Unfrieds Urteil: Pippi statt Boris Palmer? Was bei den Grünen schiefläuft

Während Bundeskanzlerin Merkel einen flüchtlingspolitischen EU-Kompromiss hinbekommen muss, damit Europa nicht zerbricht, empören sich Grüne über einen Grünen. Die Frage ist: Was hilft wirklich gegen rechte Hetze?

Der erste Anruf kam Samstag früh. Bebende Stimme. Ob man Boris Palmer im „Spiegel“ gelesen habe? Schlimm, oder? Ja, ich hatte das Interview gelesen. Komplett. Mehrfach. Die Anruferin aber nicht. Ihre resolut vorgetragene Meinung basierte auf Sekundärwissen.

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So geht das ständig. Leute verdammen Positionen, die sie vom Hörensagen kennen, über ein Facebook-Post oder eine verkürzte Agenturmeldung. Die Positionen gibt es so, wie sie es verstanden haben wollen, gar nicht. Egal. Auf Nachfrage sind sie nicht mal mehr bereit, das ganze Interview nachzulesen. Wozu, sagen sie. Ich meine, Boris fucking Palmer! Das brauche ich nicht lesen, da weiß ich doch schon alles.

Sie wissen nichts. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist, dass sie es nicht wissen wollen.
Wir reden nicht nur von Bürgern, wir reden von Politikern. Wenn man die Reaktionen von Palmers grünen Parteifeinden auf seine Aussagen zur europäischen Flüchtlingspolitik sichtet, fällt auf, dass sich die wenigsten inhaltlich damit beschäftigen. Bevorzugtes Mittel ist das argumentum ad hominem. Tenor: Palmer ist doch sowieso blöd und profilneurotisch und außerdem nur ein kleiner Tübinger Oberbürgermeister.

„Ponyhof“-Politikverständnis

Wenn man selbst einen wichtigen Posten in Berlin zu haben glaubt, aber keiner kennt einen und außer dem eigenen Lokalblatt ruft keiner an und in Talkshows sitzt auch noch dieser Palmer rum; da kann man schon mal so piefig werden, wie man es sonst immer den anderen unterstellt. Das ist menschlich. Aber es macht einen halt hässlich und geistig klein.

Vor allem ist es nicht politisch. Sicherlich ist es binnenklimatisch problematisch, von Tübingen aus „Pippi Langstrumpf“ und „Ponyhof“-Politikverständnis attestiert zu bekommen. Wenn man allerdings den empörten „offenen“ Antwortbrief einer Grünen-Bundestagsabgeordneten gelesen hat („Ich bin lieber Pippi als Boris Palmer“), dann kann man Palmer kaum mehr widersprechen. Der Brief der linken Grünen an den Realo offenbart eine erschütternde Mischung aus Zeigefinger-Sozialtherapie („Du solltest Dir schon Gedanken machen, wo Du stehst“) und Teenager-Tagebuch-Prosa („Ich kann nicht mit ruhigem Gewissen mein Bio-Gemüse essen, wenn hinter Europas Zäunen dann immer mehr Menschen, die vor Bomben fliehen und ihren Familien entrissen sind, hungern und leiden.“).

„Ich kann nicht mit ruhigem Gewissen mein Biogemüse essen“

Das Problem eines Teils der Grünen besteht darin, dass Palmer gefragt wird. Obwohl er nicht ihre Position vertritt. Und gefragt wird er, weil er nicht ihre quotierte Position vertritt, die sie jeweils in einem austarierten Links-Realo-Mann-Frau-Käfig zu vertreten haben. Sondern die eines von über 60 Prozent gewählten und für 100 Prozent verantwortlichen Oberbürgermeisters, dessen Einschätzung der Realität teilweise dem grünen Parteiprogramm widerspricht und eben auch dem, was wünschenswert ist.

Nur zur Sicherheit: Für „offene Grenzen“ gibt es in der EU keine Realität. Bundeskanzlerin Merkel (CDU) muss Ende der Woche versuchen, irgendeinen Kompromiss hinzubekommen, der eine europäische Lösung nicht völlig aus dem Bereich des Möglichen katapultiert – und eine gemeinsame Zukunft der EU nicht verspielt, um das mal zuzuspitzen.

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In der europäisch-politischen Realität ist die entscheidende Frage nicht, wer sein Biogemüse mit ruhigem Gewissen essen kann, sondern worauf man sich einigen kann. Jeder sieht die Welt anders, aber jeder denkt auch, er habe die logischen Argumente und sei der Gute. Sogar der Ungar. Mit Humanismus-Appellen erreicht man da überhaupt nichts, sondern nur mit Deals, von denen jeder etwas hat. Das gilt speziell für eine Vereinbarung mit der Türkei. Ohne Schutz der Außengrenze gibt es kein gemeinsames Europa, ohne gemeinsame EU-Strategie gibt es keine Lösung,
ohne die Hand der Türkei zu waschen, wird die Türkei nicht unsere waschen, so ist das.

Letztlich läuft alle Politik darauf hinaus, die Zahl der in die EU flüchtenden Menschen zu reduzieren. Das wollen auch die Grünen. Nur wollen sie ungern darüber reden, wie man das genau hinkriegt. Palmer hat das getan. Er beteiligt sich am Ringen um Lösungen. Und denkt dabei von den Wohnungen aus, die er für Flüchtlinge organisiert bekommen kann. Das ist einfach eine andere Sicht als ein lässiges „Eine Million jedes Jahr schaffen wir doch“ von oben.

Die Grünen sollten lernen, groß zu denken

Letztlich sagt Palmer nichts anderes als dass es eine europäische Lösung braucht, dass die deutschen Grenzen nicht geschlossen werden dürfen, weil das die EU zerstörte, dass aber die EU-Außengrenzen so geschützt (oder im anderen Denken: abgeschottet) werden müssen, dass eine kontrollierte Einwanderung möglich ist. Dass die Deutschen soviel aufnehmen, wie möglich und soviel wie alle anderen zusammen.

Würden die Grünen groß denken, würden sie souverän über seine Sticheleien hinweggehen und ihn strategisch so einsetzen, dass er die Partei größer macht und ihr Ringen um Lösungen sichtbar. Stattdessen stürzen sie sich auf ein oder zwei problematische Formulierungen, um ihn damit auszugrenzen und moralisch zu desavouieren. So wie sie das halt mit ihren Feinden zu tun pflegen.

Die nach Europas Zukunft zweite wichtige Frage ist doch in einer deutschen Gesellschaft, in der die sich radikalisierenden Ränder breiter werden: Was hilft wirklich dagegen?

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Hilft es, wenn die Co-Parteichefin Peter einem Grünen vorwirft, er spiele „rechten Hetzern in die Hände“? Das Gegenteil ist richtig. Die Anklage, demokratische Politiker mit Positionen, die einem nicht passen (reflexartig auf die CSU angewandt), seien auch AfD, ist demokratisches Gift. Palmers humanistisch teilweise harte, aber in der Sache differenzierte Lösungsüberlegungen – die immer von der Grundüberzeugung ausgehen, dass Flüchtlinge Opfer sind und nicht das Problem – können dazu beitragen, dass die Mitte nicht weiter bröckelt. Man kann es auch so sehen: Wenn Simone Peter und andere Funktionäre jetzt schon einen von einer grün-roten Mehrheit gewählten Politiker mit rechten Hetzern zusammen mixen, dann machen sie die AfD zur Volkspartei.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ uns schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

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