US-ROLLING-STONE-Cover mit Papst Franziskus: The times they are a-changin’ – die deutsche Übersetzung
Lesen Sie hier die deutsche Übersetzung der Titelgeschichte des amerikanischen ROLLING STONE: Papst Franziskus: The times they are a-changin’
Wenn es eine Figur gibt, zu der jeder eine Meinung hat, dann ist es diese: Als der Papst plötzlich auf dem Titel des amerikanischen ROLLING STONE auftauchte, war das Echo groß. Deshalb hat Daniel Kiecol für uns in zwei Nachtschichten die komplette Geschichte von Mark Binelli übersetzt. Urteilen Sie selbst!
Papst Franziskus: The times they are a-changin’
Fast an jedem Mittwoch versammeln sich die Gläubigen und Neugierigen auf dem Petersplatz in Rom zur Generalaudienz beim Papst. Seit der Wahl Jorge Mario Bergoglios im vergangenen März hat sich die Teilnahme an der Generalaudienz auf 6,6 Millionen verdreifacht.
Nun, an einem frostigen Dezembermorgen, scheinen die herbeigeströmten Pilger im Sonnenlicht zu glänzen und die Fläche des Platzes wie ein auf Pixelgröße herangezoomter Teppich zu bedecken. Vielleicht liegt das auch nur an den in die Höhe gehaltenen Smartphones.
Aus der Nähe wirkt der 265. Nachfolger Petri untersetzter als im Fernsehen. Seine Demut, die Empathie, die er ausstrahlt und vor allem sein selbstloser Einsatz für die wirtschaftlich Benachteiligten scheinen in den Augen von immer mehr Menschen perfekt in unsere Zeit zu passen. So aufsehenerregend sein erklärter Verzicht auf die extravagantesten päpstlichen Attribute war, so überraschend stylish erscheint er jetzt: in seinem weißen doppelreihigen Mantel, seinem weißen Schal und seiner nur einen Tick mehr ins Cremefarbene gehenden Soutane – alles perfekt geschneidert.
Thema seiner heutigen Katechese ist das Jüngste Gericht. Sein Vorgänger Benedikt XVI. hatte eine solche Gelegenheit einmal zu einer dringenden Warnung an alle Gläubigen genutzt: „Heute denken wir oft: ‚Was ist schon die Sünde? Gott ist groß, er hat Verständnis für uns; am Ende wird er allen gnädig sein.‘ Das ist eine schöne Hoffnung. Aber es gibt eine Gerechtigkeit. Und es gibt eine Schuld.“
Franziskus aber, 77 Jahre alt, beschwört die Menge, sich das Jüngste Gericht als etwas vorzustellen, auf das man sich freuen kann wie auf eine Hochzeit, bei der Jesus und alle Heiligen im Himmel mit offenen Armen auf uns warten. Zweimal sieht er von seinem Manuskript auf, um eine ihm besonders wichtige Stellen zu wiederholen: avanti senza paura („geht ohne Furcht“) und quel giudizia finale è già in atto („das Jüngste Gericht hat bereits begonnen“). Aus dem Munde dieses Papstes klingt selbst die letzte Bemerkung wie ein freundlicher Hinweis. Seine Stimme ist von entwaffnender Sanftheit, selbst wenn sie technisch verstärkt wird, um einen großen Platz zu beschallen.
Irgendwann wendet er sich direkt an die Gläubigen, um sie zu grüßen – ein Teil der Generalaudienz, den sein Vorgänger Benedikt, der trockene Akademiker, immer so kurz wie möglich gehalten hatte. Franziskus lässt sich in diesem Punkt aber viel eher mit Bill Clinton vergleichen, der wie er vom persönlichen Kontakt mit den Menschen lebte. Und so widmet der neue Papst dem Bad in der Menge der Gläubigen fast eine ganze Stunde.
Ganz in der Nähe des Podiums hält sich eine Gruppe recht rüpelhafter, ihren Heimvorteil sichtlich ausspielender Italiener auf, von denen einige während der Papstpredigt die ganze Zeit laut in ihr Handy gesprochen hatten. Nun aber zücken sie ihre Kameras wie Paparazzi und schreien: „Papa Francesco! Papa Francesco!“, sie schreien unaufhörlich und schrill und versuchen den Heiligen Vater der Katholischen Kirche dazu zu bewegen, zu ihnen herüberzuschauen. Die frechsten unter ihnen halten gar ihre Kinder nach oben und rufen: „I bambini! I bambini!“
Der Promi-Status eines Papstes ist schon eine komische Sache. Als er noch Erzbischof von Buenos Aires war, kannte man Bergoglio nicht als begnadeten Redner. Aber nun, als Papst Franziskus, wirkt seine unverstellte Menschlichkeit geradezu revolutionär, und das natürlich im positiven Sinne. Im Vergleich zu dem absurd anmutenden Barock des Vatikans, einer Welt, die immer noch geführt wird wie ein mittelalterlicher Hof, wirkte die Wahl von Franziskus zum Papst wie ein „Skandal der Normalität“, wie es die argentinische Journalistin Elisabetta Piqué ausdrückte, die seit Jahrzehnten mit Bergoglio befreundet ist. Seit seiner Wahl im März verblüffte der neue Papst immer wieder aufs Neue, indem er den an ihn gerichteten Erwartungen durch einfachste Gesten widersprach: in dem Hotel, in dem er während des Konklaves nächtigte, überraschte er die Angestellten damit, dass er seine Rechnung persönlich am Empfang beglich; Bodyguards versetzte er in Panik, als er an einem Becher Mate nippte, den ihm ein Fremder bei einem Besuch in Brasilien hinhielt; die Kardinale unterhielt er mit Witzen auf seine eigenen Kosten – nur Stunden nachdem er von ihnen gewählt worden war (mit todernster Mine sagte er während des ersten Abendessens, zu dem er sie als Papst lud: „Möge Gott euch für das, was ihr getan habt, gnädig sein“).
Nach dem desaströsen Pontifikats Benedikts – eines eingefleischten Traditionalisten, der immer aussah, als sollte er eigentlich ein gestreiftes Hemd tragen und Handschuhe mit Messern statt Fingerlingen, um Teenager in ihren Albträumen zu traktieren – reicht Franziskus schon ein schlichtes Lächeln in der Öffentlichkeit, um ihn den Katholiken als langersehntes Wunder erscheinen zu lassen. Doch er hatte weit radikalere Veränderungen im Sinn. Indem er den päpstlichen Palast gegen ein Zweizimmer-Appartement eintauschte; indem er Kirchenführern vorwarf, sie seien „besessen“ von kontroversen gesellschaftlichen Themen wie der Homo-Ehe, Geburtenkontrolle und Abtreibung („Wer bin ich, um darüber zu richten?“ war seine inzwischen berühmt gewordene Antwort, die Franziskus auf eine entsprechende Frage zu homosexuellen Priestern abgab); und indem er einen Großteil seines ersten Apostolischen Schreibens einer harschen Kritik des unkontrollierten Kapitalismus widmete, offenbarte Franziskus seine eigene Obsession – nämlich näher an der Seite von Gottes Sohn zu stehen.
