Unfrieds Urteil: Warum Angela Merkel der Politiker des Jahres ist
Nach zehn Jahren hat die Bundeskanzlerin die Gesellschaft 2015 erstmals nicht eingeschläfert, sondern mit ihrer Flüchtlingspolitik in Bewegung gebracht. Nun ist die Frage: Was machen wir draus?
Sie schämten sich mal wieder rechtschaffen. Für die ganzen anderen, die an der Flüchtlingssituation und überhaupt der Schlechtigkeit der Welt schuld sind. Speziell die von der CSU. Aber wann immer beim Parteitag der Grünen der Name Angela Merkel fiel, brandete Beifall in der Halle auf. Man darf mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen: Wäre die Bundeskanzlerin Ende November statt zur CSU zu den Grünen gegangen – sie wäre gefeiert worden. Und danach in der Union wirklich erledigt gewesen.
Angela Merkel mag am Ende dieses Jahres in ihrer eigenen Partei CDU geschwächt sein. Für mich ist sie der Politiker des Jahres 2015. Ich sage nicht „Politikerin des Jahres“, weil das eine unangemessene Reduzierung auf das Geschlecht beinhalten würde. Merkel ist nicht deshalb herausragend, weil sie es endlich eingesehen hat und eine Flüchtlingspolitik betreibt, die dem Wahren, Schönen und Guten dient. Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass Merkel sich auch bei der Flüchtlingspolitik im Jahre 2015 an ihren Grundsätzen politischen Handelns orientiert hat.
Aber sie hat dieses Mal die Gesellschaft nicht eingeschläfert, sondern in Bewegung gebracht. Das ist riskant, aber notwendig.
Noch ist unklar, ob der neue Respekt der Linksliberalen und speziell vieler Grünen-Wähler vor Merkel auf einem mehrfachem Missverständnis beruht. Sicher, es wird viel von postideologischem Zeitalter geredet, aber die gefühlsideologischen Mauern stehen immer noch. Die Annahme lautet, man selbst sei moralisch topp aufgestellt, die Union aber leider nicht. (Der kleine Koalitionspartner SPD wird meist ausgeblendet.) Daher Verachtung für eine a priori als menschenfeindlich rezipierte Politik. Zack, alles schlimm. Und damit ist aber auch alles gut, weil Weltbild bestätigt.
Bei der Flüchtlingsentwicklung auf europäischem Boden war das anders. Mit der Öffnung der deutschen Grenzen in der Ungarn-Krise zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe begann sich im konventionell-bipolaren Denken die Merkel-Einschätzung zu verschieben. Eins kam zum anderen, dann noch ihr Satz „Dann ist das nicht mehr mein Land…“ und plötzlich war die machtfixierte, opportunistische Laviererin und Aussitzerin Merkel für viele eine andere geworden. Eine „Gute“.
Gegen Abschottung, Nichtstun und „Obergrenzen“
Die entscheidende Frage ist nicht, wer Merkel wirklich ist. Sondern ob Merkel damit nach zehn Jahren im Amt die erstarrte Gefühlsideologie grundsätzlich aufgebrochen hat oder ob die Mauer schnell wieder hochgezogen ist, mit dem Hinweis auf ihre pragmatische Türkei-Politik, die militärische Solidarität mit Frankreich und eine zunehmende Integration der Wünsche ihrer innerparteilichen Gegner.
Angesichts der reduzierten Möglichkeit, tatsächliche Gestaltungspolitik machen zu können, betreibt Merkel eine „Politik des geringeren Übels“. Sagt zumindest der Philosoph Peter Sloterdijk.
Das heißt: In einer Realität, in der man meist nur zwischen mehreren Fehlern wählen kann, versucht sie das jeweils Geringste der Übel zu identifizieren. In der Flüchtlingspolitik bedeutet das, dass Merkel die Grenzöffnung, den Versuch, das mit einem deutschen Sonderweg zu managen, bis eine Einigung mit EU und Türkei hergestellt ist, als kleinstes aller Übel betrachtet. Für alle Beteiligten. „Obergrenzen“, wie Teile der CDU das beim kommenden Parteitag durchsetzen wollen, hält sie schlicht für irreal und untauglich, angesichts der faktischen Unmöglichkeit, eine globale Flüchtlingsbewegung durch Rückkehr zu sich isolierenden Nationalstaaten zu regeln, die alle so tun, als gehe sie das nichts an. Die so tun, als seien die Flüchtlinge das Problem und nicht das politische Desaster, das sie zu Flüchtlingen gemacht hat.
Um jetzt mal richtig pastoral zu werden: Wir ignorieren als Gesellschaft die Zukunft. Dafür haben wir Merkel gewählt. Und den Auftrag führt sie auch wacker aus, wie man anlässlich der Klimakonferenz in Paris wieder erleben kann. Aber Merkel hat mit ihrer Flüchtlingspolitik klar gemacht, dass sie zumindest nicht mehr ignorieren will, dass man die Gegenwart nur meistert, wenn man sich ihr stellt. „Abschottung und Nichtstun sind keine Optionen für das 21. Jahrhundert“, pflegt sie in diesen Wochen zu sagen. Teile der EU, Teile der CDU und der CSU wollen die Gegenwart ignorieren, ganz egal, ob man das kann oder nicht. Die Linkspartei ignoriert die Realität sowieso, das ist ihre Geschäftsgrundlage.
Merkel geht, zumindest verbal, die Gegenwart an – in ihrer Komplexität. She gets real.
Nun ist die Frage, ob die linke Mitte der Gesellschaft, die sich bisher in Abgrenzung zu Merkel und auch den unangenehmen Teilen der Realität definierte, das als Chance sieht und die Kanzlerin darauf verpflichtet. Und sich selbst auch. Eine Gesellschaft, die das Mehrheitsbedürfnis der Bewahrung unserer progressiven Errungenschaften mit der Anerkennung verbindet, dass nationalstaatlich nichts mehr zu gewinnen, ja nicht mal mehr zu denken ist. Im Wissen, dass der Realität mit Gesinnungsethik nur zu entfliehen ist, aber nicht beizukommen.
Der wirkliche Paradigmenwechsel, den Merkels Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 einleiten kann, ist keiner Richtung Superhumanität, aber immerhin in Richtung der Erkenntnis, dass sich einiges ändern muss, damit vieles gut bleiben kann. Merkel ist dabei nur eine Chiffre. Nun geht es darum, dass die Gesellschaft diese Chiffre produktiv für sich entschlüsselt.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de