Unfrieds Urteil: Für Boateng und Özil – Warum es gut ist, wenn Deutschland die EM gewinnt
Die Frage der Fußball-EM lautet nicht nur: Gewinnt Deutschland? Sondern: Muss man die deutsche Nationalmannschaft gegen die AfD aufladen, um liberale und emanzipatorische Errungenschaften zu bewahren?
Früher war die Welt noch in Ordnung. Wir Linken waren bei der Fußball-WM für Brasilien. Oder ein afrikanisches Land. Die hatten noch richtig Freude am Spiel! Oder was man da so fabulierte. Bei der EM waren wir für die Tschechen (aus Solidarität mit 1968). Oder für die Franzosen (wegen dem tollen Multikulti). Jedenfalls nicht für Deutschland. Ging nicht. Schließlich waren wir ja sonst auch gegen Deutschland. Wegen Vergangenheit. Und Gegenwart. Und dann auch noch der Scheißfußball von Berti.
In Wahrheit waren wir selbstverständlich doch für die Deutschen. Aber eben auf eine verdruckste Art und Weise. Weil wir bis 2006 die entscheidende Sache nicht kapiert hatten: „Deutschland“ ist in diesem Fall ein Fußballteam. Mehr noch: Seit Jürgen Klinsmanns Transformationsleistung eine richtig okaye Fußballmannschaft, die dank ihres Trainers Joachim Löw einen modernen, nachhaltig erfolgreichen, schönen und manchmal spektakulären Fußball spielt. Das Team ist Teil einer problematischen Firma namens DFB. Aber trotzdem. Eigentlich sind wir für Bayern, Dortmund oder Wolfsburg (auch alles Fußballfirmen). Aber die spielen ja bei der EM nicht mit.
Deutsche sind daher für Team Deutschland. Das ist weder chauvinistisch, noch patriotisch. Es ist normal. Es dient einem Identifikations- und Teilhabebedürfnis, klar, aber primär einem Unterhaltungs- und Partybedürfnis. Die Gefühle sind unpolitisch.
Die Eltern der Nationalspieler kommen aus Albanien, Polen und Ghana
Allerdings wirkt der Fußball in Bereiche hinein, in denen sich Politik entscheidet. Nun ist die „Nationalmannschaft“ – absichtlich oder ungewollt – Teil der rechtspopulistischen Kommunikationsstrategie der AfD geworden – durch Alexander Gaulands via „FAS“ verbreiteten Satz: „Die Leute wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Jerome Boateng ist ein in Berlin-Wedding geborener und aufgewachsener deutscher Fußballprofi mit schwarzer Haut. Die Empörung der Mehrheit über so einen Satz – so berechtigt sie ist – gehört zur enormen Wirkung, um eine rassistische Minderheit zu bedienen und zu bestätigen. Erst durch die Empörung bekommt die Äußerung ihre ganze Durchschlagskraft.
Jetzt ist die Frage: Muss man die Fußballmannschaft linksliberal aufladen, um Humanismus, Anstand, Kultur und die emanzipatorischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zu bewahren? Muss man aufzählen, dass neun Spieler im Team Mütter oder Väter haben, die aus der Türkei kommen, aus Spanien, Tunesien, Polen, aus Albanien, Ghana, Sierra Leone oder dem Senegal? Muss man sagen, dass die Jungs selbst Berliner sind, Ruhrgebietler und Schwaben, born and bred, und manche auf rührende Weise den Spätzle-Klischees von regionalen Identitäten entsprechen? Muss man Mesut Özils Selfie aus Mekka als Beleg herausstellen, dass der Islam faktischer Teil von Deutschland ist? Muss man sagen, dass die multiethnische Dimension von fast allen europäischen Nationalteams auch auf die integrative Kraft der EU zurückzuführen ist?
Das ist alles so. Dennoch ist es schwierig, eine Fußballmannschaft als Beleg für gesamtgesellschaftliche Zustände zu nehmen, seien sie negativ oder positiv. Der Versuch von Linksintellektuellen und Vertretern der offenen Gesellschaft, den WM-Titel Frankreichs von 1998 auf der Grundlage gelingender Multikulturalität von „black, blanc, beur“ normativ aufzuladen, schien zunächst einleuchtend. Es spiegelte aber nicht die gesellschaftlichen Zustände wider. Und ein paar Jahre später, sah man ganz alt damit aus, als das Team in zwei Lager, black vs. blanc, zu zerfallen schien.