Das päpstliche Konklave, das Bergoglio auf den Papstthron hob, war davon ausgegangen, sich für einen ausgleichenden Kompromiss-Kandidaten entschieden zu haben. Den Kardinalen gefiel die Idee eines Papstes, der aus Lateinamerika stammt, also von dort, wo der Katholizismus heute noch am meisten wächst. Auch hatten sie die aufrüttelnde dreiminütige Rede Bergoglios sehr positiv aufgenommen, in der er gefordert hatte, die Kirche dürfe, wolle sie überleben, nicht mehr länger „in sich selbst leben, von sich selbst und für sich selbst.“
Bergoglio hatte keine weiteren Signale ausgesandt, die erkennen ließen, dass er an einem ernsthaften Wandel interessiert sei. In den Tagen nach seiner Wahl beschrieben ihn denn auch die meisten Kommentatoren als eine konservative Wahl, mit der die Kardinäle auf Nummer sicher gegangen seien. Bergoglio selbst hatte bloß als Wähler an dem Konklave teilnehmen wollen und sich schon längst nach einem Ort in Argentinien umgesehen, an dem er nach seiner Rückkehr seinen Ruhestand genießen wollte. „In dem Moment, in dem er realisierte, dass er gewählt worden war“, erzählt Piqué, „wusste er nicht, ob das nun ein Traum oder ein Albtraum war. Ich bin mir sicher, dass er sich nun wie in einem Käfig gefangen vorkommt.“
Es gibt sicher viele Arten, auf solche eine Situation zu reagieren. Stoische christliche Resignation. Ein Schrei: „Warum ich, mein Gott?“ Allerdings kann man die Situation auch als Herausforderung im eigentlichen Wortsinn begreifen und sogar entscheiden einigen Wirbel zu verursachen.
An der Seite vieler aufrichtiger Männer Gottes gab es immer wieder schreckliche Vertreter unter den Päpsten, wie wir aus dem Buch „Absolute Monarchs“ von John Julius Norwich erfahren, in dem dieser die Geschichte des Papsttums Revue passieren lässt – und das nicht selten anmutet wie eine durchgeknallte Mischung aus „House Of Cards“ und „Game Of Thrones“. Denken wir an Stefan VI., der den acht Monate alten Leichnam seines Vorgängers Formosus exhumieren ließ, um ihn, gekleidet in päpstliche Gewänder und auf den Papstthron gesetzt, einem Schauprozess zu unterwerfen (die Leiche wurde für schuldig befunden und in den Tiber geworfen). Über die Kirche zu Zeiten des 1342 gewählten Clemens VI. schrieb Francesco Petrarca, dass Prostituierte „sich in den päpstlichen Betten drängeln“ und er fügte hinzu: „Von Ehebruch, Verführung, Inzest und Vergewaltigung will ich gar nicht reden; all das sind ja bloß die Vorspiele zu ihren Orgien.“ Norwich zitiert auch den Autor Gerard Noel, der über Papst Innozenz VIII. geschrieben hatte, dass dieser „unangenehm fett wurde und immer träger, wodurch er gegen Ende seines Lebens nur mehr in der Lage war, einige Tropfen Milch zu sich zu nehmen, von der Brust einer jungen Frau.“ Der abscheuliche Antisemit Paul IV. „hatte eine besondere Freude an der Inquisition“ und schaffte es, die Zahl der römischen Juden innerhalb von nur fünf Jahren zu halbieren; und Papst Pius XI. beschrieb Mussolini als einen „Mann, den uns die Vorsehung geschickt hat.“
In dieser Reihe von Unholden hat Benedikt XVI. sicherlich keinen Platz, aber es fällt schwer, sich eine schlechtere Wahl als Kardinal Joseph Ratzinger vorzustellen, wenn es darum geht, den vielen Herausforderungen zu begegnen, denen sich die Kirche in der heutigen Zeit gegenübersieht. Bevor er 2005 zum Papst gewählt wurde, hatte er seinem Vorgänger, Papst Johannes Paul II., als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre gedient. In seinem Kampf gegen die liberalen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils bekämpfte JPII, wie er im Vatikan genannt wurde, fortschrittlichere Kräfte wie die Jesuiten, während die umstrittenen Erztraditionalisten von Opus Dei im katholischen Mainstream willkommen geheißen wurden. Laien dieses Ordens, die sogenannten „Numerarier“, geloben Ehelosigkeit und vollziehen körperliche Kasteiungen, indem sie sich selbst geißeln oder durch das Tragen des Cilicium genannten Bußgürtels – einer Kette, deren eine Seite mit scharfen Metallteilen besetzt ist – an das Leiden Christi erinnert werden.
In einem 1986 von Ratzinger verantworteten Schreiben mit dem Titel „Über die pastorale Seelsorge homosexueller Personen“ (auch bekannt als „Homosexualitatis problema“) wird Homosexualität als ein „wesensmäßig moralisches Übel“ bezeichnet. Führende Vertreter der sogenannten Befreiungstheologie – einer explosiven, marxistisch angehauchten Bewegung, die in den 1970er- und 80er-Jahren durch Lateinamerika fegte – wurden von Ratzingers Amt an den Rand gedrängt und als Häretiker abgetan. Zur gleichen Zeit aber reagierte sein Team auf die zahllosen Pädophilie-Vorwürfe, denen sich die Kirche seit Jahrzehnten gegenübersieht, mit „Leugnung, juristischer Verzögerungstaktik und offener Obstruktion“, wie eine Untersuchung der „New York Times“ 2010 feststellte.
Nachdem er 2005 Papst wurde, gelang es Ratzinger kaum mehr Luft zu holen, und er schaffte es zu keiner Zeit, seine akademischen Brillanz dafür zu nutzen, all die Feuer zu löschen, die sich in der realen Welt um ihn herum entzündeten. 2009 wurde ein massiver Fall von Geldwäsche in der Vatikanbank aufgedeckt; und nur wenig später gab es die als VatiLeaks bekannt gewordene Affäre, in der Benedikts eigener Butler Stapel von vertraulichen Unterlagen entwendete, mit denen erstmals Einblicke in die Vorgänge im innersten Zirkel des Heiligen Stuhls gewährt wurden. Die italienische Presse jubilierte ob der vielen pikanten Details, wozu etwa der Vorwurf einer schwulen Schmierenkampagne gehörte, verschwundenes Geld, versuchte Steuerhinterziehung (mit Unterstützung der Berlusconi-Regierung), Geldverschwendung (wie etwa im Fall einer Kinderkrippe für mehr als 250.000 Euro) und verdächtige Geschenke (wie Trüffel im Wert von fast 75.000 Euro, die dem Papst von einem italienischem Geschäftsmann angeboten wurden).
