Unfrieds Urteil: Gekaufte WM, zerstörtes Sommermärchen – die Sehnsucht nach dem unpolitischen Fußball
War die WM 2006 gekauft? Fest steht: Franz Beckenbauer und Günter Netzer haben den Fußball in Deutschland zu dem gemacht, was er ist. Eine Massen-Unterhaltungsindustrie in den Händen einiger weniger. Wer das ändern will, muss die eigenen Bedürfnisse in Frage stellen
Es gibt hundertprozentig Leute, die auf dem Totenbett noch fluchen, dass der Ball beim dritten Tor der Engländer 1966 nicht hinter der Linie war. War er ja auch nicht. Aber keiner wird sterbend seufzen, dass die Vergabe der WM 2006 nach Deutschland eine Sauerei war und der DFB, die Uefa und die Fifa undemokratische Verbände sind, die den Fußball verraten. Selbst wenn das so sein sollte. Dieses Verhalten ist zwar nicht Teil der Natur des Menschen, wohl aber seiner eingeübten Kultur: Zweites wäre sicher wünschenswert, aber ersteres ist ihm wirklich wichtig.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich wollte früher mal die Sportberichterstattung revolutionieren. Da sagten mir selbst knallharte Linke: Lass mal gut sein, Junge. Wir haben soviel zu revolutionieren, beim Fußball wollen wir Spaß.
Das kann es ja wohl nicht sein. Aber man muss wissen, dass dies die mentale Grundlage ist auf der die Möglichkeit einer grundsätzlichen Demokratisierung des Fußballs verhandelt wird.
Der „Spiegel“ hat starke Indizien aneinandergereiht für die These, dass der DFB die WM 2006 gekauft hat. Selbst wenn das morgen tatsächlich bewiesen sein sollte und es eine allgemeine Empörung darüber gibt, bleibt die Frage, worauf die Empörung hinauslaufen soll. Und auch wenn man darauf keine Antwort hat, so muss man angesichts der desaströsen Gesamtsituation der großen Fußballverbände dennoch fragen: Wie sollte der DFB, sollten Uefa und Fifa verändert werden und welche Personen könnten als Protagonisten demokratische Kontrolle in diese Parallelwelt bringen? Gibt es die ernsthafte Skizzierung des Neuen nicht, springen ein paar als Sündenböcke über die Klinge. Deren Job übernehmen bewährte Mitläufer des praktizierten Modells. Und dann läuft das Geschäft weiter wie bisher.
Fußball ist ein komplett undemokratisches System
Die Traditionalisten, die Nostalgiker, die apolitischen Romantiker, die ganzen Kindsköpfe, die sich mit Fußball gegen die Zumutungen des Erwachsenseins wehren, sie sehnen sich in der Regel nach einer unpolitischen Politik, in der die Guten „Yes, we can“ sagen und dann läuft es.
Erst recht sehnen sie sich nach einem unpolitischen Fußball. Und damit liefern sie oder – seien wir ausnahmsweise mal ehrlich zu uns selbst – liefern WIR die Basis für den Fußball, wie wir ihn haben.
Er ist ja sehr wohl politisch. Und zwar in einem undemokratischen Sinne, weil er als Geschäftsmodell von einigen wenigen bestimmt und abgeschöpft wird. Im Grunde ist er eine Oligarchie, die in Deutschland auch noch mit absoluter Mehrheitszustimmung der Untertanen als Monarchie zelebriert wird.
Es ist nicht paradox, sondern stringent und logisch, dass die beiden Helden und scheinbaren Antagonisten des deutschen Fußballs zusammen im Zentrum derjenigen gelandet sind, die das Geschäft übernommen und zu dem gemacht haben, was es heute ist. Im Guten und im Schlechten.
Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Die großen 70er. Der eine FC Bayern und adidas, der andere Borussia Mönchengladbach und Puma. Zusammen Europameister 1972 und Weltmeister 1974.
