U2 live in Berlin: Ist das Punkrock?
U2 live in der Hauptstadt. Sie spielen Berlin-Songs, es wird ein großartiger Abend, sie müssen aber auch mit einer Panne klar kommen.
Sind wir in einem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gelandet? Zu den Klängen von Patti Smiths „People Have The Power“ durchschreitet Bono das Publikum, Fans halten mit Wünschen beschriftete Schilder an ihn heran, der Mann soll auf die Bühne, der Mann soll für sie sprechen. Dann aber stimmt er „The Miracle (Of Joey Ramone“) an, ein Lied über den Helden seiner Jugend, einen Punksänger. Dies wird zunächst also ein Abend, in dem es um Bonos eigene Geschichte geht.
Was folgt, sind die besten ersten zwanzig Minuten eines U2-Sets seit ihrer „Zoo TV“-Tour von 1992. Damals hatten sie mittels fünf einleitender „Achtung Baby“-Songs eine zusammenhängende Geschichte über Großmannssucht erzählt. Heute geht es um die Anfänge der Gruppe in den Kinderstuben zur Zeit des Nordirlandkonflikts: „We’re a band from the Northside of Dublin“, sagt Bono und zitiert seine mittlerweile berühmte Bühnenansprache von 1980. „This Is Our First Single. This Is Out Of Control …“ Und auf „Out Of Control“ folgt „Vertigo“ und dann „I Will Follow“.
„How punkrock is that?“, fragt der Sänger, und ja: Die Band spielt so eng beieinander wie im Proberaum, kein Glamour, alles wirkt wie auf Reset, vier Musiker produzieren einen Energieball, einen Energieball, der alles zerlegt, und die Hitze von Gitarre, Bass und Schlagzeug ziehen einem bis ins Rückenmark. Vor der Tour hatten U2 ein neuartiges Surround-System an Lautsprechern angekündigt; wie gut der Klang ist, können die Experten beurteilen. Vielleicht und hoffentlich aber ist es das lauteste Konzert, das bislang in der Berliner Mercedes-Benz-Arena stattgefunden hat.
Von der Unschuld zur Weisheit
Und wie richtig die Entscheidung der Band war, auch in Europa wieder Hallen statt Stadien zu bespielen. In den letzten Jahrzehnten traten U2 oft nicht mehr vor 15.000, sondern 50.000 Leuten auf, und sie verschwanden unter einem 30 Meter hohen Krakengerüst („No Line On The Horizon“, 2009) oder einem Pseudo-McDonalds-Torbogen („PopMart“, 1997). Die Bühne ihrer jetzigen „Innocence + Experience“-Tour ist zweigeteilt und mit zwei Laufstegen verbunden, einer kann in die Höhe gefahren werden. Nichts Gigantomanisches. Das Show-Konzept sieht vor, dass U2 sich vom Zustand der „Unschuld“ (Hauptbühne) hin zur „Erfahrung“ (kleine Rundbühne) bewegen. So werden auch die Lieder verteilt. Zu Anfang die fragenden und zweifelnden Stücke aus dem aktuellen Album „Songs Of Innocence“, über die Pubertät zwischen Clash-Poster plus Akustikgitarre (Kinderzimmer) und Autobomben (draußen auf der Straße). Dazu den wahrscheinlich besten Livesong aller Zeiten, „Until The End Of The World“ aus „Achtung Baby“, bei dem Bono und Edge sich mit Stimme und Gitarre, mit Lautstärke, bekriegen, in den Rollen als Jesus und Judas.
Am Ende dann die weisen Nummern (und Riesenhits). Ach, Konzept hin oder her, „With Or Without You“ und „Where The Streets Have No Name“ wären eh immer am Schluss gekommen, denn natürlich verpflichten auch U2 sich dem ungeschriebenen Setlist-Gesetz: Die Trümpfe kommen zuletzt.
Bonos Gang durch die Comic-Landschaft
Das Niveau der ersten 20 Minuten halten sie leider nicht ganz. Beim fünften Song, „Iris (Hold Me Close)“ geht Bono bereits tief in die Knie und senkt den Kopf, das ist seine traditionelle Ankündigung, dass nun reflektiert wird. Der Auftritt lässt aber erst dann nach, als die visuellen Hilfsmittel immer prominenter eingesetzt werden. Sobald auf Leinwänden Filme zum Einsatz kommen, oder wenn die Band gar hinter den Projektionen verschwindet, verliert sich die Bindung. Bei „Cedarwood Road“ läuft Bono vor der Leinwand die Straße seiner Kindheit ab, er geht in der Comiclandschaft unter, und es kommt zu einer kuriosen Darstellung: Da der Film von links nach rechts läuft, der Song fünf Minuten dauert, der Laufsteg aber nicht unendlich lang ist, muss auch er immer wieder neu von links nach rechts laufen – sobald eine der drei Strophen vorbei ist, wird der Steg abgedunkelt, und Bono muss schnell dreimal zurück auf Start.
