Unfrieds Urteil: Wir sind nicht die Deutschen, die wir dachten
Neben der täglichen Bewältigung der Flüchtlingslage muss sich Deutschland einem zweiten Problem stellen. Wir haben keine sauberen Autos, hatten keine saubere WM, kriegen weder einen Flughafen noch einen Bahnhof richtig hin. Wer sind wir – und wer wollen wir sein?
In der ganzen Aufregung um die Flüchtlingslage und -politik wird leicht übersehen, dass grundsätzlich weitgehende Einigkeit bei Union, SPD und auch Grünen besteht. Auch darüber, dass die Zahl der täglich in Deutschland ankommenden Flüchtlinge demnächst zurückgehen muss.
Deutschland, ein offenes und gleichzeitig die eigenen Grenzen respektierendes Land, inklusive der Fähigkeit zur Ausübung von Kontrolle. Das ist weiterhin das Modell, das mehrheitsfähig ist.
Es weiß nur keiner, wie man das anstellt.
In der Union gibt es zwei Modelle. Das ursprüngliche Modell von Kanzlerin Merkel arbeitet in der Tendenz ohne Abschreckung, weil es davon ausgeht, dass das eh nichts bringt. Das andere Modell sieht Abschreckung als Reduzierungsfaktor. Nichts anderes ist Bundesinnenminister Thomas de Maizieres Begrenzungsidee, syrische Kriegsflüchtlinge dadurch zu stoppen, dass Familien nicht automatisch nachkommen dürfen.
Mit einer Grünen-Heldin Merkel reicht es mathematisch nicht mehr
Beim Koalitionspartner SPD versucht sich Vizekanzler Gabriel an dem unmöglichen Doppeljob, einerseits als Teil der Regierung die Sache von Tag zu Tag einigermaßen hinzukriegen. Und andererseits eine Kanzlerkandidatur der langjährigen 25-Prozent-Partei vom Illusorischen in den Bereich des Möglichen zu verschieben. Wobei auch noch beide Teile der Partei bedient werden müssen: Der linksliberale Lehrer, der Flüchtlinge begrüßt und neuerdings Merkel gut findet. Und der auch gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, der neue Konkurrenz fürchtet.
Und bei den Grünen muss man mit einem Paradoxon der Wirklichkeit leben: Je näher ihnen und ihren Werten Merkel kommt, desto unwahrscheinlicher wird Schwarz-Grün. Das ist die einzige Regierungsoption der Grünen für 2017. Mit einer Grünen-Heldin Merkel reicht es schlicht mathematisch nicht mehr, weil die CDU zu viele anti-grüne Wähler verliert.
Neben der Bewältigung der täglichen Realität gibt es aber noch eine zweite zentrale Aufgabe: Wir sind in einer Situation, in der Deutschland als Teil der EU und der Welt neu gedacht werden muss. Der Klimawandel und die Digitalisierung verändern alles. Das sagt man so. Und dann geht man seiner üblichen Wege. Die Prozesse scheinen so langsam, dass man darauf wohldurchdacht reagieren könnte. Aber man tut es nicht, weil sie so langsam zu sein scheinen. Das ist die Crux der Gegenwart. Die sich dynamisierende globale Flüchtlingssituation ist nur ein Teilaspekt der sich entwickelnden globalen Prozesse – und doch wirkt sie sehr viel stärker auf die Gesellschaft und die Politik ein. Das liegt daran, dass sehr viele Menschen diese Dynamik persönlich, unmittelbar und emotional erleben. Das eröffnet die Chance, grundsätzlich zu sprechen.
Das kann schief gehen. Aber versuchen muss man es.
Hans Ulrich Gumbrecht ist der deutsche Intellektuelle, der das Land von Stanford und dem kalifornischen Silicon Valley aus seziert. Er hat soeben einen großen Gedanken herübergeworfen. Deutschland sei wieder an dem Punkt, an dem sein Selbstbild nicht mehr trage – wie 1977, nach dem „Deutschen Herbst“ und dem Freitod der RAF-Terroristen im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Damals folgte ein gesellschaftlicher und diskursiver Modernisierungschub, unter anderem durch die Gründung einer neuen Partei (Die Grünen) und einer neuen überregionalen Zeitung (die taz).
