Unfrieds Urteil: Blatter, Beckenbauer & Co – der Verlierer des Jahres ist der Fußball
Kein Blatter, kein Platini, kein Niersbach, kein Beckenbauer und keine zusammenhängende Geschichte, wie alles wirklich war mit der WM 2006. Klar ist: Wenn der Fußball das Moment der Freiheit verliert, ist er banal.
Es gibt keine weltliche Instanz, die einem Fifa-Präsidenten Sepp Blatter etwas vorzuschreiben hätte. Einen Blatter suspendieren? „Das geht nicht“. Es geht eben doch. Aber Blatters Diktum zeigt, wie er tickt und vermutlich viele andere Fußballfunktionäre auch. Fußball ist eine eigene Welt, das ist die Logik. Sie gehört den Verbänden und deren Finanziers. Ein Blatter kann daher tun und lassen, geben und nehmen, was ihm angemessen erscheint.
Die Geisteshaltung, die der Schweizer im aktuellen „Spiegel“ offenbart, erinnert an gestürzte Diktatoren oder Clanchefs. Unfassbar. Einerseits. Aber man hat sich halt auch daran gewöhnt, dass der Fußball so gemanagt wird. Nun ist die Frage, ob man sich über die US-Justizministerin Loretta E. Lynch hinaus die Kultur der Gleichgültigkeit nach diesem Jahr wieder abgewöhnt, in dem der Fußball ein „Verlierer des Jahres“ ist, wie das „Handelsblatt“ völlig zurecht findet.
Kein Blatter (suspendierter Fifa-Präsident), kein Platini (suspendierter Uefa-Präsident), kein Niersbach (zurückgetretener DFB-Präsident), kein Beckenbauer (amtierender sky-Fußballjournalist) war bei der Auslosung der EM 2016 am vergangenen Wochenende zugegen. Die beiden erstgenannten hatten Lokalverbot, die letzteren blieben wohlweislich zuhause.
Lynchs Anklage gegen die Fifa gründet auf einer US-Gesetzgebung, nach der auch Verbrechen im Ausland verfolgt werden können, wenn sie – wie in diesem Fall – US-Banken für Geldtransfers nutzten. Die Anklage ist umfassend und lautet: Korruption in der Frage, wer die Fifa führt, wer die WM abhalten darf, wer die Übertragungsrechte bekommt. Korruption – und zwar: „Immer wieder aufs Neue, Jahr für Jahr, Turnier für Turnier.“ Noch ist keiner verurteilt, aber alle sind beschädigt, die Verbände Fifa, Uefa, DFB, viele Funktionäre, auch der Fernsehrechtehändler Günter Netzer und vor allem Franz Beckenbauer, die Verkörperung der Glorie des deutschen Nachkriegsfußballs.
Es ist noch nicht geklärt, wofür Blatter Platini die zwei Millionen Franken rübergeschoben hat, die der 2011 in Rechnung stellte. Es ist nicht geklärt, ob der DFB die WM 2006 gekauft oder nicht gekauft hat. Viele Fäden hängen in der Luft. Es fehlt die zusammenhängende Geschichte, und das ist schlechter, als wenn es eine gäbe. So hängt alles in der Luft, und Der Franz redet bei sky weiter, scheinbar wie immer und wie früher. Aber es ist nicht mehr wie zuvor. Das betrifft speziell den Deutschen Fußball-Bund, der in das Jahr mit dem Image des Vorbildverbandes ging. Wovon am Jahresende nichts mehr übrig ist.
„Der Franz“ redet weiter als wenn nichts wäre
Sogar die Wahrheit wäre besser für den Fußball als dieses Fegefeuer, in dem er sich befindet. Es gibt so viele halbgare Geschichten, man denke nur an die NSU-Morde, und das macht Leute vollends kirre, die eh schon Schwierigkeiten haben, die komplizierte Gegenwart zu verkraften. Und die deshalb davon ausgehen wollen, dass der Fußball die letzte einfache, klare und letztlich okaye Welt zu sein hat. Und nun weiß man gar nichts mehr.
Es braucht die ganze Geschichte, denn nur dann kann man ernsthafte Konsequenzen ziehen. Dafür braucht es aber eine Fußballgesellschaft, die diese Wahrheit auch wirklich wissen will. In den vergangenen Wochen ist klar geworden, dass die Protagonisten der Bundesliga und des DFB ein eher mäßiges Interesse an Aufklärung haben. Die „Ja, gut“-Statements überwiegen bei weitem.
Vieles hat der ahnungslose und „entsetzte“ Sepp Blatter nach eigenen Angaben ja gar nicht mitbekommen in den vergangenen 30 Jahren, auch weil er ein „viel zu vertrauensvoller Mensch“ sei. Aber eines weiß er genau: „Wer den Ball hat, der hat die Macht.“
Und den Ball hat zu diesem Zeitpunkt eine relativ kleine Clique von Fernsehrechte-, Sportartikel-Unternehmern und Funktionären, die sich ein paar global populäre Exfußballer halten, damit der Laden läuft und die Öffentlichkeit von deren Glanz abgelenkt wird und den alten Schmonzetten, wie sie sich damals selbst einwechselten oder allein und sinnierend über den Rasen von Rom gingen. Was ging da nur in Franz Beckenbauer vor? Das ist die ewige Frage der Sportjournalisten. Aber was ging in Beckenbauer vor, als er im Zuge der WM-Bewerbung 2006 einfach alles unterschrieb, was man ihm hinhielt? (Auch „nichts“?)
Fußballfans sind Kindsköpfe mit einer großen Sehnsucht
Wir Fußballfans sind alle Kindsköpfe. Aber auch der größte Kindskopf kann sehen, dass seine Sehnsucht nach einem unpolitischen Fußball der Stabilisator eines hochpolitischen Fußballs ist, nämlich der undemokratischen und auch zynischen Fußball-Oligarchie der Gegenwart.
Der Fußball wird für vieles gebraucht, er ist nicht nur eine nationale und globale Unterhaltungsindustrie. Er ist Kultur, Wissenschaft, Lebensinhalt, Jugendprojekt, Erziehungswerkzeug, Sozialstation, internationales Verständigungs- und Beziehungstool. Ach so, und wichtigster Breitensport in vielen Ländern der Welt.
Fußball spielen und Fußball erleben, das ist aber nicht nur Weltflucht, das kann auch ein Moment der menschlichen Freiheit beinhalten. Und Fußball stimuliert permanent das Gerechtigkeitsbedürfnis der Leute. War es Hand? War es abseits? War der Ball hinter der Linie? Das braucht einen freien und gerechten Rahmen, sonst ist alles banal.
„Menschen lieben Fußball, wenn man ihnen den Fußball organisiert“, sagt Sepp Blatter. Er meint: Wenn er oder nach ihm, Leute wie er, den Fußball organisieren.
Vielleicht hat er Recht und letztlich ist das „Wie“ den meisten scheißegal. Ich hoffe es nicht.
Die entscheidende Frage 2016 ist nicht, wen Justizministerin Lynch verknackt. Sondern, ob wir Fußballliebenden das verlorene Moment der Freiheit und Gerechtigkeit zurückerobern. Damit eine neue Geschichte des Fußballs anfangen kann.
Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de