Und dann waren sie noch zwei
Wir wollen nicht in und von der Vergangenheit leben“, so sagt Tony Banks, der Keyboarder. Aber ob Genesis auch eine Zukunft haben, das muß sich erst noch zeigen. Es wird schwierig für Banks, Gitarrist Mike Rutherford und den neuen Sänger Ray Wilson (früher bei Stiltskin), zu erklären, warum man nicht einfach die Band in Ehren beerdigt hat an diesem Tag im letzten Sommer, als Phil Collins unwiderruflich kundtat, er werde Genesis für immer den Rücken kehren. Gewußt hatten sie es ja schon seit 1994, daß Collins kein weiteres Album mehr mit ihnen machen würde.
Eigentlich Zeit genug, um sich nach geeigneteren Altersbeschäftigungen umzuschauen. Rutherford betrieb ohnehin schon seit Jahren sein erfolgreiches Hausfrauen-Pop-Projekt Mike & The Mechanics, und auch Banks veröffentlichte in schöner Regelmäßigkeit perfekt produzierte Solo-Werke, die niemanden juckten, aber immerhin einen sinnvollen Zeitvertreib darstellten.
Doch als Collins ging, meldeten sich zwei Egos, die auf Selbstbestätigung drängten. Schließlich war Collins früher nur der Drummer und dann der Ersatz für Peter Gabriel sogar mit ähnlichem Timbre. Aber was war mit Genesis? Mit der Vision?
Rutherford und Banks waren ja schon am Anfang der Genese dabei – und schlimmer als Collins‘ Solo-Platten konnte es ja gar nicht werden. „Es war eine Herausforderung, und wir lieben Herausforderungen. Unser neues Album soll beweisen, daß Genesis immer noch eine richtige Band sind. Das ist mir sehr wichtig“, diktiert Rutherford.
„Calling All Stations“ heißt das Opus – doch ob noch jemand antwortet? Genesis in den 60er Jahren? Eine Schülerband. Genesis in den 70er Jahren? Rockmusik in progressiver Vollendung, erst mit Peter Gabriel als Sänger, dann eben mit Phil Collins. „The Lamb Lies Down On Broadway“ und „Trick Of The Tail“ waren in ihrem Segment wegweisend für die Epoche. Genesis in den 80er Jahren? Einige furiose Videos. Genesis Anfang der 90er Jahre? Ein „VW Golf“. Genesis 1997? Von allem ein bißchen und doch nichts so richtig. „Calling AU Stations“ hat sicher seine Momente. Der Titelsong ist ganz gelungen, „The Dividing Line“ und „Uncertain Weather“ sind treffliche Mini-Dramen, „Not About Us“ eine nette Ballade fürs Radio. Doch der Rest ist Quark, der auch dann nicht stärker wird, wenn man ihn breitzutreten versucht.
Der Druck, der auf der Band liegt, ist offensichtlich an diesem Interview-Tag in,,Fish Lane Farm“, dem Land-Studio westlich von London, in dem Genesis seit Jahr und Tag ihre Platten aufnehmen. Ein paar Minuten Smalltalk mit Herrn Rutherford und man merkt, daß der Mann alles andere als angstfrei und relaxed in die unmittelbare Zukunft blickt. Sollte das Album floppen, würden jene Kritiker voll Häme triumphieren, die auf Genesis ohne Collins keinen Pfifferling mehr geben. Und schon gar jene, die auf Genesis mit oder ohne Collins nur allzu gern verzichten wollen. Für Banks und Rutherford wäre das ein immenser Renommee-Verlust, viel mehr als nur ein Kratzer an der Genesis-Legende, die von der Platten-firma schon vollmundig unter dem Titel „Die ersten 30 Jahre“ zusammengefaßt wird.
„Ich glaube an uns, sonst würden wir das hier nicht machen.“ Mike Rutherford wirkt fast trotzig, als er das sagt. „Ich denke, das Album ist weniger kommerziell als die letzten, aber darüber sollte sich eine Band wie Genesis nicht mehr den Kopf zerbrechen müssen. Erfolg zu haben ist für uns jedoch immer noch eine Verpflichtung, ganz sicher. Das hat nichts mit finanziellen Sorgen, sondern mit den Ansprüchen an uns selbst zu tun.“ Soviel zum Katechismus des alternden Rockmusikers, der sein spätes Schaffen vorauseilend legitimieren muß – so als zählte er sich schon selbst zu der Kukident-Generation.
Am lässigsten kann sich natürlich Ray Wilson geben. Der ehemalige Sänger der wohl wegen eklatanten Erfolgsmangels aufgelösten Stiltskin (Tony: „Ich konnte JLnside‘ nicht ausstehen, aber ich liebe seine Stimme“) hat wenig zu verlieren. Der 28jährige, der nach mehreren Auditions im Herbst das Rennen erst machte, nachdem Banks und Rutherford die Songs fürs Album fast allesamt geschrieben hatten, müsse sich nur daran gewöhnen, daß „die Groupies bei Genesis viel älter sind als die bei Stiltskin“.
Kosmische Koinzidenz am Rande: Der einzige Stiltskin-Hit verdankte sich einem „LeviY‘-Werbespot von der Sorte, die Genesis in ihrem „I Can’t Dance“-Video so schlitzohrig persiflierten.
Daran, daß sie nochmals große Single-Hits landen werden, glauben selbst die beiden Endvierziger nicht so recht – aber wen interessiert das schon? All die „Golf Genesis“-Fahrerinnen, für die das Trio im wesentlichen aus der Stimme von Phil Collins bestand, werden an dem neuen Werk nicht viel Freude haben. Die nahezu drei Millionen – allein in Deutschland – verkauften Exemplare vom Vorgänger “ We Can ‚t Dance “ sind diesmal eine illusorische Größe. Und statt im Sommer durch die Stadien, ziehen Genesis diees mal im Winter durch die Hallen. Rutherford: „Wir müssen einfach abwarten, wie unser Publikum die neue Platte aufnehmen wird.“
Und falls sich doch einmal Selbstzweifel breitmachen sollten – was vor allem unmittelbar nach Collins Ausstieg tatsächlich der Fall war -, erinnern sich Rutherford und Banks zur Beruhigung an 1975. Ging ja auch, damals. Das gemeinsame Gedächtnis wärmt wie eine dicke Decke.