Unfrieds Urteil: Beatles, Stones, Pink Floyd – Was verrät uns der Musikgeschmack der Bundestagabgeordneten?
ROLLING STONE hatte die Abgeordneten des deutschen Bundestags nach ihren Lieblingsplatten gefragt. Gut 200 haben geantwortet – ihr persönlicher Geschmack repräsentiert ziemlich gut den ihrer Wähler. Mainstream rules! Von ein paar Abweichlern abgesehen.
Die Lieblingsplatte von Katja Kipping ist „Imagine“ von John Lennon. „Imagine no possessions“, schreibt sie sicherheitshalber dazu. Damit es auch jeder kapiert. Kipping, 37, ist Vorsitzende der Linkspartei und hat sich eindeutig angestrengt, Lennon zu vereinnahmen und einen Zusammenhang zwischen ihren politischen Überzeugungen und ihrem Musikgeschmack herzustellen.
Das ist aber die Ausnahme in der ROLLING-STONE-Umfrage unter den deutschen Bundestagsabgeordneten, die in der aktuellen November-Ausgabe zu finden ist. Die Liste der 200 Spitzenpolitiker, die man auch hier auf rollingstone.de scrollen kann, lässt ahnen, dass Rock- und Popmusik für demokratische Gegenwartspolitiker als Quelle und Inspiration weitgehend bedeutungslos sind, sowohl was die persönliche Entwicklung angeht als auch für einen gesellschaftspolitischen Kontext. Ab und an gibt es eine biografische Dimension, aber richtig wichtig scheint Rock’n’Roll nur noch für ganz wenige zu sein. Die meisten Repräsentanten des Volkes haben einen Musikgeschmack, den man schlicht als mehrheitsfähig bezeichnen kann: Beatles, Rolling Stones, Pink Floyd, David Bowie, Queen, Bruce Springsteen, U2, Nirvana, Whitney Houston, Tote Hosen, Grönemeyer, Nena, Trio und was man halt im Mainstream so gehört hat in den vergangenen fünfzig Jahren.
Die Liste zeigt weiterhin, dass es für die Reputation offenbar vollkommen schnurz ist, ob man Rock oder Schlager hört, Bob Dylan oder Rainhard Fendrich, Clapton oder den anderen Gott (Karel). Es wird wirklich vor nichts mehr Halt gemacht. Gut, Helene Fischer („Farbenspiel“) traut sich nur eine CDU-Frau, und ein Bekenntnis zum Jahrzehntmusiker Michael Jackson (eine Nennung) scheint wegen des politischen Killerthemas Kindesmissbrauch zu heikel zu sein. Ansonsten nennt man auf der linken Seite die „Premium Gold Collection“ von Klaus Lage genauso unbekümmert wie Peter Maffays „Steppenwolf“.
Dafür wäre man früher aus einer progressiven Partei ausgeschlossen worden.
Einerseits kann man es als zivilisatorischen Fortschritt verstehen, eine ästhetische Geschmacksdiktatur überwunden zu haben, andererseits als Beleg, dass es keine progressiven Parteien mehr gibt. Wer jedenfalls gehofft hatte, man könne die Parteien anhand ihres Musikgeschmacks in die Kategorien gut und böse, vorn und hinten, Checker und Ahnungslose einteilen: Nein, kann man nicht. Die Rolling Stones sind bei CDU („Out Of Our Heads“) genauso vertreten wie bei SPD („Sticky Fingers“), Grünen („Exile on Main Street“) und Linkspartei („Sticky Fingers“). Das Weiße Album der Beatles wird von CDU und SPD genannt. Pink Floyds „The Dark Side Of The Moon“ auch.
Exklusiv bei der SPD sind allerdings die Toten Hosen, was aber auch ein Zufall sein kann.
