühren.“