ROLLING-STONE-PORTRÄT

U.S. Girls: „Es ist keine Befreiung, wenn man seine Titten zeigt“

Ihre feministischen Botschaft ist radikal, ihr Projekt U.S. Girls mit einer Grenzen sprengenden Mischung aus Pop und Avantgarde in aller Munde. Dabei fühlt Meghan Remy sich Spring­steen näher als Miley Cyrus

Der Club, in dem Meghan Remy heute Abend auftritt, ist so klein, dass er nicht mal über einen Backstagebereich verfügt. Kurz vor Konzertbeginn muss sich die Musikerin zusammen mit ihrer Backgroundsängerin durch den prall gefüllten Raum zur Bühne durchkämpfen. Seitdem Remy im Frühjahr 2014 beim Label 4AD unterschrieb, ist ihr Soloprojekt mit dem irreführenden, auf eine Band hindeutenden Namen U.S. Girls für solche Venues zu groß geworden.

https://www.youtube.com/watch?v=hfnEMhBo_mE

Das dicht gedrängte, zum großen Teil aus jungen Frauen bestehende Publikum starrt gebannt auf die Sängerin, die mit ihren stahlblauen Augen, dem schwarzen Bubikopf, den gezirkelten Brauen, dem lila Lidschatten und den riesigen Ohrringen wie eine Goth-Version der jungen Annie Lennox aussieht.

Phil-Spector-Pop und Horrorsoundtrack

Mit nichts weiter als zwei Bandmaschinen und einigen Effektpedalen spielt Remy ihnen die Songs ihres jüngsten Albums, „Half Free“, vor, auf dem sie Klangfragmente alter Schallplatten, vornehmlich Soul und Rock aus den 60er- und 70er Jahren, zu einer unwahrscheinlichen Mischung aus Phil-Spector-Pop und Horrorsoundtrack neu zusammensetzt.

Selbst im Treppenhaus, auf dem kleinen Gang vor der Kasse, stehen Menschen auf Zehenspitzen, um noch einen Blick auf die faszinierende Sängerin zu erhaschen, die mit ihrer voluminösen Stimme den schuhkartonartigen Raum und seinen matschigen Sound in weite Ferne rücken lässt.

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Nach dem Berliner Konzert verkauft die ganz in Schwarz gekleidete Künstlerin in einer Ecke neben dem Eingangsbereich ihr Merchandise. Vor ihr liegen alle sechs Alben, die sie unter dem Namen U.S. Girls seit 2007 veröffentlicht hat, darunter auch die Vinylversion von „Half Free“, auf deren Cover sie die Haare noch lang und blond trägt.

Der gräulich verblichene Farbfilter und die gemusterte Tapete im Hintergrund lassen an eine Hausfrau aus den 50er-Jahren denken, ihr Blick ist verblüfft bis entrückt, die Augen glänzen. Es scheint, als hätte sie gerade etwas erfahren, das ihre Welt auf den Kopf stellt, das Doppelleben ihres Ehemannes vielleicht. Oder einen Blitz der Selbsterkenntnis.

In der Tradition von Bruce Springsteen

„Das Bild ist eine Hommage an ‚Darkness On The Edge Of Town‘, meine Lieblingsplatte von Bruce Springsteen“, erklärt die Amerikanerin, die seit einigen Jahren mit ihrem Ehemann, dem kanadischen Produzenten Slim Twig, in Toronto lebt. Gleichzeitig sei das Cover ein erster Hinweis auf das Konzept des knapp 40‑minütigen Albums.

Ganz in der Tradition von Bruce Springsteen möchte Remy auf „Half Free“ Geschichten von einfachen Menschen und ihren täglichen Tragödien erzählen, aber – und das ist neben der musi­kalischen Entfernung zu Spring­steens erdigem Rock der große Unterschied – aus rein weiblicher Perspektive.