Sie verkörpern die Modernität durch Kapital. Sie spielten in der ersten Professionalisierungsphase des deutschen Fußballs, trugen zum Wachstum bei und wuchsen selbst dadurch. Das erste sechsstellige Gehalt, der erste ordentliche Werbevertrag, der erste Manager, die ersten Allianzen mit Sportartikel- und Medienunternehmen. Irgendwann waren beide selbst Fußballkonzerne, persönlich und geschäftlich verbunden mit vielen anderen Playern auf dem ständig wachsenden Fußballmarkt.
Der eine, Beckenbauer, wurde neben vielem anderen Bayern-Präsident, DFB-Cheftrainer, DFB-Funktionär, Fifa-Funktionär, adidas-Angestellter, Chef der WM-Bewerbung 2006. Der andere, Netzer, wurde Clubmanager und dann Fernsehrechtehändler.
Bei der WM 2006 war Netzer gleichzeitig deutscher WM-Botschafter und als Gesellschafter von infront Verkäufer der WM-Fernsehrechte für die Fifa und zudem WM-Kommentator für das gebühren bezahlte deutsche Fernsehen (ARD). Er bewertete für die deutsche Fernsehöffentlichkeit das Produkt, dass er für 1,5 Milliarden Schweizer Franken von der Fifa gekauft und unter anderem der ARD verkauft hatte. Ideal. Für ihn. Von Fifa-Chef Blatter bekam er dafür einen Verdienstorden. (Beckenbauer kriegte selbstverständlich auch einen.) Netzers besondere Spezialität als Fußballkommentator bestand darin, mit bitter ernstem Gesicht permanent ein Wertesystem zu propagieren, in dem an die Pflicht, die Verantwortung und die Ehre von Spielern appelliert wird. Also die Moral des Fußball auf das Geschehen auf dem Rasen zu reduzieren.
Netzer und Beckenbauer sind die Schlüsselfiguren
So ist der Fußball in Deutschland und vielen anderen Ländern zu einer der wichtigsten Unterhaltungsindustrien geworden. Er hat sich diversifiziert, von einem männlichen Arbeitersport und -hobby zu einem Familienentertainment, einem Teil der Gegenwartskultur, einer Boulevardsparte und sogar zu einer Wissenschaft. Die „Wichtigkeit“ ist deshalb so gewachsen, weil globale Unternehmen und speziell Fernsehen und Bezahlfernsehen das Kunden- und Bedürfnispotential gesehen und mit Beckenbauers und Netzers Hilfe kontinuierlich ausgebaut haben.
Das war aber nicht der kategorische Sündenfall, wie Kulturpessimisten gern klagen. Ohne die turbokapitalistische Übernahme gäbe es auch nicht den Segen von heute – die Jugendförderung, die emanzipatorische internationale Dimension, die komfortablen Stadien, die qualitativ hochwertigen Fernsehübertragungen, den großartigen Fußball, gespielt von großartigen Spielern. Dennoch ist die entscheidende Frage, ob man die Besitz- und Demokratieverhältnisse ausblendet und die In-Clique immer weiter machen lässt, solange nur der Ball immer weiter rollt und das Fernsehen überträgt. Oder nicht.
Franz Beckenbauer ist ja, wie wir wissen, ein herzensguter Mensch. Mit Prinzipien. Zum Beispiel unterwirft er sich weder Steuergesetzen, noch einer Ethik-Kommission. Oder sonst einem Schmarren. Warum auch? Er gilt als unangreifbar. Wer es versucht, kriegt es mit „Bild“ zu tun.
Wagt aber eh keiner. In diesem demokratischen Land gibt es außer Daniel Cohn-Bendit keinen einzigen Politiker, der sich je mit Franz Beckenbauer angelegt hätte. Derweil interviewt der DFB-Chef Niersbach sich selbst, weil er von der freien Presse ganz offensichtlich nichts hält. Und so viele sind bemüht, seinen Vorgänger Theo Zwanziger moralisch zu desavouieren, dass man sich fragt, ob der womöglich integer ist.
Wie sang Herbert Grönemeyer im offiziellen Fifa-Song der WM 2006? „Zeit, dass sich was dreht.“
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de