Unfrieds Urteil: Apropos Flüchtlinge – Wir dürfen den Begriff „deutsch“ nicht den Nazis überlassen
Ist Deutschland „hell“ oder ist Deutschland „dunkel“? Falsche Frage. Die Nazis zwingen uns dazu, Position zu beziehen: Welches Deutschland wollen wir? Wie stehen wir zu den Flüchtlingen?
Früher, weit zurück in den 70- und 80er-Jahren, hatten wir Heino und Franz Josef Strauß, Deutschlandfahnen in der Kleingartensiedlung, den „Staat“ und übrigens auch Helmut Schmidt: Das war das Böse. Und wir hatten Udo Lindenberg, Petra Kelly, Anti-AKW-Aufkleber und uns. Das war das Gute. Dann zogen wir uns mit Harald Schmidt zunehmend in die Gemütlichkeit der ironischen Distanz zurück.
Es gibt kein „helles“ und kein „dunkles“ Deutschland
Nach dem Ende von Rot-Grün 2005 hakten wir den politischen Idealismus vollends ab und gaben dafür Schröder und Fischer die Schuld. Das Verhältnis zu Deutschland wurde zwar entspannter, blieb aber im Kern diffus ungeklärt. Mit der wachsenden Zahl an Flüchtlingen ist auch die Frage eines zeitgemäßen Verfassungspatriotismus zurück. Also einer, der sich auch auf EU-Vertrag, Grundrechtecharta und europäische Menschenrechtskonvention bezieht.
Dazu folgende Thesen: Es gibt kein „helles“ und es gibt kein „dunkles“ Deutschland, wie es auch kein dunkles Europa gibt. Das ist Pastorenprosa. Es gibt kein Deutschland mit allzeit fruchtbarem Nazi-Schoß, wie auch niederländische und dänische Fremdenfeinde nicht mit einem spezifischen Volkscharakter zu erklären sind. Der Versuch ist verständlich, aber zukunftsuntauglich, National- oder Regionalidentität an Vorurteile, Geschichte oder kulturelle Erfahrungen anzuschließen.
Sieht man mal davon ab, dass wir Schwaben den besten Sex haben.
Der „Deutsche“ ist nicht qua Blut „deutsch“, sondern primär durch seinen Pass, sowie er durch seinen Pass EU-Bürger ist. Die deutsche Gesellschaft besteht in einem offenen Europa längst nicht nur aus Leuten mit deutschem Pass. Und nun ist die Frage: Was macht diese Gesellschaft, was machen wir aus der jetzigen Situation? Der Umgang mit Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt ist eine Chance für die EU und für ihr Mitglied Deutschland, sich im 21. Jahrhundert gegen alle illusionären Retrosehnsüchte eine positive Identität zu geben.
Trägt auch die EU Mitschuld?
Das bedingt, dass man die globale Aufbruchbewegung als Teil sich gegenseitig dynamisierender Krisen versteht und als Folge der Ausbleibens positiver wirtschaftlicher und demokratischer Entwicklungen in verschiedenen Regionen in unserer Nachbarschaft. Inklusive Stärkung autoritärer Regime und fürchterlicher Terrorgruppen. Inwieweit die EU daran mitschuldig ist, muss man genauso diskutieren wie die Frage, wie viel die heutige Krise in Afrika bereits mit der ausbleibenden sozialökologischen Transformation bei uns zu tun hat und dem Ignorieren des Klimawandelproblems.
Im Moment weiß keiner, wie man die komplexen politischen Probleme lösen kann. Aber die ganz praktischen Nöte der Flüchtlinge sind bekannt und daher zu meistern. Allzu häufig aber paralysieren sich das gesellschaftliche und das politische System gegenseitig. In aktuellen Fall hat die erstaunlich vehemente Bewegung pro Flüchtlinge dazu geführt, dass Kanzlerin Merkel und ihr Innenminister ihre üblichen Durchwurschtel-Positionen in für ihre Verhältnisse fast klare Worte verwandelt haben. Sie dachten, sie werden fürs Lavieren gewählt. Nun, wo sich das mehrheitlich anders darstellt, orientieren sie sich eben um. That’s CDU. Das kann man moralisch kritisieren. Oder nutzen.
Auch die eindeutige Medienberichterstattung pro Flüchtlinge hilft. Anders als Politiker es gern behaupten, beginnt Politik nicht mit dem Betrachten der Realität, sondern mit dem früh morgendlichen Betrachten der Presse-Ausschnitte.
Die Gesellschaft treibt die Regierung an
Gesellschaftlicher Wandel funktioniert nicht per Moralausstoß, sondern nur in einem Wechselspiel: Gesellschaft gibt Regierung einen Arschtritt. Regierung wacht auf, beschließt und organisiert eine zeitgemäße Asyl-, Arbeits- und Einwanderungspolitik. Steht dazu, auch wenn es ungemütlich wird. Und eine gesellschaftliche Mehrheit trägt das mit.
Sozialpsychologisch gesehen tragen die rechtsradikalen Ausschreitungen im Osten der Republik dazu bei, die Akzeptanz von Flüchtlingen und Einwanderung zu erhöhen. Durch zunehmende Nazi-Aktionen werden auch die Negativ-Identitätsvorstellungen stärker: So bin ich nicht. So ein Deutschland, so ein Europa will ich nicht.
Es ist schon mal gut, wenn man weiß, wer man nicht sein will. Es ist der Job, des sich für aufgeklärt und politisch haltenden Teils der Gesellschaft, endlich die Diskussion zu führen, wer man sein will und sein kann. Hier geht es nicht um Party-Patriotismus wie bei der WM 2006, als man glaubte, einen neuen, tollen Deutschen entdeckt zu haben. Dem Fußball-Deutschen geht es darum, sich in Stadtzentren als Teil einer Menge zu spüren und selbst zu feiern. Die Deutschland-Fahne ist nur das inhaltlich leere Symbol des Fußball- und Partyteams.
Deutschland und EU – das sind wir
Wenn wir da „liberale Einwanderungsgesellschaft“ drauf schreiben wollen, als eine Antwort auf die sich gegenseitig antreibenden Auswirkungen der globalen Krisen, müssen wir bereit sein, nachhaltig etwas dafür zu tun. Das Momentum nutzen im Kampf gegen eine faktisch auseinanderdriftende Gesellschaft.
Dafür muss man sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen. Auch wenn diese nicht mit nationalstaatlichen Grenzen zusammenfällt, darf man den Begriff „Deutsch“ nicht ein paar Nazis überlassen, sondern muss ihn selbst besetzen. Deutschland und EU sind nicht die anderen, Deutschland und EU sind wir. Das klingt jetzt etwas pathetisch und zudringlich für Ironie-gestählte Individualisten. Aber ohne angemessenes Pathos wird es genau sowenig gehen, wie ohne verbindliches Commitment.
Eat this, Nazi: Grundgesetz, Artikel 1, neuer Absatz 4: Je mehr Flüchtlinge wir integrieren, desto deutscher sind wir.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag auf rollingstone.de