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„Ich erzähle von Dingen, mit denen Frauen jeden Tag zu kämpfen haben. Vieles davon sind fast Klischees: der untreue Ehemann, Abhängigkeit in der Beziehung, ungewollte Schwangerschaft, solche Dinge.“ In jedem der acht Lieder porträtiert Remy ein anderes weibliches Schicksal, das sie meistens aus der Ichperspektive erzählt. „Ich stelle mir vor, dass jeder Song genug Stoff birgt, um wie ein Film zu funktionieren“, sagt sie.

„Mir bleiben von dir nicht einmal Knochen zurück, an denen ich mich festhalten kann“

Es sind mitreißende, unheimliche Filme in der Tradition von David Lynch, in denen das Grauen hinter einer bürgerlichen Fassade lauert. In der ersten Single, „Damn The Valley“, erfährt eine Frau am Telefon, dass ihr Mann in einem umkämpften Tal in einem fremden Land gefallen ist. Zu tanzbarem Industrial-Pop singt Remy ihre verzweifelte Anklage: Mir bleiben von dir nicht einmal Knochen zurück, an denen ich mich festhalten kann. Und: Ich habe dich nicht geheiratet, um allein zu sein.

https://www.youtube.com/watch?v=BbeQ3Mmye9E

„Die Idee kam mir, als ich das Buch ‚War‘ des Kriegsberichterstatters Sebastian Junger las, ein unparteiischer Bericht über alltägliche Dinge im Leben eines Soldaten: Hygiene, Kameradschaft, das Wetter, der Tod.“ Remy hat selbst einen Bruder, der als Soldat im Irak stationiert war und seit seiner Rückkehr kein Wort darüber verliert. Auch aus diesem Grund interessierte sie die andere Seite: „die Menschen, die zurückbleiben“. „Allein das Wort ‚Kriegerwitwe‘ triggert so viele Bilder und Geschichten in mir“, sagt sie.

„Alles, was ich mache, ist Pop“

Bereits mit 15 Jahren wurde Remy in ihrer Heimatstadt Joliet im Bundesstaat Illinois Teil einer avantgardistischen Noisepunk-Szene. Sie hantierte mit Drumcomputern und Tonbandgeräten, verehrte Bands wie CrAss und Bikini Kill. Mit Anfang 20 entdeckte sie dann die queeren Riot-Grrrls von Le Tigre und war begeistert, wie die Band um JD Samson Genderthemen und andere politische Inhalte in eingängigen Elektropunk verpackte. „Alles, was ich mache, ist Pop“, sagt die ehemalige Kunststudentin heute.

Die sample­basierte Musik von U.S. Girls wirkt, anders als bei anderen angesagten DIY-Produzentinnen (und 4AD-Labelkolleginnen) wie Holly Herndon oder Grimes, nie kalt und futuristisch, sondern verbreitet eine warme Vintage-Atmosphäre, die nicht zuletzt durch Remys stimmliche Nähe zu Ronnie Spectors Sängerinnen Assoziationen mit Girlgroups der 60er-Jahre weckt. „Ich will keine Sachen machen, die nicht verstanden werden“, sagt die Künstlerin, die in einem „konservativen Sportlerhaushalt“ aufwuchs, in dem Musik ausschließlich übers Radio konsumiert wurde. „Über die leichte Zugänglichkeit soll der Hörer eine doppelte Dosis Inhalte verabreicht bekommen.“

Nur eine weitere Frau ohne Selbstvertrauen

Das Destillat ihrer feministischen Botschaft legt Meghan Remy im 40-sekündigen Einspieler „Telephone Play No. 1“ offen, einem Mini-Theaterstück, das sie bewusst ohne Musik inszeniert hat. Darin erzählt sie ihrer Schwägerin Lulu in einem Telefonat von einem verstörenden Traum, den sie in der Nacht zuvor hatte: „Was ist diesmal passiert?“, fragt Lulu. Meghan antwortet: „Mein Vater hat mir eine Datei mit Nacktbildern von mir als Kind zugeschickt.“