Als drei Kardinäle, die von Benedikt beauftragt waren, die VatiLeaks-Affäre zu untersuchen, in ihrem Bericht ein Netzwerk schwuler Angestellter im Vatikan aufdeckten und Außenstehende damit drohten, dies öffentlich zu machen, war das Maß voll. „Er hatte weder die Persönlichkeit, noch die nötige Kraft, um mit allem umzugehen, was da passierte“, erzählt mir ein Vatikan-Insider. Kurz nachdem Benedikt im letzten Februar die Welt mit seiner Abdankung überraschte, kam auch noch eine letzte Peinlichkeit ans Licht: Das größte schwule Badehaus Italiens war in einem Gebäude eingerichtet, dessen Besitzer der Vatikan ist.
Trotz all dieser Skandale, und obwohl immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehrten, gab es doch eine Gruppe, auf die der Papst sich verlassen konnte: ultrakonservative amerikanische Katholiken, und unter diesen insbesondere Politiker. Der Pakt der religiösen Rechten mit den Republikanern war zunächst von Evangelikalen wie Pat Robertson geschmiedet worden, die niemals große Fans ihrer römischen Brüder im Geiste gewesen waren. Aber die Frontlinien sind hier undeutlicher geworden: Rechtsgerichtete Katholiken wie Newt Gingrich, Paul Ryan, Marco Rubio und Jeb Bush gehörten unlängst zum erweiterten republikanischen Kandidatenfeld bei den Präsidentschaftswahlen, während Männer wie Rick Santorum und Gouverneur Sam Brownback aus Kansas mit Opus Dei in Verbindung gebracht werden.
Ich treffe mich mit Vater John Paul Wauck, einem amerikanischen Opus-Dei-Priester, der seit 20 Jahren in Rom lebt, wo er Literatur an der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz lehrt. Wauck, der für einen Opus-Dei-Priester nicht auffällig konservativ wirkt – an einem Punkt etwa fragt er mich aufgeregt, ob ich „Eminent Hipsters“ gelesen hätte, die Autobiografie von Steely-Dan-Mastermind Donald Fagen –, spielt den Aufruf des Papstes für einen Waffenstillstand im Kulturkampf herunter: „Ich habe absolut kein Problem mit dem, was der Papst sagt. Ich glaube, da wurde etwas selektiv gelesen. Leute betonen da einige Sachen und vergessen andere Sachen, die der Papst auch gesagt hat.“ So weist Wauck darauf hin, dass Papst Franziskus zum Beispiel oft über den Teufel spreche, „viel häufiger, als Benedikt dies nach meiner Erinnerung getan hat“. Und auch das, was Franziskus über die Besessenheit der Kirche in Bezug auf Schwulenehe und Abtreibung sagte, weise in den Augen Waucks noch keineswegs auf eine grundsätzliche Änderung der katholischen Doktrin hin. „Der Papst sagte nie, dass diese Themen nicht wichtig wären. Er sagte lediglich, dass wir, wenn wir über diese Dinge sprechen, den Kontext im Blick behalten müssten und wer würde dem widersprechen wollen? Wenn die Leute also versuchen herauszufinden, was er nun für ein Mensch ist, sollte man auch bereit sein, alle Glocken zu hören und nicht nur die, die klingen wie ‚Oh ja, er wird alles verändern!‘“
Auch wenn einiges an Waucks Interpretation wie Wunschdenken klingen mag, so ist dieser Punkt ja nicht ganz falsch: Die veränderte Tonlage des Papstes bedeutet nicht zwangsläufig auch eine komplette Abkehr von den alten Traditionen. Franziskus sprach sich bereits gegen die Ordination von Frauen aus, und jede Abtreibung ist für ihn ein Übel. Aber denen, die sich so um den Kontext sorgen, in dem wir Franziskus begegnen sollen, täten gut daran, sich noch einmal die erste improvisierte Pressekonferenz anzuschauen, die er auf dem Rückflug von seiner Brasilienreise im vergangenen Sommer den mitfliegenden „Vaticanisti“ gewährte (also den akkreditierten Mitgliedern des Pressecorps im Vatikan). Meist wird aus dieser 90 lange Minuten langen Pressekonferenz nur der letzte, inzwischen legendäre Satz „Wer bin ich, um darüber zu richten?“ zitiert. Aber wer das ganze Transkript liest oder sich – noch besser – den längeren Mitschnitt bei YouTube anschaut, kann sich den Kontext angemessener vergegenwärtigen.
Ein Reporter fragt Franziskus, der am vorderen Ende der Sitzreihe steht, nach der Existenz einer „schwulen Lobby“ im Vatikan, worauf der Heilige Vater zuerst einen Witz macht und sagt, dass ihm bisher noch niemand mit einem speziellen Homo-Ausweis begegnet sei. Aber schnell wird seine Miene wieder ernst und unterstützt von ausgreifenden Gesten erklärt er, dass es wichtig sei zwischen verschiedenen Arten von Lobbys zu unterscheiden, also zwischen den Lobbys, die schlecht seien – „eine Lobby von Gierigen etwa, eine Lobby von Politikern, eine Lobby von Freimaurern – so viele Lobbys gibt es!“ – und den einzelnen schwulen Menschen, die oft die besten Absichten hegten und auf der Suche nach Gott seien. Und genau in diesem Kontext fällt dann auch seine Bemerkung „Wer bin ich, um darüber zu richten?“
Und genau diese Stelle des Videos sollte man sich genau betrachten, denn abgesehen von dem Umstand, dass ein der Lehre nach unfehlbarer Papst einen solchen Satz äußert, wurde seine Antwort nie korrekt übersetzt. Was er nämlich tatsächlich sagt, ist: „Mah, chi sono io per giudicarla?“ Im Italienischen ist dieses „mah“ ein Ausruf, der sich in anderen Sprachen nur schwer wiedergeben, und sich vielleicht noch am besten als ein nachdrückliches Schulterzucken beschreiben lässt. Mein Vater benutzte dieses Wort meist, bevor er sich resigniert einen weiteren Spritzer Grappa in seinen Kaffee schüttete. Annähernd ließe sich dieses „mah“ vielleicht übersetzen als „Wie zum Teufel soll ich …“ Wenn man sich das Video anschaut, sieht man, wie Papst Franziskus sogar seine Finger zusammendrückt, um es nach typisch italienischer Manier besonders zu betonen. Und um schließlich noch ein verschmitztes Schmunzeln hinterherzuschicken.