Wir liefern Waffen, wohin immer sie gebraucht werden
Und heute? Trägt jenes Bild nicht mehr, in das wir uns in der Folge der WM 2006 fast narzisstisch verliebt haben. Es ist ein blütenweißes Selbstbild eines Landes, das als einziges weltweit seine Weltmeisterschaften nicht durch Bestechung ins Land holt, in dem nur ökologische Autos fahren und in der Konsequenz von 1933-45 stets die Ethik und die Moral das Handeln bestimmen.
Gut, wir liefern Waffen, wohin immer sie gebraucht werden, aber das sind ja alles erwachsene Menschen. Wir selbst setzen sie nicht ein, auch nicht zur Rettung von verfolgten Menschen vor dem Tod. Wir operieren mit moralischer Vollautorität, und warten, dass die USA sich „engagieren“, um sie nachher dafür ethisch zu verdammen. Wir verfolgen, seziert Gumbrecht süffisant, keine schnöden „nationalen Interessen“. Sondern nur hehre Menschheitsanliegen.
Aber nun kommt eines zum anderen: Die deutschen Vorzeige-Institutionen DFB und VW sind nicht so sauber, wie wir sie imaginiert haben. Ob nun der abgetretene VW-Chef Winterkorn wusste, dass sein Laden den Autokäufer betrügt oder die Lakaien es aus Angst vor seinem Zorn gemacht haben: Beides entspricht nicht dem Selbstbild einer intelligenten deutschen Unternehmensführung.
Und dass wir geglaubt haben, unser Beckenbauer überzeuge alle Leute weltweit wegen seines erratischen Dampfgeplauders so sehr, dass sie uns die WM aus Begeisterung schenken? Das spricht nicht gerade für unsere Intelligenz. Gar nicht davon zu reden, dass wir offenbar weder einen vernünftigen Flughafen (Berlin), noch einen vernünftigen Bahnhof (Stuttgart), noch eine vernünftige Philharmonie (Hamburg) planen können. Und was die Dynamik der Flüchtlingslage angeht, so hat die Bundesregierung über Monate alle Warnungen aus den Bundesländern ignoriert, die Zuschüsse für die syrischen Flüchtlingslager um die Hälfte gekürzt, und damit die Lage verschärft und die Vorbereitung verschlafen.
Kurzum: Auch die berühmte deutsche Rationalität und Planungskompetenz haut hinten und vorn nicht mehr hin. Der naheliegende Kurzschluss wäre demnach, dass wir in der Flüchtlingsfrage auf unser Herz setzen, weil das Hirn fehlt. Aber Herz ohne Hirn, das kann nicht funktionieren. Hirn ohne Herz, das kann nicht reichen, wenn man eine dermaßen privilegierte Gesellschaft ist.
Es braucht „Humanität und Rationalität“, wie Schleswig-Holsteins Vize-Ministerpräsident Robert Habeck ethische Sensibilität unter den Bedingungen der Wirklichkeit nennt.
Aber was bedeutet das?
Es gibt keine kollektive deutsche Identität
Das rechte und rechtspopulistische Denken geht von einem völlig falschen Punkt aus: Der Annahme, es gebe 2015 für uns EU-Bürger etwas „Deutsches“ jenseits der geografischen und ökonomischen Privilegierung, das es zu verteidigen gelte. Mit allem Respekt: Selbst Goethe ist kein Teil der real existierenden Gegenwart mehr. Thomas Mann sowieso nicht. Das linksliberale Fühlen irrt genauso, wenn es universale Moral als Maßstab für die reale deutsche oder gar europäische Gesellschaft nimmt. Man kann die Flüchtlingslage „vor Ort“ nicht lösen, wenn man sich nicht vor Ort die Hände schmutzig macht.
In diesen Tagen wird uns in Gumbrechts Sinne klar, wer wir nicht sind. Wir sind nicht die, die wir dachten, dass wir sind. Nun geht es darum zu klären, wer wir sein wollen und wer wir sein können. Aber das geht nur als Europäer, mit den anderen EU-Ländern. Die Erkenntnis, dass es in der pluralen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts keine kollektive „deutsche“ Identität geben kann, ist der erste Schritt in die Zukunft.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de