Selbst wenn Fußballnationalspieler als Repräsentanten einer Gesellschaft gelten und ihnen offensiv „Vorbildfunktion“ zugeordnet wird: Sie sind eben nicht repräsentativ. Sie sind privilegiert. Sie sind Stars. Die Gesellschafts- und Wirtschaftsform ist gut zu ihnen. Soziopsychologisch interessant ist, dass sie im Gegensatz zu Managern oder Nachbarn nicht den üblichen Neidgefühlen ausgesetzt sind. Man möchte den Starfußballer als Nachbarn haben, aber der Starfußballer ist eben nicht der Nachbar. Das ist der Witz. Die Folie der Betrachtung ist Affirmation und Bewunderung.
Dem Fan ist schnurz, ob der Spieler nach Mekka oder Mallorca fährt
Die AfD kann die Mannschaft daher nicht negativ vereinnahmen. Weil der Fußball weder antikapitalistische noch rassistische Gefühle so befeuert, dass politisches Kapital daraus zu schlagen wäre. Fast jeder Fußball-Fan unterstützt ein multiethnisches Team. Es gibt praktisch keine anderen mehr im Spitzenfußball. Ob der Fußballer Millionen verdient und ob er im Urlaub nach Mekka oder Mallorca fährt, ist dem Fan schnurz. Solange er gut spielt. Das heißt für die Vertreter der liberalen und offenen Gesellschaft aber nicht, dass die Zustimmung für ein der multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Realität entsprechendes Fußballteam so einfach auf diese ganze Realität zu übertragen ist.
Klar dürfte aber sein, dass sich die in den vergangenen Jahren zugewanderten Deutschen durch die Fußballmannschaft besser repräsentiert fühlen als durch weiße Mittelschichts-Nationalteams wie im Handball oder Hockey.
Faktisch – aber wen überzeugen schon Fakten? – ist die Sache eindeutig. Mit „nationaler Identität“, mit einem tradierten „Nationalfußball“ hat ein Verband keine Zukunft. Der Wiederaufstieg des deutschen Fußballs mit Klinsmann und Löw konstituierte sich ja eben gerade durch die Überwindung des Nationalen, die absurde Vorstellung, es gäbe „deutsche Tugenden“ – durch Blut und Hoden vererbtes Grätschen, Rennen und Kämpfen – mit deren Hilfe man am Ende gewänne, obwohl die anderen besser spielten. Aus diesem Irrtum besteht der „Wankdorf-Mythos“ von 1954, der den deutschen Fußball Jahrzehnte gelähmt hat.
Die Globalisierung des Spitzenfußballs hat nationale Stilausbildungen marginalisiert. Champions League, WM und EM gewinnt, wer den führenden internationalen Stilmix am weitesten entwickelt hat oder am besten auf den Platz bringt. Die vermeintliche Nationaltugend Grätschen ist heute bei Löw – zurecht – allerstrengstens verboten. Es ist der sicherste Weg zu verlieren. Das machen nur noch komplett ahnungs- oder verantwortungslose Gestrige. Das könnte man jetzt selbstverständlich auf AfD-Programmatik übertragen.
Auch einige Weltmeister von 1974 haben die Hymne nicht mitgesungen
Aber gehen wir heute mal nicht in die AfD-Falle. Das machen ja schon die üblichen Empörungspolitikerinnen. Formulieren wir positiv, was Deutschland, das Team, ist: Eine begabte, modern organisierte Fußballmannschaft. Grundlage des Erfolgs ist eine radikal veränderte (Aus)Bildung, ein transnationaler Lehr- und Spielansatz, der akzeptierte Zusammenhang von Eigen- und Gruppeninteresse – und die im Jahr 2000 von Rot-Grün gegen erbitterten CDU-Widerstand durchgezogene Reform des Staatsbürgerrechts. Grundlage ist nicht, ob die Spieler die Hymne mitsingen oder nicht. Noch 2012 erklärten CDU-Politiker nach der Halbfinalniederlage gegen Italien ernsthaft (bzw. populistisch), dass das mit Spielern zu tun habe, deren Ahnen keinen deutschen Pass hatten und die nicht mitgesungen hätten. (Haben einige der Weltmeister von 1974 übrigens auch nicht.) Hessens Ministerpräsident Bouffier forderte gar als Konsequenz eine Hymnenmitsing-Pflicht. Man sieht: Den antiaufklärerischen Missbrauch des Fußballs zum Zwecke der zusammenhaltsgefährenden Hetze hat die AfD nicht erfunden.
Im übrigen: Gegen ein erfolgreiches Fußballteam kann sich kein Politiker stellen. Schon gar kein Populist. Vom unbeirrbaren Grünen Ströbele jetzt mal abgesehen.