Pater Thomas J. Reese, erfahrener Experte der linksorientierten Wochenzeitung „National Catholic Reporter„ aber meint, der angebliche Gegensatz von Stil und Substanz im Auftreten Franziskus‘ sei gar keiner und führe am Thema vorbei: „In der katholischen Kirche ist Stil gleichbedeutend mit der Substanz. Wir sind eine Kirche von Symbolen. Das nennen wir Sakramente: Symbole, die uns Gnade zuteil werden lassen. Diese Dinge zählen wirklich für uns. Und in diesem Sinne verändert Franziskus die Kirche bereits durch seine Worte und seine symbolischen Gesten.“
„Das Problem mit den letzten beiden Päpsten war, dass sie im Herzen Akademiker waren“, meint Reese. „Beide hatten zuvor an Universitäten unterrichtet, an denen die Studenten alles mitschreiben, was gesagt wird, um es mit nach Hause zu nehmen und dort zu lernen, und es bei der abschließenden Prüfung wiederzugeben.“
Bislang waren die Entscheidungen des neuen Papstes bezüglich seines bescheidenen Lebensstils – durch Rom in einem Ford Focus statt in einem von einem Chauffeur gelenkten Mercedes zu fahren beispielsweise – natürlich toll, aber für sich genommen noch nicht besonders aussagekräftig, was sein zukünftiges Wirken angeht. Natürlich sollte man nicht in einem gigantischen Palast leben, wenn man das Haupt einer Religion ist, deren wichtigste Prinzipien Nächstenliebe und Mitgefühl sind und die von einem heimatlosen Hippie gegründet wurde. Aber Franziskus hat dann doch ein sehr viel deutlicheres Zeichen gegeben, womit bei ihm noch zu rechnen ist. Während die Apostolischen Schreiben seiner beiden Vorgänger meist ins Dogmatische gingen (etwa das „Familiaris Consortio“ von Johannes Paul II. oder Benedikts „Sacramentum Caritatis“ mit seinen 32.000 Worten allein zur Eucharistie) schlug die scharfe Kritik Franziskus‘ an der Einkommensungleichheit in seinem Text „Evangelii Gaudium“ („Freude des Evangeliums“) ein wie eine Bombe.
Er schreibt darin von einer „Kultur des Wohlstands“, die uns „betäubt“ und taub macht gegenüber „dem Elend der Armen“. Schulden, Korruption, Steuerhinterziehung, Massenentlassungen („Die Wirtschaft darf nicht mehr auf „Heilmittel“ zurückgreifen, die ein neues Gift sind, wie wenn man sich einbildet, die Ertragsfähigkeit zu steigern, indem man den Arbeitsmarkt einschränkt und auf diese Weise neue Ausgeschlossene schafft“), aber auch Verbrechen an der Umwelt – alles kommt unter Beschuss. Einige, schreibt Franziskus, „verteidigen noch die sogenannte Überlauf-Theorie, die davon ausgeht, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von vorne herein eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Doch die Ausgeschlossenen warten weiterhin.“
Es ist eine Sache, Gottes Willen in Bezug auf die Sexualmoral in Frage zu stellen, aber wenn es um die geheiligten Doktrinen Ronald Reagans geht, verstehen die amerikanischen Konservativen keinen Spaß: das ist eine Todsünde. Sarah Palin sagte dazu gegenüber CNN, dass einige von Franziskus Ansichten sie „verdutzt“ hätten und „irgendwie liberal klingen“. Allerdings entschuldigte sie sich später für ihre etwas zu zurückhaltende Wortwahl. Der Fox-Moderator Rush Limbaugh war da weniger zurückhaltend – für ihn ist die Botschaft des Papstes schlicht „purer Marxismus“.
Der anderen Seite des politischen Spektrums fiel die Reaktion wesentlich leichter. „Papst Franziskus ist ein Geschenk des Himmels, eine prophetische Stimme, die sich gegen den Kapitalismus und Imperialismus erhebt“, meint etwa Cornel West, seit langem ein führender Vertreter der christlichen Linken. „Ich will den Papst jetzt keineswegs zum Fetisch machen. Er steht immer noch einer patriarchalen und homophoben Organisation vor, der ich sehr kritisch gegenüberstehe. Aber ich liebe ihn, so wie er ist und die Wirkung, die seine Worte auf die fortschrittlichen Kräfte in der Welt haben.“
Bergoglio wurde in Buenos Aires geboren, aber seine Eltern kamen aus Italien. Sein Vater floh vor Mussolini nach Argentinien, wo sie sich in Flores niederließen, einem Mittelklasse-Viertel im Herzen von Buenos Aires. Viele Verwandte aus Italien lebten in der Nähe, darunter auch ein Großonkel, den Bergoglio 2010 einmal beschrieb als „schelmischen alten Mann“, der ihm einige zweideutige Liedchen im Genueser Dialekt beigebracht hätte. „Das erklärt“, so Bergoglio damals, „warum ich die einzigen Dinge, die ich im Genueser Dialekt noch sagen kann, heute lieber nicht mehr wiederholen möchte.“
Buenos Aires ist eine kosmopolitische Stadt, in der Spuren der spanischen Kolonisation sich vermischten mit einer auf den sozialen Aufstieg bedachten europäischen Kultur. (Es gibt einen alten Witz über Argentinier, nach dem sie Spanisch sprechende Italiener seien, die sich aber selbst für Briten hielten.)
Bergoglio studierte Chemie an der Technischen Hochschule, arbeitete in einem Labor und nachts als Rausschmeißer in einer Bar; er liebte Fußball und tanzte Tango. Dann, mit 17 Jahren, als er sich mit einigen Freunden traf und gerade hinter einer Kirche entlangging, erlebte er eine Epiphanie. In einem Interview mit einem Radiosender beschreibt er das Gefühl, das er damals verspürte: „Ich fühlte mich, als ob mich jemand von ihnen ergriff und mich zum Beichtstuhl führte. … Ich wusste in diesem Moment, dass ich Priester werden musste, und ich habe daran nicht mehr gezweifelt.“
Vier Jahre lang erzählte Bergoglio niemandem von diesem Vorfall; er ging weiter zur Schule und später zur Arbeit. Aber 1958, als er 21 war, trat er in ein Jesuitenseminar ein. Seine Mutter war unglücklich mit seiner Entscheidung und weigerte sich jahrelang, ihn zu besuchen. „Meine Mutter erlebte es als eine Art Plünderung“, erinnert sich Bergoglio. „‚Ich weiß nicht, ich sehe dich einfach nicht als … du solltest damit noch etwas warten … du bist doch der Älteste … geh weiter arbeiten … beende doch erst dein Studium‘, sagte sie. Sie war einfach extrem aufgebracht.“ Später sagte Bergoglio dazu, dass er sich zu den Jesuiten hingezogen fühlte, weil Gehorsam und Disziplin bei ihnen einen solch hohen Stellenwert hatten, aber auch weil er hoffte, als Missionar nach Japan gehen zu können, wo es die Jesuiten waren, die um 1540 als erste das Christentum eingeführt hätten; dabei hinderten ihn gesundheitliche Probleme – er verlor einen Teil eines Lungenflügels in Folge einer schweren Lungenentzündung – eine solche Reise überhaupt anzutreten. Stattdessen studierte er Literatur an einer Jesuitenschule, holte dabei auch den großen argentinischen Schriftsteller Jorge Luís Borges für eine Vorlesung, und schon bald, im Alter von 36 Jahren, war er Provinzial der Jesuiten in Argentinien, also leitender Vorsteher des Ordens für das ganze Land. „Das war schon verrückt“, gab der Papst dazu später in seinem Interview mit dem Jesuitenmagazin „America“ zu. „Ich hatte mit schwierigen Situationen umzugehen und traf meine Entscheidungen allein und recht abrupt.“ Wie Paul Vallely in seiner Biografie „Pope Francis: Untying the Knots“ schreibt, war Bergoglio durchaus eine polarisierende Figur und wurde von vielen argentinischen Jesuiten als konservativ gesehen. Er beschrieb seinen Führungsstil mit dem Wort „autoritär“ und gibt heute zu: „Ich ließ mich damals nicht immer so beraten, wie es geboten gewesen wäre … Mein Führungsstil als Jesuit war noch voller Fehler.“
Die Amtszeit Bergoglios als Provinzial fiel zeitlich zusammen mit einer der traumatischsten Episoden in der Geschichte des Landes, dem sogenannten Schmutzigen Krieg, der nach dem Militärputsch von 1976 das ganze Land zerriss. Die folgenden sieben Jahre wurde Argentinien von einer rechtsgerichteten Diktatur unterjocht; Todesschwadronen terrorisierten die Nation und Zehntausende von Bürgern „verschwanden“. Nach außen gab sich die Junta katholisch, und viele Kirchenobere kollaborierten offen mit der Junta. Nur wenige verweigerten sich. Einer der argentinischen Bischöfe, der sich gegen die Regierung wandte, wurde bei einem Autounfall getötet.
Wenn es so etwas wie einen dunklen Fleck auf der Weste Bergoglios geben sollte, dann ist es sein Verhalten in dieser Zeit. Als Provinzial hatte er weit weniger Macht inne, als dies ein Bischof hatte, und das öffentliche Aufbegehren gegen die Junta hätte ihn womöglich das Leben gekostet. Seine Verteidiger argumentieren, dass er hinter den Kulissen sehr effektiv agiert habe und Hunderte von bedrohten Bürgern als Jesuitenseminaristen unter seine Fittiche nahm und sie außer Landes brachte, womit er auch sein eigenes Leben riskiert habe. Kritiker aber werfen ihm vor, dass er sich der Verhaftung und der anschließenden Folter zweier jesuitischer Aktivisten mitschuldig gemacht habe, mit denen er sich zuvor gestritten hatte. Bergoglio hat diese Anschuldigungen vehement zurückgewiesen und bestand darauf, dass er „alle Hebel in Bewegung gesetzt habe“, um ihre Freilassung zu bewirken. Einer der beiden Priester aber, Orlando Yorio, schrieb später ein Buch, in dem er behauptete, dass es Bergoglio gewesen sei, der der Junta den Tipp gegeben hatte, wo er zu finden war; er starb 2000. Der andere Priester, Francisco Jalics, widerspricht Yorios Darstellung. Jalics traf sich im Oktober mit dem Papst in Rom und sie feierten gemeinsam die Messe. Elisabetta Piqué, die den größten Teil ihres beruflichen Lebens damit verbrachte, über Kriege zu berichten, glaubt Jalics und hält die Affäre für einen „großen Schwindel“: „So viel ist heute klar – Bergoglio hat ein reines Gewissen und ist mit sich selbst im Frieden. Er tat, was immer er konnte.“
Zur selben Zeit breitete sich die Befreiungstheologie in Lateinamerika aus. Ihr marxistischer Fokus auf den Klassenkampf und die offenen Aufrufe zur Revolution – einige Priester griffen selbst zu den Waffen und schlossen sich Gruppen wie den Sandinisten an – erschütterte die katholischen Traditionalisten. Der Vatikan unter dem damaligen Papst Johannes Paul II. bezeichnete die Befreiungstheologie als Häresie und bemühte sich, sie so gut es ging, zu unterdrücken (was in vielen Ländern von der CIA unterstützt wurde). Vallely berichtet in seiner Biografie davon, dass Bergoglio der Befreiungstheologie zu Zeiten des Schmutzigen Krieges ebenfalls kritisch gegenüberstand, auch wenn ihr Geist sein eigenes Pontifikat bereits jetzt beeinflusst hat, wie es „Evangelii Gaudium“ deutlich verrät. Ob er mit seiner Haltung damals auf Druck aus Rom reagierte, wie es gute jesuitische Tradition war, oder ob es die Sorge war, dass radikale Aktivitäten einzelner der ihm unterstehenden Priester den ganzen Orden ins Visier der regierenden Junta gerückt hätte: Was immer seine tatsächlichen Gefühle damals gewesen sein mögen, seine heutigen Gefühle machte er im vergangenen September klar, als er den Gründer der Bewegung, den peruanischen Priester Gustavo Gutiérrez, zu sich in den Vatikan einlud.
Bergoglios von ihm selbst so beschriebene „autoritäre“ Amtszeit endete in der Verbannung. Nachdem seine Zeit als Provinzial vorbei war, erhielten seine neuen jesuitischen Vorgesetzten so viele Beschwerden über seine schwierige Persönlichkeit, dass man ihn auf einen neuen Posten in Córdoba versetzte, fast 650 km entfernt. Dort, so schreibt Vallely, grübelte Bergoglio vor sich hin und fühlte sich an den Rand gedrängt und erniedrigt. Kollegen, denen er sich entfremdet hatte, erkannten ihn kaum wieder, als er 1992 in die Hauptstadt zurückkehrte. Die Zeit in der Isolation hat Bergoglio reifen lassen, sie machte ihn zugleich auch weicher und offener. Sechs Jahre später, 1998, wurde er Erzbischof von Buenos Aires. In einem Vorgriff auf seine Zeit als Papst verwarf er viele der bisher üblichen äußeren Zeichen seines Amtes. Er fuhr mit dem Bus ins Büro, wohnte in einem einfachen Appartement und kochte sich am Wochenende seine eigenen Gerichte. Ein Journalist fragte ihn einmal, ob er denn ein guter Koch sei und Bergoglio antwortete: „Nun, keiner ist von meinem Essen je gestorben.“ Außerdem bat er damals Freunde, für ihn CDs auf Kassette zu überspielen, weil er lediglich einen Kassettenrekorder besaß.
Schon damals galt ein Großteil seiner Aufmerksamkeit den Menschen, die nichts besaßen. Er wanderte durch die schlimmsten Gegenden der Stadt, küsste die Füße von AIDS-Kranken in einem Hospiz; nahm Prostituierten auf Parkbänken die Beichte ab; verkleidete sich mit einem Poncho, um unerkannt an einer Prozession in einem Armenviertel teilzunehmen; und er stellte sich offen gegen Drogenhändler, die einen seiner Priester bedroht hatten. Gerry O’Connell, Ehemann von Elisabetta Piqué und selbst Journalist, der für die Zeitung „La Stampa“ über den Vatikan berichtet, erinnert sich an einen Besuch beim Erzbischof, kurz nachdem Bergoglio das Amt übernommen hatte. Der „große Besprechungsraum“, in dem vorangegangene Amtsträger ihre Besuche empfangen hatten, war nun bis oben hin vollgestellt mit Kisten voller Kleidung und Essen für die Armen. „Es war unglaublich – er hatte das zu einem Lagerraum gemacht“, erzählt O’Connell.