Lulu: (lacht) „Klingt realistisch.“ – „Ich weiß. Das Problem ist nur, dass ich irgendwie heiß aussah. Ich meine, ich weiß nicht. Ich sah gut aus, das war irgendwie verwirrend.“ –„Oh mein Gott … Väter und ihre Töchter …“

Der freudianisch verkorkste Dialog endet mit der Feststellung, dass Söhne besitzergreifender Väter immer noch faschistische Diktatoren werden können – während aus einer Tochter wie Remy doch nur „eine weitere Frau ohne Selbstvertrauen“ werden konnte. Man kann das schockierend unbeteiligte, fast heitere Gespräch als Herzstück des konzeptionellen „Half Free“ begreifen, als eine Art überspitzter Ursachenforschung, die die Lösung des Problems auch bei den Frauen selbst sucht.

„Die Gesellschaft hat lange darauf hingearbeitet, Frauen das Selbstbewusstsein abzutrainieren“

„Die Gesellschaft hat lange darauf hingearbeitet, Frauen das Selbstbewusstsein abzutrainieren“, erklärt Remy. „Irgendwann wurden sie dann zu Sklaven ihrer selbst und verbrachten viel zu viel Zeit damit, über ihr Image, ihre Wirkung und ihr Aussehen nachzudenken.“ Sie wirft den Kopf zurück, sodass ihre großen Creolen klappern. „Ich liebe es auch, mich schön zu machen, und mag Make-up. Aber in der Regel verwenden Frauen zu viel Zeit darauf – Zeit, die sie besser nutzen könnten.“

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Feminismus und Kritik am Kapitalismus

Dem übersexualisierten, herausposaunten weiblichen Selbstbewusstsein einer Miley Cyrus kann sie ebenfalls nichts abgewinnen. „Es ist gerade ein Trend, sich öffentlich als Feministin zu bezeichnen, den weiblichen Körper zu feiern, Sachen zu sagen wie ‚Es sollte auch übergewichtige Models geben‘ und so weiter. Dabei sollte es überhaupt keine Models geben, verstehst du? Ich glaube, dass zu einem echten Feminismus auch gehört, dass man den Kapitalismus kritisiert. Die MTV Awards zu moderieren oder sich für Werbe­verträge herzugeben läuft feministischen Idealen meiner Ansicht nach völlig zuwider. Es hat nichts mit Befreiung zu tun, wenn man sich verkauft oder seine Titten herzeigt.“

Ihre Augen blitzen. Die Widersprüche des neuen Pop-Feminismus bringen sie in Rage, dabei ist sie selbst nicht frei von ihnen. Obwohl die Musik von U.S. Girls „leicht konsumierbar“ sein und sich weit verbreiten soll, möchte Remy auf keinen Fall, dass die Sache zu groß wird. In der Liga von Bruce Spring­steen zu spielen will sie sich nicht mal im Traum vorstellen: „Der logistische Aufwand, das Geld, die Trucks – nein danke! Dafür bin ich zu sensibel“, schnaubt sie.

(Photo: Colin Medley)
(Photo: Colin Medley)

„Es ist keine Befreiung, wenn man seine Titten zeigt“

Mit leichtem Gepäck reisen, in kleinen Clubs spielen, mit den Fans an der Bar sitzen, genug Geld zum Leben haben und eines nicht allzu fernen Tages Kinder bekommen: Das ist momentan alles, was sie sich erträumt. „Auch wenn die Bedingungen manchmal hart sind, kann ich Dinge machen, die mir etwas bedeuten. Ich fühle mich privilegiert. Ich werde jeden Tag in einer anderen Stadt willkommen geheißen, es gibt jemanden, der mir zu essen besorgt, mir beim Soundcheck hilft und Gratis­getränke ausgibt“, sagt sie.

Dann deutet sie auf ihre Begleiterin, die sich auf ein Nickerchen auf eine dünne Holzbank gelegt hat, und fügt einen Satz hinzu, für den andere Feministinnen sich vermutlich die Zunge abbeißen würden. „Wir fühlen uns wie Prinzessinnen, verstehst du?“

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