Trittin und „Stop making Sense“? Vermutlich keine Hommage an seinen Wahlkampf
Andererseits ist auch Udo Jürgens mit dem Album „Udo 70“ nur sozialdemokratisch besetzt. Vermutlich eine Referenz an die eigene Geschichte. Wahlsiege! Willy! Waren das noch Zeiten. Die einzige wirkliche Mauer verläuft zwischen Ost und West. Ostrock hört der Westler auf gar keinen Fall.
Schauen wir auf die Spezialfälle der ROLLING-STONE-Umfrage. Claudia Roth (Die Grünen) war bekanntlich mal Praktikantin bei Ton Steine Scherben. Die Band war allerdings dann – anders als sie Partei – bereits erledigt, bevor sie Managerin und Führungskraft wurde. Die Musik war jedenfalls für sie wirklich wichtig. Und sie hat ihre politische Karriere auf diese popkulturelle Verknüpfung aufgebaut. Von welcher Band ihre Lieblingsplatte ist, versteht sich da von selbst.
Ihr Parteifreund Jürgen Trittin nennt „Stop Making Sense“ von den Talking Heads, was vermutlich nicht als Hommage an seinen Wahlkampf 2013 als Spitzenkandidat einer krachend verlorenen Bundestagswahl zu verstehen ist. Gregor Gysi, lange Jahre Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, gilt als witzig. Er hört gern „Kuschelklassik“. Aber auch „Jazz, mit dem man Frauen gewinnt.“ Wäre interessant zu wissen, ob er damit tatsächlich mehr gewonnen hat als nur Land. Christian von Stetten (CDU) steht auf ein unbekanntes Werk von Bryan Adams: „Live in Künzelsau“. Wo immer dieser Ort sein mag, von Stetten kommt jedenfalls daher. Michael Grosse-Brömer von der CDU hört „Billy Joel“. Warum er den Namen in Anführungszeichen schreibt? „Grosse-Brömer“ wird seine Gründe haben.
Keine Angeberei mit Superdupergeschmack
Bei jeder dieser Erkundungen ist ja stets die große Frage: Wird es jemand tatsächlich wagen und Keith Jarretts „The Köln Concert“ nennen und damit klassisches Geschmacks-Mainstream-Angebertum der späten 70er ausstellen? Ja. Tom Koenigs, 71. Er ist Grüner und ein Held der Studierendenbewegung von 1968. Anders als Koenigs hat die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker, 53, weder ein Millionenerbe dem Vietcong geschenkt. Noch war sie mit Joschka und Dany damals in Frankfurt beim „Revolutionären Kampf“. Aber auf Jarrett steht sie auch.
Interessanterweise wird wenig mit einem vermeintlichen Superdupergeschmack angegeben. Sieht man mal von Baden-Württembergs CDU-Vorsitzendem Thomas Strobl ab, der „I Got Dem Ol‘ Kozmic Blues Again Mama!” raushaut, was bekanntlich Janis Joplins erstes Album nach der Trennung von Big Brother war. Oder von der CSU-Abgeordneten Emmi Zeulner, die das Debutalbum der britischen Avantgarde-Popband The xx nennt. Oder von ihrem Kollegen von der Linken, Andrej Hunko, dessen Lieblingsalbum „Nackte Angst zieh dich an wir gehen aus” von Jens Friebe ist. Sehr interessant in diesem Kontext ist die flügelübergreifende Aufstellung von Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen. In der Sendung „Pelzig“ des Geriatriesenders ZDF outete sie sich als Howard-Carpendale-Groupie. Im ROLLING STONE nennt sie „Blood Money“, Tom Waits‘ Songs für eine Robert Wilson-Inszenierung von Büchners „Woyzeck“.
Rock, Theater, Literatur. Waits, Wilson, Woyzeck. Wow! Dahinter steht offenbar ein ganzheitliches kulturelles Konzept verknüpft mit der Fertigkeit der rhetorischen Finesse.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich an der Umfrage übrigens nicht beteiligt. Man weiß aber ja, dass sie auf Richard Wagner steht.
Irgendwo muss es ja raus.