Bergoglios Aufstieg ins höchste Amt der Kirche in Argentinien fiel zusammen mit einer nationalen Krise, die unauslöschliche Spuren bei ihm hinterlassen haben: Im gleichen Jahr, in dem er Erzbischof wurde, wurde Argentinien von einer brutalen Rezession getroffen, eine Situation, die noch verschlimmert wurde, als der Internationale Währungsfonds die Regierung zwang, strenge Sparmaßnahmen zu treffen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung fand sich plötzlich in Armut wieder; ein Maß an Elend traf das Land, von dem man sich andernorts keine Vorstellung machen kann. Unruhen brachen aus. Paco, eine crack-ähnliche Droge, die aus billigen Kokainresten und Zusätzen wie Schwefelsäure, Rattengift und Kerosin hergestellt wird, überschwemmte die Slums. Erst 2003 verbesserte sich die Lage langsam, als die Regierung beschloss, den Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds nicht mehr nachzukommen, die von Globalisierungskritikern immer als Knebelvertrag gesehen worden waren, mit dem die Souveränität von Entwicklungsländern unterminiert werden sollte. Das war ein Schritt, der von Bergoglio sicher aufmerksam verfolgt wurde, sollte er doch später in seinem „Evangelii gaudium“ schreiben: „Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen.“ Und zur Vergötterung des freien Marktes sagt er: „Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt.“
Was die Akteure des weltweiten Kapitalismus den Menschen aufzwingen, lässt niemanden unberührt – nicht mal jemanden, der sich von Berufs wegen mit dem Mystischen beschäftigt. Und so erklärt es sich, dass die „Besessenheit“, die die Kirche bei Themen wie der Homo-Ehe und Geburtenkontrolle an den Tag legt, schnell wie ein Problem der wohlhabenden 1. Welt erscheinen kann. Obwohl vordergründig orthodox, scherzte Bergoglio einem Freund gegenüber über Kirchenmänner, „die die ganze Welt am liebsten in ein Kondom stecken würden“. Auch die argentinische Präsidentin Cristina Fernández Kirchner und ihren verstorbenen Ehemann (und Vorgänger) Néstor Kirchner hatte er sich zu Feinden gemacht, als er sie beschuldigte, sich zu wenig um die Armen zu kümmern und die Korruption im Land anprangerte. Eine der vielen diplomatischen Depeschen, die im Zuge von WikiLeaks öffentlich gemacht wurden, bezeichnete Bergoglio deshalb als einen „Führer der Opposition“.
Piqué meint, dass Bergoglio für die Kirchners einen willkommenen Gegenpart bildete. Schließlich gab es „keine wirkliche Opposition in Argentinien, deshalb war es nützlich, einen Feind zu haben, über den gesprochen werden konnte.“ Nach Piqués Meinung brachte Cristina Kirchner in ziemlich schlauer Weise eine Initiative zur Homo-Ehe auf den Weg, um die Opposition zu spalten. Hinter den Kulissen arbeitete Bergoglio an einem Kompromiss, der auf so etwas wie eingetragene Partnerschaften hinausgelaufen wäre, doch schaffte er es nicht, die konservativen Bischöfe zu überzeugen. Als dann ein privater Brief von ihm öffentlich gemacht wurde, in dem er die Homo-Ehe als „völlige Abkehr von den Gesetzen Gottes“ bezeichnete, war sein Bild beschädigt, obwohl, wie Vallely es vermutet, der Brief einzig zu dem Zweck verfasst wurde, Unterstützung bei den konservativen Bischöfen zu erlangen. Marcelo Márquez, Schwulenaktivist aus Buenos Aires, schrieb Bergoglio einen wütenden Brief – und erhielt eine Stunde später einen Anruf von Bergoglio: „Er hörte sich meine Ansichten sehr respektvoll an“, erzählte Márquez der „New York Times“. Sie trafen sich bei zwei Gelegenheiten. Márquez berichtete dem zukünftigen Papst von seinen Hochzeitsplänen und kehrte mit einem Geschenk zurück: einer Ausgabe von Bergoglios Biografie.
Am 27. Februar vergangenen Jahres flog Bergoglio nach Rom (er bestand auf Economy, obwohl der Vatikan ihm ein 1.-Klasse-Ticket geschickt hatte) und checkte in einem spartanischen Hotel ein (60 Euro die Nacht, inklusive Frühstück), in dem ansonsten meist Priester unterkamen. Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass das Papstamt etwas war, nach dem Bergoglio aktiv gesucht oder auf das er sich auch nur mental vorbereitet hatte. In einem privaten Gespräch soll er später geäußert haben, dass er in Rom nur mit „den absolut notwendigen Kleidungsstücken“ angekommen sei. „Ich hatte doch keine Chance! In den Londoner Wettbüros rangierte ich an 44. Stelle, das muss man sich mal vorstellen. Der, der auf mich gewettet hat, muss richtig viel Geld gewonnen haben.“
Als das Konklave begann, gab es drei Favoriten, erzählt Reese, der über das Event für den „National Catholic Reporter“ berichtete. Bergoglio war nicht unter ihnen. Nahezu jeder Vatikan-Experte nahm an, dass – auch wenn er im Konklave von 2005 nur knapp hinter Ratzinger gelegen hatte – Bergoglio nicht ernsthaft in Betracht kommen würde. „Wenn sich alle um einen anderen Kandidaten geschart hätten, wäre alles vorbei gewesen“, sagt Reese. „Das Problem war, dass jede Gruppe die anderen beiden hasste.“ Aus diesem Grund konnte keiner der drei konkurrierenden Kandidaten eine Mehrheit bei den anderen gewinnen, weshalb sich schließlich alle dafür entschieden, auf einen Außenseiter zu setzen.
Als Bergoglio schließlich als Sieger feststand, zuckte die Weltpresse nur mit den Schultern. Ein Weißer mit europäischen Wurzeln, in seinen späten Siebzigern – was für eine radikale Wahl! In der „Washington Post“ war zu lesen: „Die Bescheidenheit Franziskus‘ trifft sich mit einem unbeirrbaren Konservatismus, der ihn in die Nähe Benedikts rückt.“ Im Online-Magazin „Slate“ war unter der Zeile „Warum Franziskus zu einem katholischen Albtraum werden könnte“ zu lesen, dass das neue Pontifikat „bloß ein weiteres in der langen Liste mittelmäßiger Amtszeiten“ zu werden verspräche. Außerdem wurde spekuliert, dass „ein alter Papst, der keine Ahnung hat, an welche Ämter und Amtsträger im Vatikan die Axt angelegt werden müsste, noch leichter zu ignorieren“ sei als vor ihm Benedikt.