Selten aber hat ein U2-Set auch so bewusst ein Gefühl der Bedrückung in Kauf genommen wie die „Innocence“-Hälfte. Falls man sich darauf einlässt die Band aus dem Blick zu verlieren, bleiben die Einspielungen von verwaisten Landschaften, zerbombten Häusern und Opfern von Terroranschlägen nicht ohne Wirkung. Die Geschichte des 1998 offiziell beendeten Nordirlandkonflikts gehört hierzulande ja eher nicht zum politischen Pflichtwissen.
Bezeichnend ist der Einsatz von „Bullet The Blue Sky“: 1987 veröffentlicht, drehte sich der Song ursprünglich um den Krieg in El Salvador, Anfang der Neunziger adressierte ihn Bono an die deutschen Neonazis. Bei dieser Tour-Darbietung steht seine Heimatstadt Dublin im Mittelpunkt, und während des improvisierten Mittelteils bellt er sich in einer Art Zwiegespräch selbst an: Was ihm kleinen Jungen aus der Unterschicht denn einfiele, an eine viel versprechende Zukunft zu glauben. Vor dem Nordirlandkonflikt kann man nicht flüchten.
Time Is A Train … Makes The Future The Past
Die Konzerte dieser Megastars sind ja weniger durchgeplant, als die meisten Kritiker denken. Für Berlin, wo 1990 Teile von „Achtung Baby“ eingespielt wurden, haben U2 immer Überraschungen parat. In der Regel führen sie in der Hauptstadt hier auch komponierte Lieder auf, bei den vergangenen drei Tourneen war das „Stay (Far Away, So Close!)“. Am heutigen Abend feiert das Tiergarten-Epos „Zoo Station“ seine Tourpremiere, es ist nicht nur ein tolles, wie ein gigantisches Erdbeben klingendes Lied über den Bahnhof Zoo, sondern auch über die Notwendigkeit den Anschluss an Entwicklungen nicht zu verpassen. Lustigerweise verpasst Bono selbst ausgerechnet fast die „Time is a train, makes the future the past“-Zeile, er war zuvor wieder in die Knie gegangen, Edge springt ein.
Und so ist es gleich danach auch der Mensch, der versagt, und nicht die Technik: „Elevation“ lässt Bono von einem Fan auf der Bühne mitfilmen, zuvor erklärt er der jungen Frau nicht ohne Stolz, dass der Clip auf allen Social-Media-Kanälen in die ganze Welt gesendet werden wird. Prompt vergeigen Bono und Edge daraufhin ihr Zusammenspiel („Go Back To The Verse“ sagt der Sänger zweimal zu seinem Gitarristen), und zwei Minuten lang spielen sie Kraut und Rüben. Der Fan hält die Kamera schonungslos auf Bonos Gesicht, das immer zerknirschter aussieht. Bei der Textstelle „Maybe You Can Educate My Mind“ muss sich Edge von Bono dann einen väterlichen Klaps auf die Schulter gefallen lassen. Ab Song 21, „Pride (In The Name Of Love“), lässt seine Gesangstimme dann zunehmend nach, der abschließende Song 26, „One“ wird fast komplett das Publikum singen.
Die Ansprachen bleiben ein wichtiger Teil des Konzerts, bis zum Ende. Bono hat dafür genug Luft in den Lungen. Nicht wenige Menschen lehnen ihn ab, weil er auch als Polit-Aktivist in Erscheinung tritt und bei Konzerten für seine eigene „Red“-Organisation wirbt, die sich dem Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose verschrieben hat. Bonos heutige Ansagen sind dabei von geradezu sympathischer Fahrigkeit. „Wir sind im Herzen Europas“, sagt er zu Beginn, schiebt ein „Berlin ick habe Dir vermisst“ hinterher – redet eigentlich noch jemand so? – und am Ende lobt er die deutsche Politik und spricht von den Zügen voller Flüchtlingen, die er in München gesehen habe. „I Know It’s Complex“, sagt Bono zögerlich. Wahrscheinlich die beste Zusammenfassung der Situation.
Am Wochenende geht’s nach New York
„It’s good to be back“, dann am Ende. Klar, es ist irgendwie auch Bonos Stadt. Bis Dienstag geben U2 hier vier Konzerte. Was der Sänger wohl nach dem Konzert am Ostbahnhof macht. Vielleicht nach nebenan aufs RAW-Gelände, da feiern doch mittlerweile alle.
Nein, Bono hat was anderes vor. Am Mittwoch, einen Tag vor dem Auftritt, traf er bereits unseren Bundes-Entwicklungsminister Gerd Müller, man diskutierte über Flüchtlinge. Und die zwei freien Berlin-Tage Samstag und Sonntag verbringt der U2-Frontmann … in New York, beim UN-Gipfel. Mal sehen, was er nächste Woche dem Berliner Publikum davon berichten wird.
Hier sehen: Das Video zur aktuellen Single „Song For Someone“ mit Woody Harrelson: