Unfrieds Urteil: Die grüne Merkel
Die Flüchtlingspolitik von CDU-Kanzlerin Angela Merkel wird von rechts und aus der eigenen Partei attackiert. Angeblich zu grün und zu links. Das ist ein Problem für die Union – und für die SPD. Denn damit beginnt das Zeitalter des neuen Denkens.
Die CDU-Kanzlerin Angela Merkel wird in diesen Wochen von rechts angegriffen, nicht von links. Das ist großartig.
Okay, es ist auch ein Problem. Für sie, aber auch für andere: für die Union, für die Oppositionsparteien, vor allem für die SPD. Deshalb ist es gleichzeitig eine Chance; weil die reflexartigen Zuordnungen in dieser Situation nicht funktionieren, die für Klarheit sorgen sollen, aber faktisch nur noch Illusionen sind.
Merkel ist beziehungsweise erscheint Teilen der Union in der Flüchtlingspolitik zu „grün“, und das im doppelten Wortsinn. Sie sehen in ihr eine Humanitätsgedusel-Grüne und damit als zu naiv, zu selbstgerecht und zu unerwachsen. Das ist ein Problem für CDU-Leute, die in den alten Emotionen des 20. Jahrhunderts feststecken. Und ein noch größeres Problem für die politischen Gegner, die auch von dieser alten Welt leben. Einer Welt, in der es Gute und Böse gibt. Die Guten sind sie.
Deswegen sind viele Leute auch so glücklich unglücklich über den US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump: Da kann man wenigstens noch sicher sein, dass man richtig liegt, wenn man ihn inbrünstig ablehnt. Er ist böse. Wer gegen ihn ist, ist gut. Das gilt auch für Ted Cruz, den Sieger der republikanischen Vorwahl von Iowa. Und andersherum für den Demokraten-Sieger Bernie Sanders. Der bedient das Gefühl, dass die Welt schöner wäre, wenn sie schöner wäre. Ideal. Dagegen ist es ungleich schwieriger, sich zu Hillary Clinton zu bekennen. Demokratin (okay), Frau (super), aber dann … Man muss Clinton schon sehr differenziert betrachten, sowie man auch Präsident Obama differenziert und in Relation zu seinen realpolitischen Möglichkeiten betrachten muss, um seine politische Leistung würdigen zu können.
Merkel liefert nach „links“
Im Grunde hat Merkel genau das geliefert, was die als „links“ bezeichneten Parteien seit Jahrzehnten von den als „konservativ“ bezeichneten Politikern und Parteien fordern: Eine Bildungsroman-Entwicklung par excellence. Atomkraft weg, Wehrpflicht weg, Homo-Ehe her undsoweiter. Und zumindest bis zu diesem Moment ist sie in der Frage einer politischen Antwort auf die globale Flüchtlingsdynamik den Politikgefühlen der grünen und linksbürgerlichen Wähler eindeutig näher an denen eines Teils der eigenen Partei. Nur hat das eben überhaupt nichts mit einer moralischen Entwicklung zu tun, vom Markt hin zum Menschen, von der Machtmaschine zur Überzeugungskämpferin.
Sie hat ja – im Gegenteil – das Zeitalter der realistischen Politik ausgerufen. Nicht Humanismus, sondern Realismus hat sie dazu gebracht, das Zeitalter der Atomkraft zu beenden. Und nun, öffentlich zu sagen, dass eine komplexe Dynamik, die globalen Fluchtbewegungen in die EU, nur global und durch die EU bewältigt werden kann. Mit Hilfe der Türkei und vieler anderer, mit gebrochener Moral, mit mal mehr, mal weniger Menschlichkeit.
Das ist so und das bleibt auch so. Daran ändert kein Seehofer was, keine grummelnde CDU-Basis, keine grummelndes SPD-Basis, keine verlorene Landtagswahl und auch kein Humanität-Tweets-Weltrekord von Grünen-Funktionären.
Wenn man Merkel wegdenkt, ändert das für die Problembewältigung überhaupt nichts. Weil keine Entweder-Oder-Alternative bereitsteht, die man bereits mitdenken könnte, so wie das in der guten, alten Zeit zu sein schien. Kennedy oder Nixon, Brandt oder Barzel, Schröder oder Kohl. Berti Vogts oder Volker Finke.
In Wahrheit gibt es keinen Zeitdruck
Die Aufgabe, so drängend sie zu sein scheint, kann aber auch auf gar keinen Fall in den nächsten Wochen oder Monaten gelöst werden kann. Und das muss sie auch nicht, anders als die Aufregung dieser Tage suggeriert. Das Einzige was passieren kann, ist dass Leute so tun, als sei das so, um ihre persönlichen Ziele voranzubringen.
Was heißt das? Es heißt: Im Moment steht die Alternative zu Merkel rechts von Merkel. Das gilt auch, wenn es morgen heißt, sie sei eingeknickt. Es gilt auch dann, wenn die Alternative plötzlich doch noch Gabriel hieße. Die SPD kann – so wie sie derzeit ist – nur zulegen, wenn sie ihren Links-Rechts-Kurs präzisiert. Und zwar nicht nach links. Das alles ist nicht, wie wir es uns im Kindergarten ausgedacht haben. Aber es ist so.
Von diesem Punkt an loszudenken, das ist die große intellektuelle Aufgabe dieses Jahres.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de