Selbst innerhalb des Vatikans wusste niemand so recht, was auf ihn zukommen würde. „Ironischerweise ging ich zunächst davon aus, dass er sich als PR-Desaster herausstellen würde, schon weil er dafür bekannt war, ungern Interviews zu geben“, erzählt Greg Burke, ein erfahrener, früherer „Fox News“-Reporter, der von Benedikt angeheuert worden war, um die PR-Arbeit des Heiligen Stuhls nach dem VatiLeaks-Desaster wieder auf Vordermann zu bringen. Aber der gewohnte Zynismus der Medien schmolz schnell angesichts der neuen päpstlichen Erscheinung. Franziskus kümmerte sich selbst um die Kündigung seiner Zeitungsabonnements, rief ohne Vorwarnung bei Leuten an, die ihm Briefe geschrieben hatten und sagte nette Dinge über Atheisten. So unwahrscheinlich dieses Drehbuch nur sechs Monate zuvor noch geklungen hätte, bemächtigte es sich nun auch der säkularen Medien: Vom „coolen Papst Franziskus“ war nun die Rede, wie es der Klatsch-Blog „Gawker“ formulierte). Aber all dieser Charme verdeckt auch Franziskus‘ Geschick und – sollte es die Situation erfordern – seine Skrupellosigkeit, wenn er sich ein Ziel gesetzt hat. Piqué nennt ihn einen „Instinktpolitiker“ – und in den vergangenen zehn Monaten hat sich Bergoglio tatsächlich als sehr durchsetzungsfähig erwiesen, wenn es darum ging, autoritäre Strukturen aufzubrechen.
Im Juli verbot Franziskus den traditionalistischen „Franziskanern der Immakulata“, die Lateinische Messe abzuhalten, und leitete eine Untersuchung ihrer Finanzen ein. Einige sahen darin eine direkte Spitze gegen seinen Vorgänger Benedikt, hatte jener doch die Restriktionen gegenüber solchen Ultratraditionalisten gelockert. Franziskus‘ Verachtung für diese Gruppen stammt noch aus seiner Zeit in Buenos Aires, wo die Führer eines von Benedikt protegierten Ordens die Militärjunta gepriesen hatten; ein anderes Ordensmitglied sollte sich später als Holocaustleugner entpuppen. Einige italienische, dem Orden nahestehende Journalisten sahen die Entscheidung des neuen Papstes als „Schlag ins Gesicht“ und unterstellten ihm: „Das neue Pontifikat liebt wohl die Kameras und genießt es, im Rampenlicht zu stehen.“ Gegen Ende des Jahres hatte Franziskus das Seminar der Brüder aufgelöst und ihnen die Erlaubnis zur Ordination von Priestern entzogen. Der von ihm eingesetzte Leiter der Untersuchung warf dem inzwischen in eine kirchlich geführte Privatklinik verbannten Gründer und Leiter des Ordens vor, „einen Personenkult“ zu betreiben.
Auch das Kardinalskollegium, in dem die Italiener traditionell überrepräsentiert sind, wird von Franziskus einer grundlegenden Reform unterzogen. Bei der ersten Runde von Neuernennungen finden sich Kardinäle aus Haiti, Nicaragua und von der Elfenbeinküste; von den insgesamt 16 Ernannten stammen 9 aus Asien, Lateinamerika und Afrika. Kardinal Tarcisio Bertone, der unter Benedikt noch das Amt des Kardinalstaatsekretär innehatte und in den VatiLeaks-Dokumenten als einer der Hauptbeteiligten an den Machenschaften im Vatikan zutage getreten war, hatte dagegen konservative Kardinäle wie Guido Pozzi und Mauro Piacenza favorisiert.
Selbst einfache Gesten, wie der Verzicht auf das Wohnrecht im päpstlichen Palast, weisen bei Franziskus über das bloß Symbolische hinaus. „Der Hauptgrund, aus dem er dort nicht wohnen wollte, war seine Autonomie“, meint dazu ein vatikanischer Geistlicher, der bereits mit mehreren Päpsten eng zusammenarbeitete. „Im Palast können sie alles kontrollieren, was dich erreicht.“ Jetzt, da Franziskus‘ Tage meist einem vorhersehbaren, immer gleichen Ablauf folgen – frühes Aufstehen und Gebet; Morgenmesse; Empfang von Würdenträgern und Staatsoberhäuptern; gelegentliche auswärtige Termine, etwa beim Besuch von Krankenhäusern und Kirchen – erlaubt ihm dieser Freiraum, den er sich selbst geschaffen hat, ein zuvor nicht gekanntes Maß an Unabhängigkeit. Während vorangegangene Päpste noch detaillierte öffentliche Zeitpläne führten, notiert sich Franziskus alle seine Termine handschriftlich in seinen privaten Taschenkalender. „So etwas hat es nie zuvor gegeben“, meint dazu einer der erfahrensten Vaticanisti, der aber nicht genannt werden möchte, und er fügt hinzu: „Assistenten, die normalerweise genau wissen, was auf dem Programm steht, müssen nun erst mit anderen Personen sprechen, um herauszubekommen, wie eigentlich die Agenda ist. Er geht wirklich sehr frei mit seiner Zeitplanung um.“
Selbst Macht, die vom Prinzip her absolut ist, kennt doch ihre Grenzen, zumindest an einem Ort, der für seine Palastintrigen berüchtigt ist wie der Vatikan. Menschen, die ihr ganzes Leben an der Kurie verbringen, ähneln noch immer mittelalterlichen Höflingen; sie sind es gewohnt, sich anzupassen, da sie sich sicher sind, jeden neuen Amtsträger zu überdauern. „Solange man sich nicht an die Kultur des Vatikans herantraut, wird es nun einfach heißen: ‚Ach, wir machen jetzt mal etwas mit mehr Bescheidenheit und Einfachheit? Kein Problem‘, aber ändern wird sich nichts“, meint der vatikanische Geistliche. Seiner Meinung nach kann eine Reform nur dann von Bestand sein, wenn es Franziskus gelingt, „den Vatikan und die Italiener voneinander zu trennen“. Die Italiener dominieren noch immer die obersten Ränge der Kardinäle und bilden zugleich den allergrößten Teil der knapp 3000 Laien, die im Kirchenstaat mit den alltäglichen Geschäften befasst sind. „Wenn es einem ernst damit ist, die Kultur der Verschwiegenheit und der undurchdringlichen Bürokratie zu beenden“, meint der Geistliche, „dann will man sicher nicht, dass die Italiener darin eine Rolle spielen.“
Dies aber wird keine einfache Aufgabe sein. Selbst wenn man die typischen italienischen Klischees einmal beiseite lässt, so verstehen es Bürokraten jeglicher Herkunft, Wandel zu verlangsamen, sei es durch „Verzögerungen, unzustellbare Briefe und anderes“, wie der Insider aufzählt. „An die oberen Etagen der Bürokratie ist es leichter heranzukommen; aber die unteren sind es, die die wahren Probleme bereiten, weil bei ihnen der Hebel viel schwerer umzulegen ist. Hier wird niemand einfach so gefeuert. Und auch dieser Papst wird nicht einfach hereinplatzen und mit dem Jäten anfangen. Die haben hier ja noch nicht einmal den Butler gefeuert!“ (Und das ist wahr. Der Butler, der mit seinem Diebstahl die VatiLeaks-Affäre auslöste, wurde begnadigt und arbeitet heute wieder im Vatikan, in einem Kinderkrankenhaus.)
Und noch etwas fügt der Geistliche hinzu: „Die Kurienbürokratie wartet ab, was passieren wird. Ich habe bereits Leute flüstern hören: ‚Okay, wann läuft das hier alles wieder normal?‘ Aber bis jetzt ist das eben noch nicht eingetreten. Diese Unsicherheit ist etwas Gutes. Ich habe den Vatikan als Gebilde nie ganz verstanden, aber jetzt verstehen alle anderen ihn auch nicht mehr.“ Und John Thavis, Autor von „The Vatican Diaries“, fügt hinzu: „Ich berichte seit 30 Jahren aus dem Vatikan, und die Reaktion der alten Garde auf diesen neuen Papst war die wohl am wenigsten enthusiastische, die ich jemals beobachten konnte. Ihnen wird bewusst, dass sie das Spiel nicht mehr kontrollieren.“ Andere Angestellte sind in ihrer Einschätzung noch weniger zurückhaltend. „Einige der wichtigeren Kardinäle halten ihn sogar für gefährlich und vermuten, dass er nicht wisse, was er tut“, schließt der Geistliche. In den kommenden Monaten wird Franziskus sich weiter mit den acht Kardinalen beraten, die er ernannt hat, um eine Reform der Kurie auszuarbeiten. Eine andere Kommission, die er eingesetzt hat, soll ihn im Umgang mit dem Problem der Pädophilie beraten, wobei Präventivmaßnahmen ebenso diskutiert werden wie die Hilfe für die Opfer. Unabhängige Experten wurden berufen, die die Geschäfte der Vatikanbank unter die Lupe nehmen sollen, in der Franziskus bereits mehrere Funktionsträger von ihrer Aufgabe entbunden hat. Und wenn sich die Bischöfe im Herbst zu ihrer nächsten Synode treffen, bei der das Thema Familie im Mittelpunkt stehen wird, werden sie sich auch mit einem Fragebogen auseinandersetzen müssen, der auf Anordnung des Papstes in katholischen Pfarreien an die Gläubigen verteilt wurde. Mit ihm soll ein Stimmungsbild zu Fragen wie der der gleichgeschlechtlichen Ehe, Scheidung und Verhütung erstellt werden. Für eine zutiefst hierarchisch geprägte Organisation wie die katholische Kirche ist ein solcher Schritt zu mehr Demokratie ein sehr großer – und könnte sich als epochemachend erweisen.
An meinem letzten Sonntag in Rom kehrte ich in den Vatikan zurück, um am wöchentlichen Angelus teilzunehmen, einem kurzen Gebet, das von einem Fenster des Apostolischen Palastes gesprochen wird. Vor dem Petersplatz verkaufen Straßenhändler alles Mögliche – von Führungen durch die Sixtinische Kapelle bis zu Airbrush-Bildern von Tupac, Bob Marley und dem Papst. Ich frage einen der Händler, einen großen, kahlrasierten Mann aus Belize, ob die gewachsenen Menschenmengen seit der Wahl des neuen Papstes gut fürs Geschäft seien. Er blickt finster drein und schüttelt den Kopf, um dann in perfektem, nach längerem Aufenthalt in New York City klingendem Englisch zu antworten: „Nein, absolut nicht. Dieser Kerl spricht doch nur über die Armen, und deshalb kommen wohl diese ganzen armen Touristen aus Ländern wie Argentinien. Die haben doch kein Geld, diese Leute! Als Ratzinger noch Papst war, kamen die Deutschen busweise. Die waren organisiert, die gaben Geld aus! Heute wollen alle Rabatte haben.“
Heute finden sich auf dem Petersplatz besonders viele Familien, deren Kinder bambinelli, kleine Figuren des Jesusbabys in den Händen halten. Denn der Papst wird heute die Krippenfiguren einsegnen. Drei Nonnen im Habit gelingt es, sich ganz nach vorne zu drängeln, wie schlaue Mädchen bei einem Rockkonzert.
Schließlich erscheint der Papst am Fenster und hält eine winzige Figur von der Größe einer Mandel in die Luft. „Fratelli e sorelle, buongiorno“, sagt er und segnet uns und unsere Baby-Jesusse, seine Stimme hallt aus versteckten Lautsprechern wider, was sie fast göttlich erscheinen lässt. Gegen Ende des Gebets beginnt es zu regnen – anfangs ist es nur ein leichtes Nieseln, aber dann öffnen sich alle Schleusen im Himmel und es prasselt auf uns nieder. Gegen Ende des Gebets weicht der Papst von seinem Skript ab und sagt uns, wie traurig er ist, dass er nicht bei uns unten auf dem Platz sein kann bei dem schrecklichen Wetter. Und er scheint das wirklich ernst zu meinen.
Ob er wohl einsam ist dort oben? In seinem Buch beschreibt Vallely einen Mann, der, wenn er nicht gerade unter Menschen ist, ein sehr zurückgezogenes, mönchähnliches Leben führt, in dem er „sich um sein inneres Leben sorgt; ein gesellschaftliches hat er eigentlich gar nicht“. So beschreibt ihn zumindest einer seiner engsten Mitarbeiter aus der Zeit in Buenos Aires, der noch hinzufügt: „Wenn Sie Freundschaft so definieren, dass man zusammen Spaß hat, dann hat er keine Freunde. Freundschaft ist eine symmetrische Beziehung. Seine Beziehungen sind nicht so. Leute mögen glauben, dass sie mit ihm befreundet sind, aber er geht nicht zu ihnen nach Hause zum Abendessen.“
Unten, auf dem regennassen Platz, bejubelt die Menge ihren neuen Freund, den „coolen Papst Franziskus“, bis dieser entschwindet in die Mysterien der geheimnisvollen Stadt, über die er nun herrscht. Ich erinnere mich an einen anderen Moment bei der Pressekonferenz im Flugzeug, als ein Reporter Franziskus unbedingt auf seine Haltung zu Abtreibung und Homo-Ehe festnageln wollte. „Und was denkt Seine Heiligkeit über diese Themen?“ Wie sich der Papst darauf um eine klare Antwort kunstvoll herumdrückte, hatte schon wieder etwas von Bill Clinton: „Das, was auch die Kirche darüber denkt“, sagte er nur. „Ich bin ein Sohn der Kirche.“
Was er nicht hinzufügte, war, dass er nun auch ihr Vater ist.